Vergesst mich nicht! - Bakunin und der Anarchismus


Simon
Anarchismus Theorie

Was ist Anarchismus? - Ein Kommentar

Im ersten Blogeintrag »Was ist Anarchismus?« definierte David den Anarchismus in Abgrenzung zu den anderen, nach Eltzbach’scher Definition, Anarchismen, z.B. den Primitivismus, Individual»anarchismus«, etc. Dabei wird der Definition von Van der Walt und Schmidt gefolgt, welche den Anarchismus als den anti-autoritären Flügel der ersten Internationale definiert, was sie die »broad anarchist tradition« nennen.

Dabei lässt sich der Anarchismus auch auf andere Weise positiv bestimmen. Dazu müssen wir zurück auf die erste Internationale blicken, genauer: auf den Prozess der Spaltung. Bekanntlich erfolgte der Bruch an den Persönlichkeiten von Marx und Bakunin.

Marx vertrat den deutschen Sozialismus und die Sozialdemokratie, Bakunin die Anarchisten, darunter James Guillaume, Élisée Reclus, Carlo Cafiero und große Teile der spanischen, italienischen und französischen Sektionen der Internationale.

In Folge dessen entwickelte sich in Frankreich und in Spanien ein erst proudhonistisch, später bakuninistisch geprägter Gewerkschaftsanarchismus, der historische Anarchosyndikalismus. In Südamerika war der Sozialismus zunächst vollständig (anarcho-)syndikalistisch und geprägt von Bakunin. In Italien wurde der kollektivistische Anarchismus zum kommunistischen Anarchismus weiterentwickelt.

Aber wie kann sich so eine große Bewegung ohne klare theoretische und praktische Differenzierung vom autoritären Flügel der Internationale mehr oder weniger unabhängig von diesem über drei Jahrzehnte hinweg entwickeln? Die Antwort ist einfach: gar nicht.

Die Geschichte des eigentlichen anti-autoritären Flügels und damit des Anarchismus beginnt mit dem Leben und Wirken von Bakunin. Michail Bakunin wurde am 30. Mai 1814 als russischer Adelsspross geboren und starb am 1.Juli 1876 in Bern. Zunächst Offizier, dann Hegelianer, dann Junghegelianer, dann Sozialist entwickelte er bis zu seinem Lebensende in Verbindung mit den zahlreichen anderen Revolutionären die er persönlich kannte das, was mensch das Fundament des Anarchismus nennen könnte.

Im Gegensatz zu Marx tat er das nicht vom Schreibtisch aus, sondern von der Barrikade. Daher sind heute Fragmente, primär aber Reden und Briefe, von ihm erhalten. Seine Werke folgen demnach seiner philosophischen Entwicklung und es gibt merkliche Unterschiede zwischen dem Denken eines jungen Bakunin und dem des Revolutionärs, der eine Fraktion der gespaltenen Internationalen repräsentiert. Sein anarchistisches Denken brachte er in seinem Spätwerk, nach seinem Rückzug aus der anarchistischen Bewegung zu Papier.

In diesen fragmentarischen Nachlass finden sich die Fundamente unserer Bewegung.

Philosophische und theoretische Betätigung Bakunins

Bakunin beendete mit dem Beginn seiner revolutionären Karriere seine philosophische Karriere und verlagerte seine literarischen Tätigkeiten auf die Agitation, primär auf das Schreiben von Reden. Erst nachdem er sich aus gesundheitlichen Gründen aus der aktiven Teilnahme an revolutionären Aktionen zurückziehen musste, begann er sein Denken niederzuschreiben. Viele von diesen Texten sind uns heute nur noch schwer zugänglich und einige sind eigentlich nichts weiter als unvollendete Fragmente oder angefangene Reden.

