Der Mythos der Lohn-Preis-Spirale – oder: warum alles teurer wird


Frederik Fuss
Aktuelles Krise Wirtschaft

„Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ist real“, sagte gerade erst der Finanzminister Christian Lindner. Was er meint, ist einfach erklärt: Nun, wo die Benzin- und Ölpreise steigen, beinahe schon unbemerkt auch die Preise für Brot und allerlei andere Lebensmittel und Konsumgüter, würden wir Gefahr laufen, dass Menschen auf Grund dieser Entwicklung höhere Löhne fordern (und sie auch bekommen) – was die Preise nur weiter ansteigen lassen würde; dadurch würde die Inflation vorangetrieben und schlussendlich der Euro entwertet. Da kommen Bilder aus der Weimarer Republik vor dem inneren Auge auf, wo ein Laib Brot an einem Tag 1000 und am nächsten 10.000 Reichsmark kostete.

Es ist also durchaus ein beunruhigendes Szenario, das uns Lindner da ausmalt. Wesentlich beunruhigender als den Gürtel – in Solidarität mit der Ukraine – zumindest eine Weile etwas enger zu schnallen. Der Markt regelt das schon und irgendwann (so zumindest das unausgesprochene Versprechen der bürgerlichen Ideologie) würden die Preise wieder sinken. Doch was ist dran an dem Versprechen oder überhaupt an der Vorstellung einer Lohn-Preis-Spirale? Steigen die Preise wirklich weiter, wenn wir einfordern, unseren Lebensstandard zu halten? Sind wir dann egoistisch, sollten wir uns nicht zurücknehmen – immerhin sind wir nicht in der Ukraine, also nicht im Kriegsgebiet? Ist nicht genau jetzt die Zeit, um zusammenzustehen und diese schwere Zeit gemeinsam durchzuhalten, hindern uns nicht diese egoistischen Forderungen nach höheren Löhnen und Entlastungen genau daran?

Egal ob es der Krieg in der Ukraine ist oder irgendeine andere Krise oder Katastrophe – nahezu alles, was zu irgendeiner – und sei es nur vorübergehenden – Knappheit irgendwelcher Güter führen könnte, lässt die Preise steigen. Ist die Krise dann vorüber, haben wir es also kollektiv durchgestanden, sinken sie trotzdem nicht wieder auf das ursprüngliche Niveau. Das liegt nicht daran, dass Lohnerhöhungen die Preise der Güter in die Höhe treiben würden – einzig das Profitstreben der Konzerne ist es. Das wusste auch schon Marx. Diese kapitalistische Propaganda, die auf nichts anderes als eine Schwächung der Klassenkämpfe zielt, hat er schon 1865 in dem Text Lohn, Preis und Profit Lügen gestraft.

Nach Marx verhält es sich mit den Löhnen und Preisen wie folgt: Es erfolgt eine Erhöhung von Rohstoffpreisen (durch Krisen, Krieg oder sonst was), was zur Folge hat, dass die Unternehmen tatsächlich mehr in die Produktion investieren müssen, um am Ende die gewollte Ware zu erhalten. Durch die Preissteigerung erfolgt also eine Erhöhung dessen, was KapitalistInnen zur Produktion aufwenden müssen und eine Steigerung des Werts der Ware. Dieser setzt sich zusammen aus dem, was alles zur Produktion einer Ware notwendig ist, also Rohstoffe, Arbeitskraft und Arbeitszeit, Maschinen, deren Wartung, Mieten usw. Der steigende Verkaufspreis gleicht sich dem gestiegenen Wert des Produkts an. Soweit scheint es nichts besonderes und nachvollziehbar zu sein. Versteckt erfolgt jedoch mit der Preissteigerung der Rohstoffe und der Steigerung der Preise der Waren auch eine Absenkung der Produktionskosten.

Das wird nur verständlich, wenn wir betrachten, wie KapitalistInnen Profit machen. Der Gewinn, der beim Verkauf von Waren erzielt wird, kommt nicht dadurch zustande, dass diese über ihrem Wert verkauft würden. Er entsteht aus der Arbeitskraft, die wir ArbeiterInnen in die Produktion stecken – über jenen Teil, den wir nicht bezahlt bekommen.

Aber wer würde hierzulande denn ohne Lohn arbeiten? Verständlicherweise niemand und doch tun es alle. Denn was wir als Lohn für unsere Arbeitskraft bekommen, ist immer weniger als wir letztlich für die Unternehmen veräußern. Der Lohn orientiert sich, etwas vereinfacht ausgedrückt, an zwei Faktoren: Zum einen muss er ausreichen, um unser physisches Überleben zu sichern, zum anderen muss er einem gewissen gesellschaftlichen Lebensstandard genügen. Letzteres ist selbstverständlich extrem variabel (Ersteres streng genommen auch, findet die Grenze aber immer am Tod). Verkaufen wir unsere Arbeitskraft – egal ob in einer Fabrik, einem Geschäft oder im Büro – werden wir immer nur gezahlt bekommen, was uns das Überleben auf einem in dieser Gesellschaft mehr oder weniger zumutbaren Niveau sicherstellt, nicht was wir wirklich an Wert zur Produktion beitragen. Wir verkaufen unsere Ware Arbeitskraft also unter Wert. Aus dem, was wir sozusagen unentgeltlich zur Produktion abgeben, erzielen die KapitalistInnen den Profit bzw. den Mehrwert. Anschaulich ist es, wenn in einer Stunde Arbeit Waren im Wert von 20€ hergestellt werden, der Stundenlohn aber nur 10 € beträgt, also grob das was als Mindestlohn zur Existenzsicherung definiert wurde. Dann haben wir für einen Profit von 100% der KapitalistIn gesorgt bzw. sind um die Hälfte unserer Arbeitskraft betrogen worden. In dem Beispiel sind natürlich lauter relevante Faktoren der komplizierten Wirklichkeit ausgespart, das Prinzip ist aber immer genau dieses.

