(Anti-)Politik und der kommunistische Anarchismus



Anarchismus Theorie

Gastbeitrag von Jonathan

Als ich vor inzwischen fünf Jahren beschlossen habe, mich umfassend der politischen Theorie des Anarchismus zu widmen, erschien es mir naheliegend, die Grundbegriffen dieser pluralistischen sozialistischen Strömung zu erforschen. Denn im Anarchismus gibt es ein eigenständiges theoretisches Denken, welches unbedingt mit der anarchistischen Ethik und ihren Lebensformen sowie anarchistischen Organisationsvorstellungen im Zusammenhang zu denken ist. Deswegen habe ich mir die Fragen gestellt: Was verstehen Anarchist:innen eigentlich unter „Politik“? Wie verhalten sich Anarchist:innen gegenüber „Politik“? Und: Kann es eine anarchistische „Politik“ geben und was wären ihre Kriterien? Mit dem Arbeitsbegriff (Anti-)Politik wird ausgedrückt, dass es sich um ein durch die bestehende Herrschaftsordnung bedingtes Spannungsfeld handelt, in welchem Anarchist:innen immer im Widerspruch handeln.

Staatlichkeit als organisiertes politisches Herrschaftsverhältnis

Auffällig ist, dass es in allen anarchistischen Strömungen eine grundlegende Kritik am Politikmachen gibt. Diese bezieht sich auf die Regierungspolitik, die staatliche Bürokratie, den Parlamentarismus und das Parteiensystem. Sie bezieht sich aber auch auf die politische Logik und Organisationsweise in einem weiteren Sinne. Denn das, was wir gemeinhin unter „Politik“ verstehen und mit ihr assoziieren ist kein neutrales Terrain. Vielmehr werden die Aktivitäten tendenziell autonomer und selbstorganisierter sozialer Bewegungen häufig dem Staat zugeordnet und oftmals von diesem vereinnahmt. „Politik“ gestaltet sich in liberal-demokratischen Gesellschaftsformen als politische Herrschaft. Das bedeutet, dass sich Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten herausbildete und dieses in potenziell alle gesellschaftlichen Bereiche hineingetragen wird.

In der Logik des Staates liegt es, alle gesellschaftlichen Bereiche zu regulieren, zu kontrollieren, zu sanktionieren und zu erfassen. Wenn durch ihn eine „Privatsphäre“ konstruiert wird, dann ist diese ebenso wenig an sich von staatlicher Herrschaft ausgenommen, wie „die“ Wirtschaft nicht wirklich getrennt vom Staat gedacht werden kann und „Freizeit“, die Kehrseite von Lohnarbeit darstellt. Staatlichkeit kann analog zum Kapitalismus, dem ökonomischen Herrschaftsverhältnis, dem Patriarchat in den Geschlechterverhältnissen und dem Anthropozentrismus im gesellschaftlichen Naturverhältnis gedacht werden.

Als Herrschaftsverhältnis reicht sie potenziell in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein, aber sie ist nicht total. Neben ihr bestehen unterdrückte und verdrängte Formen, wie Menschen sich organisieren können. Dies tun sie auch, wenn Staatlichkeit das dominierende politische Herrschaftsverhältnis ist. Auf die meisten Aktivitäten, welche sich auf der politischen Ebene abspielen, beansprucht der Staat ein Monopol oder will sie zumindest kontrollieren und regulieren. Umgekehrt ist auch so, dass die meisten Menschen, wenn sie an „Politik“ denken, diese sehr schnell mit staatlichen Strukturen und Logik assoziieren – denn ihr Bewusstsein ist durch die Ideologie der bestehenden Herrschaftsordnung geformt.

Radikale Demokratie oder Skepsis gegenüber der Politik?