Bakunin vertritt einen erkenntnistheoretischen Materialismus, praktiziert aber in seinen Schriften eher eine Religions- und Ideologiekritik statt die materialistische Analyse. So driftet sein Schreiben oft in Tiraden gegen Kirche und Staat ab, wobei die Religion öfters Ziel seiner Ausführungen wird. Der bekundete Materialismus wird am ehesten von Peter Kropotkin, Pierre Ramus und den späteren Syndikalisten wieder in der Theoriebildung eingeführt.

In Gott und der Staat, sowie in den Philosophischen Betrachtungen über das Gottesphantom, über die wirkliche Welt und über die Menschen formuliert Bakunin eine Autoritäts- und Religionskritik, sowie seine Sicht auf den Menschen, Wissenschaft und die Natur. Diese greift Malatesta auf.

Eine erste Formulierung (proto-)anarchistischer Prinzipien wurde in den Prinzipien und Organisation einer Internationalen Revolutionär-Sozialistischen Geheimgesellschaft verfasst.

Der Freiheitsbegriff im Revolutionären Katechismus

Bakunin vertrat ein Revolutionskonzept basierend auf Geheimgesellschaften, welche soziale Bewegungen als Vordenker und -bilder zum angestrebten Ziel, dem freiheitlichen Sozialismus, zu führen. Diese Geheimgesellschaften sollten strikt disziplinarisch geführt und mit einer Hierarchie von Eingeweihten und Aktiven, ironischerweise ähnlich eines Organizingkonzeptes, aufgebaut sein.

1866 wurde dazu das Dokument Prinzipien und Organisation einer Internationalen Revolutionär-Sozialistischen Geheimgesellschaft verfasst. Als Ziel wird »der Sieg des Prinzips der Revolution auf der Erde, folglich die radikale Auflösung aller gegenwärtig bestehenden religiösen, politisch, ökonomischen Einrichtungen und die Neubildung zunächst der europäischen, dann der universellen Gesellschaft auf den Grundlagen der Freiheit, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Arbeit«¹ formuliert.

In Abschnitt Zwei, Revolutionärer Katechismus genannt, wird in Absatz drei bis fünf erstmalig Freiheit als grundlegendes Prinzip und Ziel der anarchistischen Bewegung positiv definiert.

  1. Die Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen, als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen zu ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst ihnen selbst gegenüber, dann gegenüber der Gesellschaft der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zustimmung dazu geben ihr anzugehören.

  2. Es ist nicht wahr, dass die Freiheit eines Individuums durch die Freiheit aller anderen begrenzt wird. Der Mensch ist nur in dem Grade wirklich frei, in welche seine von dem freien Gewissen aller andern frei anerkannte und von ihm wie ein Spiegel zurückstrahlende Freiheit in der Freiheit der andern Bestätigung und Ausdehnung ins Unendliche hin findet. Der Mensch ist nur unter in gleicher Weise freien Menschen, wirklich frei und da er nur in seiner Eigenschaft als Mensch frei ist, ist die Knechtschaft eines einzigen Menschen auf der Erde, als Verletzung des Prinzips der Menschheit selbst, eine Negierung der Freiheit aller.

  3. Die Freiheit eines Jeden kann also nur in der Gleichheit Aller verwirklicht werden. Die Verwirklichung der Freiheit in der rechtlichen und tatsächlichen Gleichheit ist die Gerechtigkeit.¹

Dieser Abschnitt sollte zur Gänze gelesen und darüber nachgedacht werden. In Artikel 3 wird prototypisch die physische und psychische Autonomie des Individuums deklariert. In Artikel 4 wird die Gleichheit aller als Grundvorraussetzung für die Freiheit aller hergeleitet. Dabei ist laut Artikel 5 die Gleichheit »rechtlich und tatsächlich«¹, also materiell, sozial und politisch zu verstehen. Dadurch kann dieses Freiheitsideal nur im Sozialismus verwirklicht werden.

