Die erste Organisation, die das Konzept des Especifismo entwickelt hat - damals mehr eine Praxis als eine ausgebildete Ideologie – war die Federación Anarquista Uruguaya (FAU), die 1956 von Anarchistinnen und Anarchisten gegründet wurde, welche die Idee einer spezifisch anarchistischen Organisation umsetzen wollten. Die Diktatur in Uruguay überlebt, begann die FAU Mitte der 1980er-Jahre, Kontakte mit anderen südamerikanischen anarchistischen Revolutionärinnen und Revolutionären aufzunehmen und diese zu beeinflussen. Die Arbeit der FAU förderte die Gründung der Federação Anarquista Gaúcha (FAG), der Federação Anarquista Cabocla (FACA) und der Federação Anarquista do Rio de Janeiro (FARJ) in den jeweiligen Regionen Brasiliens sowie der argentinischen Organisation Auca (Rebell).
Obwohl sich der Especifismo erst in den letzten Jahrzehnten im lateinamerikanischen Anarchismus entwickelt hat, leiten sich die Ideen, auf denen das Konzept aufbaut, von einem historischen Faden ab, der sich durch die internationale anarchistische Bewegung zieht.
Aus "Especifismo: Die anarchistische Praxis der Bildung einer Massenbewegung und der revolutionären Organisation" von Adam Weaver
Ein wichtiger Punkt in der especifistischen Praxis ist die Rolle der anarchistischen Organisation, die auf der Basis einer gemeinsamen Politik beruht, als ein Raum für die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie und die Reflexion über die Organisierungsarbeit der Gruppe. Gestützt durch kollektive Verantwortung gegenüber den Plänen und der Arbeit der Organisation wird ein Vertrauen zwischen den Mitgliedern und Gruppen aufgebaut, welches eine tiefgründige, auf hohem Niveau geführte Diskussion der Aktionen zulässt. Das erlaubt der Organisation, kollektive Analysen durchzuführen, kurzfristige und langfristige Ziele zu entwickeln und kontinuierlich ihre Arbeit aufgrund von Erfahrungen und Umständen zu reflektieren und zu redigieren.
Aufgrund dieser Praktiken und aufgrund der Basis ihrer ideologischen Prinzipien, sollten revolutionäre Organisationen versuchen, ein Programm zu entwickeln, das ihre kurz- und mittelfristigen Ziele definiert und das auf ihre langfristigen Ziele hinarbeitet.
Der letzte Punkt, der in der Praxis des Especifismo zentral ist, ist die Idee der “gesellschaftlichen Einfügung”. Sie wurzelt im Glauben, dass die Unterdrückten der revolutionärste Teil der Gesellschaft sind und dass der Samen der zukünftigen revolutionären Transformation der Gesellschaft schon in diesen Klassen und sozialen Gruppierungen liegt. Gesellschaftliche Einfügung meint anarchistische Einmischung in die alltäglichen Kämpfe der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse. Sie bedeutet nicht die Arbeit in Ein-Themen-Interessenkampagnen, in der die üblichen politischen Aktivistinnen und Aktivisten tätig sind, sondern innerhalb von Bewegungen jener Menschen, die um eine Verbesserung ihrer Situation kämpfen, und nicht immer nur aus materiellen Nöten zusammenkommen, sondern auch aus sozialen und geschichtlich verwurzelten Gründen, um gegen die Attacken des Staates und des Kapitalismus Widerstand zu leisten.
Die especifistische Konzeption sieht nicht vor, dass seine Theorie durch eine Führerschaft, eine „Massenlinie“ oder durch Intellektuelle den Massenbewegungen aufgezwungen wird. Anarchistische Aktivist:innen sollten nicht versuchen, soziale Bewegungen zu anarchistischen Proklamationen zu bewegen, sondern ihren genuin anarchistischen Charakter (Selbstorganisation, Kampf für die eigenen Interessen) bewahren.
Eine zusätzliche Rolle der anarchistischen Aktivistinnen innerhalb der sozialen Bewegungen besteht darin, so glauben die Especifistas, sich an die vielfältigen politischen Strömungen, die innerhalb der Bewegungen existieren werden, zu wenden und aktiv gegen opportunistische Elemente wie Avantgardismus und Wahlpolitik vorzugehen.
Aus "Especifismo: Die anarchistische Praxis der Bildung einer Massenbewegung und der revolutionären Organisation" von Adam Weaver
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