Wenn Anarchist:innen die Verstaatlichung von Politik ablehnen, bestünde eine Möglichkeit darin, ihr eine Art selbstorganisierte und autonome Politik „von unten“ entgegenzusetzen. Eine „radikale Demokratie“ oder „Basisdemokratie“ soll der staatlichen Herrschaft entgegengestellt werden, welche sich mit Perspektive zu Unrecht als „demokratisch“ ausgibt. Wenn man so will, geht es bei diesen Ansätzen darum, den Begriff „Politik“ zurückzuerobern und damit auch umzudefinieren. Offensichtlich beschäftigen sich viele Anarchist:innen immer wieder mit dem, was in „der“ Politik los ist und versuchen auch in sie zu intervenieren. Dies geschieht, wenn sie Kundgebungen anmelden, sich an Demos beteiligen, möglicherweise in Vereinen aktiv sind, vielleicht auch mit Politiker:innen reden oder sich mit Politik beschäftigen, um sie kritisieren und delegitimieren zu können.

Auch wenn es für diese radikal-demokratische Ansicht einige Argumente gibt und damit auch die Frage verbunden ist, welche Ansatzpunkte für die Organisation einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform bestehen, habe ich mich dafür entschieden, einen anderen Politikbegriff zu verwenden. Diesen habe ich als (ultra-)realistisch, gouvernemental und konfliktorientiert beschrieben. Damit will ich ausdrücken, dass es auf dem politischen Feld immer um Machtkämpfe geht und die daran Beteiligten über äußerst ungleiche Machtressourcen verfügen. Das heißt, wie schon gesagt, dass Politik in der bestehenden Herrschaftsordnung nie neutral ist. Vielmehr sind ihre Bedingungen bereits durch politische Herrschaft geprägt.

Mit anderen Worten: In der Politik, wie sie uns heute erscheint, gibt es für anarchistische Positionen wenige bis fast gar keine Spielräume. Bringen sie sozial-revolutionäre Bestrebungen in sie ein, werden diese ausgegrenzt und dämonisiert. Versuchen Anarchist:innen pragmatisch auf graduelle Verbesserungen hinzuwirken, werden sie ignoriert oder eingehegt. Diese Effekte sollten nicht unterschätzt werden, wie es zahlreiche Linke tun, welche die hundertste politische Sekte gründen, sich trotz ihres Unbehagens politischen Parteien anschließen oder an der Politik verzweifeln und z.B. nur noch kulturell oder mit ihrem persönlichen Lebensstil wirksam sein wollen. Aus anarchistischer Perspektive lohnt es sich, dem Politikmachen gegenüber fortwährend skeptisch zu bleiben.

Gründe für das Unbehagens mit der Politik

Übrigens war es unter anderem auch der Streit um den Politikbegriff selbst, an welchem sich der Anarchismus als eigenständige Strömung herausbildete. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die sozialistische Graswurzelbewegung politisiert. Das geschah erstens durch die Vereinnahmung ihrer Forderungen, indem eine staatliche Sozialpolitik hervorgebracht wurde. Zweitens wollten sozialdemokratische und kommunistische Parteipolitiker:innen ihre eigenen Führungsansprüche und Herrschaftsbestrebungen durch politische Reformen oder politische Revolutionen durchsetzen. Drittens wurden selbstorganisierte, autonome Bewegungen und selbstverwalteten Gebieten im Zuge der Durchsetzung des modernen Nationalstaates von brutaler Repression überzogen. Deswegen nahmen sie Organisationsformen an, welche in der bürgerlichen Herrschaftsordnung legalisiert waren und dieser also zugeordnet wurden. Anarchist:innen wehrten sich gegen diese Politisierung des Sozialismus, indem sie die Organisationsprinzipien von Autonomie, Dezentralität, Föderalismus und Freiwilligkeit betonten und mit einer sozialen Revolution auf eine umfassende Gesellschaftsveränderung hinwirken wollten.