In Artikel 7 »Absoluter Ausschluss jedes Prinzips von Autorität und Staatsraison« wird dies weiter gefestigt, denn »Die Ordnung in der Gesellschaft muß die Resultante der größtmöglichen Entwicklung aller lokalen, kollektiven und individuellen Freiheiten sein.«¹

In Artikel 8 wird die politische und ökonomische Organisation von unten nach oben konstatiert und ab Artikel 9 »politische Organisation« wird die Organisation eine kollektivistischen Gesellschaft formuliert, basierend auf Laizismus, Klassen- und Hierarchielosigkeit, sexueller Gleichberechtigung, Abschaffung der Todes- und Körperstrafen, Imperatives Mandat, auf Basis der autonomen Kommune in einer landesweiten Föderation von unten nach oben.

Bezeichnend sind bereits hier die Fokussierung auf die Selbstverwaltung durch ein Rätesystem und den Föderalismus, der für den Anarchismus bezeichnend ist. Für die größte Verwaltungseinheit eines Landes wird immer noch der Begriff Staat verwendet, was Bakunin in seinem Spätwerk und auch im Programm der Allianz der sozialistischen Demokratie 1868 nicht mehr wiederholt.

1866 war also schon das meiste, wofür wir kämpfen, ausformuliert und als unumstößliche Grundprinzipien verankert. Ich für meinen Teil denke, dass die »broad anarchist tradition« genau diese Prinzipien verfolgt und mit der Definition des zentralen, wenn nicht dem einzigen Dogmas des Anarchismus, des Freiheitsbegriffs, der Anarchismus positiv bestimmt ist.

Kritisches Erbe und Kritik des Erbes

Seine letzte Schrift »Staatlichkeit und Anarchie« ist der Ort, an dem sich seine Verbitterung über seinen gescheiterten Versuch die Revolution zu Lebzeiten zu sehen und der Streit mit Marx und den deutschen Sozialdemokraten wiederfindet. Er setzt sich hier mit dem Marx’schen Revolutionskonzept aus dem »Kommunistischen Manifest« auseinander und entwickelt dabei seine eigene Analyse und Programm. Aber Bakunin gibt sich hier auch seinem verbitterten Antisemitsmus und Antideutschtum hin und unterstellt den deutschen und jüdischen Sozialdemokraten eine Verschwörung gegen sich.

Dabei entzog er aber nie Marx seine Wertschätzung für sein theoretisches Werk, insbesondere für »Das Kapital«, im Gegensatz zu den geschmacklosen Pausenhofbeleidigungen mit denen Marx und Engels Bakunin bezichtigten.

Es wäre wünschenswert, Texte wie »Staatlichkeit und Anarchie oder Prinzipien und Organisation einer Internationalen Revolutionär-Sozialistischen Geheimgesellschaft« neuherauszugeben. Der klassische Anarchismus gewinnt so viel an Tiefe, wenn er mit Bakunins Texten eingeleitet und um seine Nachfolger:innen ergänzt werden. Anarchosyndikalist:innen werden auf jeden Fall überrascht sein, wie viel unserer Praxis darin bereits vorweggenommen wird.

Nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem klassischen Anarchismus können wir diesen einer Aktualisierung unterziehen. Doch dazu sollten wir kritisch mit unserem Erbe umgehen und nicht direkt zu Kropotkin springen und vergessen auf wem er aufbaut.

¹ Zitiert nach: Michail Bakunin – Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Ullstein, S.28ff.

Simon

Simon begann sich 2018 in Solidarität zum kurdischen Befreiungskampf zu politisieren und sich intensiv mit dem libertären Kommunalismus und klassischen Anarchismus auseinanderzusetzen. Seit 2021 ist bei der FAU organisiert und in der neugegründeten Aschaffenburger Sektion der FAU Frankfurt aktiv.

Er lebt in Aschaffenburg und interessiert sich für anarchosyndikalistische Theorie & Praxis. Theoretische Schwerpunkte bilden der klassische Anarchismus im Anschluss an Bakunin und das Denken von Cornelius Castoriadis.

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