Über especifistischen Anarchismus


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Especifismus

Organisation und soziale Eingliederung

Der von der anarchistischen Föderation von Rio de Janeiro (Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ)) vertretene especifistische Anarchismus, oder einfach "Especifismo", ist ein Konzept der anarchistischen Organisation. Der aus Uruguay stammende Begriff "Especifismo" bezieht sich auf die grundlegenden Leitideen, die die anarchistische Aktionsweise kennzeichnen: die Organisation und die soziale Eingliederung. Diese beruhen auf den klassischen Konzepten des Anarchismus, nämlich der differenzierten Vorgehensweise auf politischer und sozialer Ebene (Konzept von Bakunin) und der spezifischen anarchistischen Organisation (Konzept von Malatesta). Die Ersten, die diesen Begriff verwendeten, waren die Genoss:innen der Uruguayische Anarchistische Föderation ([Federación Anarquista Uruguaya (FAU)](Federación Anarquista Uruguaya (FAU))), wenngleich sie sich auf eine Organisationsform bezogen, die sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann und die im 20. Jahrhundert perfektioniert wurde. In ihrer Grundsatzerklärung setzt die FAU das Konzept des Especifismo mit dem des organisierten Anarchismus in Beziehung:

"Unsere Kritik und unser Projekt beschränken sich nicht auf Aufstand, Protest und Rebellion, sondern reifen in einem unverkennbar sozialistischen Modell der libertären Gesellschaft, in einer Strategie des revolutionären Umbruchs und in einem militanten kämpferischen Stil der permanenten Agitation in Richtung großer gesellschaftlicher Transformationen. Dieses Projekt wird durch die spezifische revolutionäre Organisation kanalisiert und ist daher organisierter Kampf".

(FAU; Grundsatzerklärung)

Organisation und soziale Eingliederung werden nicht von allen anarchistischen Strömungen befürwortet. Wir wissen, dass der Anarchismus sehr vielfältig ist und daher verschiedene, zum Teil widersprüchliche Konzepte umfasst.

Der Especifismo verteidigt eine klare Position in der historischen Polemik über die Frage der Organisation und der anarchistischen Praxis, weshalb seine erste Leitidee die Organisation ist. Erstens wird argumentiert, dass Anarchist:innen sich spezifisch als Anarchist:innen organisieren müssen, um mit sozialen Bewegungen zu arbeiten. In diesem Organisationsmodell gilt der Gedanke, dass Anarchist:innen, um effizient im Klassenkampf agieren zu können, auf politischer Ebene als geschlossene Gruppe organisiert sein müssen, mit fortgeschrittener politischer und ideologischer Diskussion, mit einer gut definierten Strategie, damit sie genügend Kraft haben, um im Bereich der Kämpfe der sozialen Bewegungen zu agieren.

Die especifistische anarchistische Organisation, die im politischen Bereich arbeitet, agiert im Klassenkampf, in den sozialen und volksnahen Bewegungen, die den sozialen Bereich ausmachen. In dieser Arbeit nehmen Anarchist:innen, die als aktive Minderheit organisiert sind, so weit wie möglich Einfluss auf sie und sorgen dafür, dass sie auf möglichst libertäre Weise funktionieren können. Organisiert als eine spezifische, zusammenhaltende Gruppierung, werden Anarchist:innen eine viel größere soziale Kraft darstellen und in der Lage sein, als ein solides Element des Einflusses und der Überzeugung zu funktionieren, das weniger Chancen hat, von einer linken Partei, von Autoritären jeglicher Couleur, von der Kirche, von anderen Individuen und Gruppen, die immer versuchen, die soziale Bewegung zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, "überfahren" zu werden.

Die zweite Leitidee des especifistischen Anarchismus ist die soziale Eingliederung. Die Idee der sozialen Eingliederung steht im Zusammenhang mit der Suche nach dem sozialen Vektor, den der Anarchismus verloren hat, als er sich vom Klassenkampf und den sozialen Bewegungen entfernte. Mit der Abkehr der Anarchist:innen von der Gewerkschaftsbewegung in Brasilien zwischen 1920 und 1930 ging dieser soziale Vektor des Anarchismus verloren, der sich schließlich in Kulturzentren, Athenäen, Schulen usw. organisierte. Die soziale Eingliederung verstärkt die Idee, dass Anarchist:innen neben diesen Aspekten der Stärkung der Erinnerung und der Förderung der libertären Kultur versuchen sollten, eine relevante Rolle im Kampf der sozialen und volksnahen Bewegungen zu spielen. Viele stehen dem Begriff "soziale Eingliederung" etwas misstrauisch gegenüber, weil sie ihn mit dem alten "Einschleusen" der autoritären Linken in Bewegungen in Verbindung bringen, mit dem Ziel, sie zu manipulieren oder sie zu ihrem eigenen Vorteil zu benutzen. In Wirklichkeit entspricht dies nicht der Wahrheit. Dieses Konzept der sozialen Eingliederung ist nur mit der Idee der organisierten Rückkehr der Anarchist:innen zum Klassenkampf und zu den sozialen Bewegungen verbunden. Nicht im Sinne einer Avantgarde, die für die Bewegung kämpft, sondern zur Verteidigung der aktiven Minderheit, die mit der Bewegung kämpft.