Neben den historischen, gibt es auch weitere Gründe, warum es dem Politikmachen aus anarchistischer Perspektive gegenüber skeptisch zu sein gilt. Dies betrifft die bereits erwähnte Feststellung, dass tendenziell selbstorganisierte autonome soziale Bewegungen immer wieder von staatlicher Politik vereinnahmt oder ihr zugeordnet werden. Dies kann z.B. auch bei Fridays for Future gesehen werden: Obwohl FFF als Bewegung relativ erfolgreich war, gab es in ihr Bestrebungen eigene Parteien zu gründen, sich als Vorhutorganisation der Grünen zu verstehen und permanent an die politischen Machthaber:innen zu appellieren. Auch zahlreiche Linke formulieren immer wieder Forderungen an „die“ Politik, obwohl sie gar nicht über die Machtbasis verfügen, um diese durchzusetzen. Wir kennen dies von Demos, wo die Teilnehmenden schon das Gefühl haben, einen Beitrag für die Emanzipation getan zu haben, wenn sie mit anderen durch die Straßen laufen. Eine Demo ist sinnvoll, wenn sich bei ihr ähnlich gesinnte Menschen begegnen, austauschen, gemeinsam stark fühlen, andere überzeugen oder in die Konfrontation gehen können. Sie erzeugt aber für sich selbst genommen keinen ernstzunehmenden Druck für die Machthabenden.

Ein pluralistischer Anarchismus

Innerhalb des Anarchismus gibt es sehr verschiedene Traditionen, Perspektiven, Standpunkte, Erfahrungen und Praktiken. Deswegen bestehen unter Anarchist:innen anhaltende und tiefgreifende Kontroversen und Streits. Viele Positionen von Menschen, die sich als Anarchist:in bezeichnen, mögen andere Anarchist:innen nerven oder sogar provozieren. Da es mit ihnen um etwas geht, sollte auch nicht so getan werden, als wenn alle Ansichten gleichberechtigt nebeneinander stehen könnten. Denn dann bleiben sie beliebige Meinungen, was nicht ausreicht, um grundlegende Gesellschaftskritik zu üben und funktionierende Alternativen aufzubauen. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass der Anarchismus pluralistisch ist. Dies darf und sollte er auch sein, denn würde der Anarchismus durch politische Führung homogenisiert und zentralisiert werden, wäre er letztendlich nur eine politische Strömung unter anderen. Doch der Anarchismus unterscheidet sich qualitativ von anderen sozialistischen und auch linksradikalen Ansätzen. Und dieser Unterschied kommt wiederum im Verständnis von Politik zum Ausdruck.

Individualanarchist:innen kritisieren politische Herrschaft vorrangig, weil mit ihr die Selbstbestimmung von Einzelnen eingeschränkt wird, welche sie dieser entgegensetzen. Die Bedürfnisse und Wünsche von Einzelnen können nur durch sie selbst definiert werden. Sie wollen mit ihren Interessen von niemandem repräsentiert werden. Mutualistische Ansätze zielen auf die Selbstorganisation z.B. von Stadtvierteln, regionalen Wirtschaftskreisläufen, Mietshäusern usw. ab und treten für Genossenschaften und Kollektivbetriebe ein. Im Anarch@-Syndikalismus wird der Politik ganz klar die Organisation und der Kampf in der ökonomischen Sphäre entgegengesetzt. Statt politische Reformen über den Staat zu erreichen, geht es darum, Interessen direkt gegenüber den Kapitaleignern durchzusetzen und mit den Syndikaten die organisatorische Grundlage für die Selbstverwaltung einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform zu legen. Im kommunitären Anarchismus geht es darum, sich mit ähnlich Gesinnten das Leben zu teilen und – jenseits von Politik – in Alternativszenen oder Kommuneprojekten die kommende Gesellschaft experimentell vorwegzunehmen.