Würden die Preise, zu denen Waren verkauft werden, bei einer Steigerung der Rohstoffpreise konstant bleiben, würde das den Gewinn der KapitalistInnen deutlich schrumpfen lassen. Für die KapitalistInnen stellt das eine nicht hinnehmbare Situation dar. Werden die Löhne von uns ArbeiterInnen nicht auch angepasst, bedeutet das, dass die Produkte teurer werden und die Konzerne mehr Profit machen, wir aber verarmen, weil unsere Lebenshaltungskosten steigen, unsere Gehälter aber stagnieren.

Dabei befinden wir uns in einer lose-lose Situation, während die KapitalistInnen ihren Gewinn nur vergrößern. Der Grund dafür ist, dass die Preise der Waren angehoben werden, um so auf der einen Seite den drohenden Verlust bzw. die Befürchtung, etwas weniger Gewinn zu machen, abzuwenden. Auf der anderen Seite verteuern sich aber durch die Anhebung der Warenpreise auch die Kosten für unser Überleben bzw. die Erhaltung unseres Lebensstandards. Bleiben Lohnerhöhungen aus, wird der Preis für unsere Arbeitskraft gedrückt – er ist schließlich auch gestiegen, da wir mehr Geld zum Leben brauchen. Damit vergrößert sich der Mehrwert, also der Gewinn der KapitalistInnen nicht trotz, sondern wegen steigender Rohstoffpreise. Denn werden unsere Löhne nicht angehoben, obwohl die Preise der Waren durch steigende Rohstoffkosten nach oben gehen, vergrößern die Kapitalisten ihren Gewinn überproportional, da sie weniger als notwendig dafür ausgeben. Sie sparen ja an unseren Löhnen.

Eine lose-lose Situation ist es, weil wir nicht nur mehr Geld für alles mögliche bezahlen müssen, sondern gleichzeitig der Preis unserer Arbeitskraft abgewertet wird. Der Gewinn, den KapitalistInnen erzielen, ist nie abhängig von Rohstoffpreisen oder ähnlichem, da sich hieraus niemals der Mehrwert gewinnen lässt, der den Profit ausmacht. Den gibt es immer nur dadurch, dass nicht der Wert der Arbeitskraft entlohnt wird, sondern nur das, was wir zum Überleben benötigen. Oder nach Marx: der Mehrwert oder Profit entsteht durch die Aneignung fremder Arbeit. Würden unsere Löhne entsprechend den steigenden Preisen angehoben werden, würde dies nicht weiter die Preise in die Höhe treiben, sondern lediglich den Profit auf dem bisherigen Level halten. So wird der Profit unter dem Vorwand steigender Rohstoffkosten in die Höhe getrieben – alles auf unseren Rücken.

Es lässt sich also relativ einfach zeigen, dass das Gespenst der Lohn-Preis-Spirale völliger Unsinn ist. Umso mehr muss es von den VertreterInnen der herrschenden Klasse beschworen werden. Und das Verrückte ist – viele Menschen glauben daran. Vor allem, umso weniger sie sich von den Auswirkungen der steigenden Preise und damit der steigenden Ausbeutung betroffen fühlen. Hierzu nur eine kleine Anekdote, die ein wenig bebildert, wie die Propaganda gerade bei den BesserverdienerInnen verfängt.

Ich arbeite in einem Krankenhaus, also einem Ort, an dem schlechte Löhne, hohe Arbeitsbelastung und schlechte Arbeitsbedingungen ohnehin an der Tagesordnung sind. Nachdem sich vermehrt Unmut – vor allem über die steigenden Benzinpreise – breit machte, besonders in der Pflege, konnte die MitarbeiterInnenvertretung dazu bewegt werden, einen offenen Brief (den jede im Krankenhaus beschäftigte Person per Mail erhielt) an die Geschäftsleitung zu schicken, in dem diese dazu aufgefordert wurde, die steigenden Lebenshaltungskosten mit steuerfreien Sachmittelgutscheinen (also für Benzin und/oder Lebensmittel) zu kompensieren. Die Geschäftsleitung reagierte überhaupt nicht auf dieses Schreiben. Sehr viele KollegInnen (wieder vor allem aus der Pflege) fanden die Idee allerdings sehr gut. Lediglich aus Berufsgruppen mit einem besonders hohem Einkommen gab es negatives Feedback: Wir sollten alle mal froh sein, dass wir nicht in der Ukraine seien. So wird die Solidarität mit Menschen im Kriegsgebiet gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse ausgespielt – ganz so wie die mit moralischem Druck angereicherte Propaganda und verbreitete Angst vor der Lohn-Preis-Spirale es auch soll.

Ich möchte hier auf Marians Aufruf verweisen, der auf anarchismus.de erschienen ist, in dem er fordert, dass AnarchistInnen gegen die steigenden Preise auf die Straße gehen sollten. Recht hat er. Die ArbeiterInnen – letztlich wir alle, die wir von unserem Lohn abhängig sind – sind direkt von der Preisentwicklung betroffen. Diejenigen, die darunter besonders leiden, verstehen ganz genau, dass bei der Lohn-Preis-Spirale irgendwas faul ist. Es braucht nur eine Initiative und organisierte Kraft, die ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Wut in Protest und Widerstand umzuwandeln.

Frederik Fuß

ist Kollektivmitglied im Syndikat-A Verlag und Redakteuer der Tsveyfl - dissensorientierten Zeitschrift.

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