Es gibt noch einige andere Ideen, die mit den oben vorgestellten Konzepten einhergehen. Zum Beispiel die Kritik an der mangelnden Organisierung der meisten Anarchist:innen, weshalb diese Form des organisierten Anarchismus vorgeschlagen wird, der sich an der oben erläuterten spezifischen Organisationskonzeption orientiert. Es gibt auch eine klare Ablehnung des individualistischen Anarchismus und der Überhöhung des Egos, indem eine Form von kommunistischem oder kollektivistischem Anarchismus vorgeschlagen wird, der die kollektive Freiheit zu seinem zentralen Punkt macht und ohne sie die individuelle Freiheit für unmöglich erachtet wird. Diese Form der Organisation lehnt das Synthesemodell ab, da sie der Meinung ist, dass es nicht funktioniert, denn eine Reihe von Individuen und Organisationen unter das "Dach" des Anarchismus zu stellen und einfach eine Identität um die Kritik herum zu verstärken - denn im Allgemeinen gibt es nur eine Übereinstimmung in der Kritik am Staat, am Kapitalismus, an der repräsentativen Demokratie - oder sogar an der zukünftigen Gesellschaft; Das liegt daran, dass es keine Einheit in organisatorischer Hinsicht oder in konstruktiven Fragen gibt. Mit anderen Worten: Es gibt keine klare Position zur richtigen Organisationsform, zum " Wie handeln". Viele Anarchist:innen halten Organisation nicht für notwendig, andere finden sie sogar autoritär. Im especifistischen Organisationsmodell wird die Idee der taktischen und theoretischen Einheit verteidigt, was die Arbeit mit klar definierten strategischen Projekten und die Arbeit aller in dieselbe Richtung erleichtert. In dieser Organisationsform spielt auch die Frage der Verantwortung und des Engagements eine herausragende Rolle, auf die wir weiter unten noch näher eingehen werden.

Ethik und Verantwortung

Mit dem Begriff der Organisation und der sozialen Eingliederung gehen zwei Grundsätze Hand in Hand: Ethik und Verantwortung.

Die Ethik wird immer als Synonym des Anarchismus verstanden und bildet sein "Rückgrat". Sie sollte nicht als ein System theoretischer Ideen und Werte verstanden werden, das nicht anwendbar ist, sondern als ein anwendbares Werteprinzip, das die kollektiven und universellen Interessen berücksichtigt und die Verhaltensgrundsätze definiert. Die anarchistische Ethik besteht gerade in der Notwendigkeit der Kohärenz zwischen unserem Verhalten und den Prinzipien, die wir verteidigen, im Falle der FARJ (Federación Anarquista de Rio de Janeiro/ Anarchistische Föderation Rio de Janeiros) zum Beispiel Freiheit, Föderalismus, Selbstverwaltung, Internationalismus, direkte Aktion, politische Praxis, soziale Eingliederung und gegenseitige Unterstützung.

Ethik unterscheidet sich grundlegend von Moral. Moral ist etwas, das von außen aufgesetzt wird, ein Inhalt, der nicht ausgearbeitet ist und durch Zwang akzeptiert wird oder dem man sich einfach unterwirft. Im Gegensatz dazu ist Ethik etwas, das von innen heraus kommt, d.h. etwas, das verarbeitet, ohne Zwang durchdacht wird und das dann das Verhalten leitet. Moral kann als ein Sieg über das Individuum gesehen werden, während Ethik das "Gewinnen mit" (oder das Überzeugen) ist, wobei ethisch geleitetes Verhalten das Ergebnis der Ausarbeitung und Verarbeitung von Konzepten ist.