Dagegen wird im anarchistischen Insurrektionalismus davon ausgegangen, dass Anarchist:innen keinerlei Visionen hervorbringen sollten. Vielmehr müsse jegliche Ausprägung von Herrschaft permanent weiter angegriffen werden, ohne dass es dafür „politischer“ Alternativerzählungen brauche. Die insurrektionalistische Tendenz ist gewissermaßen als Negativfolie des kommunistischen Anarchismus entstanden. Sie entwickelte sich meiner Interpretation nach aufgrund der Erfahrung des Scheiterns anarchistischer Ansprüche, der Desillusionierung über das Ausbleiben der sozialen Revolution und der brutalen Repression libertär-sozialistischer Bewegungen.

Die Traditionen, Perspektiven und Praktiken der verschiedenen anarchistischen Tendenzen sind zunächst für sich genommen interessant. Ihre Kategorisierung sollten wir nicht zu eng sehen, denn in anarchistischen Szenen vermischen sie sich in unterschiedlichen Ausprägungen. Das ist nicht schlimm, sondern kann sehr bereichernd sein. So verschieden Anarchist:innen sind und denken, haben sie doch eine Gemeinsamkeit in ihrem Politikverständnis. Und dies führt zum Streben nach Autonomie, das heißt zur Ablehnung von Herrschaft bei gleichzeitiger Verwirklichung von egalitären, libertären und solidarischen Beziehungen und Institutionen.

Die politische Leerstelle im Anarchismus

Durch die radikale Kritik an Politik und ihrer Ablehnung im Anarchismus insgesamt entstehen jedoch auch zwei theoretische Probleme. Erstens: Wenn das politische Terrain völlig vernachlässigt wird, tendieren anarchistische Ansätze dazu, zu Selbstzwecken zu werden. Revolte kann ein zielloser Selbstzweck werden, mit dem sich zwar Bedürfnisse nach Rebellion befriedigen lassen, der aber ein Anti-Reflex bleibt und Herrschaft nicht grundlegend überwinden kann. Das autonome Zentrum kann nur noch subkulturell sein und ein Hausprojekt wird zum schöneren Leben im gentrifizierten Viertel. Die Basisgewerkschaft wird durch politische Gruppen instrumentalisiert oder verdeckt ihre inneren Widersprüche. Praktiken gegenseitiger Hilfe bleiben bei sozialer Elendsverwaltung oder der Bedienung des eigenen Klientel stehen. Subversive Einzelnen kreisen sich bloß um ihre Selbstfindung.

Zweitens stellt sich die Frage, wie eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform politisch organisiert werden kann. Wie werden selbstorganisierte Gemeinwesen gebildet und wie sind sie miteinander vernetzt? Wie werden Konsense herausgebildet, wie Entscheidungen getroffen und von möglichst vielen mitgetragen? Wenn Anarchist:innen ihren eigenen Ansprüche gerecht werden und präfigurativ alternative Realitäten schaffen wollen, stellen sich diese Fragen nicht abschließend und im Sinne eines abstrakten Entwurfs einer neuen Gesellschaftsordnung. Vielmehr handelt es sich um wesentliche Grundlagen dafür, emanzipatorische sozialen Bewegungen und Alternativstrukturen zu entwickeln. Mit diesen Fragen beschäftigen sich insbesondere Anarch@-Kommunist:innen. Deswegen werde ich nun die (Anti-)Politik im kommunistischen Anarchismus beleuchten. Bereits vorwegnehmen möchte ich aber, dass sich das Problem mit der Politik auch mit ihm nicht wirklich auflösen lässt.