In der gesamten Geschichte des Anarchismus war die Ethik eng mit der Kohärenz zwischen Mitteln und Zielen verbunden. Deshalb wird eine Handlungsform verteidigt, die dem zu erreichenden Ziel angemessen ist, die sogenannte Kohärenz zwischen Mitteln und Zielen. Wenn das Ziel des Kampfes die Freiheit ist, muss er in Freiheit geführt werden. Dies wird auf unterschiedliche Weise erklärt, von der Ablehnung eines autoritären Mittels wie des Staates, um die Freiheit zu erreichen - das marxistische Konzept des Sozialismus - bis hin zur Verteidigung des ehrlichen, aufrechten und politisch ehrlichen Handelns, ganz im Gegensatz zu den militanten Geschichten von Netchaiev zum Beispiel, der glaubte, dass sich alles lohne, sogar Lügen, Betrug, Erpressung, Verrat an den Genoss:innen usw., um die Revolution zu erreichen.

In der Geschichte des Anarchismus in Rio de Janeiro stand die Ethik in engem Zusammenhang mit dem gegenseitigen Respekt, verstanden als ein Prinzip, das die Notwendigkeit verlangt, die Genoss:innen im Kampf zu respektieren und das politische Umfeld zu einem Ort der Solidarität zu machen, sowohl mit den alten Aktivist:innen und Genoss:innen als auch mit den Neulingen. Es empfiehlt sich somit, die Pluralität der Ideen zu respektieren, das Recht zu demonstrieren und sich zu äußern, den Menschen stets mit dem gebührenden Respekt zu begegnen und unsoziales, ausgrenzendes und spaltendes Verhalten abzulehnen.

Darüber hinaus kann Ethik mit Verantwortung in Verbindung gebracht werden, wie es Ideal Peres tat, als er erklärte, dass "ein Subjekt, das eine libertäre Ethik hat, weiß, wofür es kämpft, und schafft es, die ideologischen Motive des Kampfes zu erklären, Engagement und Selbstdisziplin zu zeigen, um die Aufgaben zu erfüllen, die es übernommen hat". Ideal Peres, der stets die Werte der Ethik und der Verantwortung bekräftigte, stellte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit heraus, dass anarchistische Aktivisten die Gründe für ihren Kampf kennen müssen, d.h. wogegen und wofür sie kämpfen, und dass sie in der Lage sein müssen, ihre Argumente ideologisch zu begründen. Engagement und Selbstdisziplin wären von grundlegender Bedeutung, um diese libertäre Ethik in die Praxis umzusetzen, und Anarchist:innen, die eine im libertären Universum sehr verbreitete Position des mangelnden Engagements und der Verantwortungslosigkeit vertreten, wären daher unethisch.

Da viele Anarchist:innen Verantwortung als Gegensatz zur Freiheit verstehen, ist es für sie unmöglich, irgendeine ernsthafte Aktivität mit minimalen Zielen zu verbinden. Anarchist:innen, die die Idee der Verantwortung verteidigen, sind der Meinung, dass es ohne sie unmöglich ist, ein mittel- oder langfristiges Projekt zu verwirklichen, ein kurzfristiges Projekt umzusetzen oder eine Aktionsform festzulegen und durchzuführen. Auf der Grundlage dieser Einteilung wird davon ausgegangen, dass jede Tätigkeit in einer Organisation eine vorherige Diskussion und eine strategische Planung voraussetzt, die in eine taktische Planung mit den verschiedenen Aktionen der Organisation mündet. Dazu müssen die Verantwortlichkeiten aufgeteilt werden und jeder muss das tun, was er Verantwortung übernommen hat. Wie FARJ kürzlich schrieb, ist "Selbstdisziplin der Motor einer selbstverwalteten Organisation" (FARJ. Reflexões sobre a Responsabilidade, o Comprometimento e a Autodisciplina), und es muss ohne unterwürfige Disziplin funktionieren, aber mit Kohärenz mit den akzeptierten Ideen, mit der Erfüllung der angenommenen Aufgaben und mit der ernsten Verpflichtung zur Arbeit von Militanz und Kampf.

_Autor: Felipe Corrêa, 2014 auf anarkismo.net

_Quelle: https://es.theanarchistlibrary.org/library/felipe-correa-anarquismo-especifista

_Übersetzung: Sadi

_Korrektur: Anarchismus.de-Community

Sadi

Der Sadi. Arbeitet in der Kinderbetreuung.
Wundert sich über das Verhalten erwachsener Menschen.
Versteht sich als antiautoritär. Mal Optimist, mal Realist, selten Pessimist.
Mag keine Dogmen, hört auf sein Gewissen.
Und stellt sich gern in kurzen Sätzen in der dritten Person vor.

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