Die (Anti-)Politik anarch@-kommunistischer Gruppen

Auch innerhalb des kommunistischen Anarchismus werden verschiedene Aussagen zur Politik getätigt. Beispielsweise übt Johann Most eine beißende Kritik am Politikmachen und lehnt auch Joseph Peukert „die“ Politik auf eine ziemlich platte Weise ab. Dagegen fragt sich Pjotr Kropotkin, wie sich neben und gegen das politische Herrschaftsverhältnis Staat libertär-sozialistische politische Verhältnisse denken lassen. Der Kommunismus ist dabei das alternative ökonomische Verhältnis, während Anarchie der Modus für das herrschaftsarme politische Verhältnis sein soll. Die Föderation autonomer dezentraler Kommunen ist dieser Vorstellung nach das politische Organisationsmodell der erstrebenswerten Gesellschaftsform. Dass sich verschiedene Gemeinwesen selbst organisieren können, ohne deswegen exklusiv, homogen und hierarchisch zu werden, beruht auf historischen Erfahrungen, welche den Ausgangspunkt für die Vision einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform bilden. Anarchist:innen können eine solche konkrete Utopie beschreiben ohne sie in Stein zu meiseln oder an einen Masterplan zu glauben, den es nicht geben kann. Sie benötigen eine solche Vision auch, wenn sie Alternativen zur bestehenden Herrschaftsordnung als Ganzes aufzeigen und ihre Vorstellungen nicht nur in Szenen und Projekten verwirklichen wollen.

Weil es im kommunistischen Anarchismus um die soziale Revolutionierung der gesamten Gesellschaftsform geht, werden in ihm stärker als in den anderen anarchistischen Tendenzen die Schwerpunkte auf Propaganda, Bewusstseinsbildung und Organisierung gelegt. Auch wenn es im Anarch@-Kommunismus eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Politikmachen gibt, ist er von den anderen anarchistischen Strömungen auch in seinen Organisationen am „politischsten“. Unter anderem beziehen sich Anarch@-Kommunist:innen auf linke politische Gruppen und vergleichen sich mit ihnen, akzeptieren graduelle Unterschiede bei Politiker:innen, wollen sozialen Bewegungen eine bestimmte Richtung aufzeigen, können sich unter bestimmten Umständen auch Entscheidungen durch Wahlen vorstellen usw.. Der kommunistische Anarchismus begibt sich mit diesen Grundannahmen auf politisches Gebiet, auch wenn es sich dabei nicht um staatliche Politik handelt. Wird Staatlichkeit aber in einem weiteren Sinn als politisches Herrschaftsverhältnis begriffen, entsteht hierbei ein Widerspruch. Denn worin unterscheidet sich die anarch@-kommunistische autonome Politik dann wirklich z.B. von der marxistischen Herangehensweise, mit welcher politische Herrschaft ebenfalls kritisiert, aber gerade darum reformerische und/oder revolutionäre Politik betrieben wird?

Vorwürfe gegen das Agieren auf politischem Terrain

Bestimmte Anarchist:innen erheben deswegen den Vorwurf, dass der kommunistische Anarchismus im Grunde genommen nur eine weitere linke Strömung ist. Ihre Aktiven würden sich zwar für antiautoritär halten, aber letztendlich unterschätzen, dass auch das von ihnen angestrebte Gesellschaftsmodell eine im besten Fall bessere Herrschaftsordnung wäre, nicht aber auf die Abschaffung von Herrschaft überhaupt hinauslaufen würde. Und überhaupt würde mit dem Anarch@-Kommunismus die politische Logik nicht endgültig verlassen, also immer noch in Kategorien der Herrschaftsordnung gedacht werden.

Ich halte diese Vorwürfe für falsch, weil ich der Überzeugung bin, dass erstrebenswerte alternative Gesellschaftsverhältnisse bereits im Hier und Jetzt vorhanden sind und wir sie ausweiten und uns für sie engagieren können. Statt der ultimativen Fiktion einer „befreiten Gesellschaft“, sollten wir uns an einer Vision für eine glaubhafte und machbare konkrete Utopie ausrichten, unsere Kämpfe an ihr orientieren und als radikale Minderheit mehr werden wollen. Meiner Ansicht nach sind Menschen soziale Tiere, die sich erst in Gesellschaft als individuell besondere Personen selbst entfalten und selbst bestimmen können. Und Institutionen sind nicht per se Herrschaftsstrukturen, sondern es ist eine soziale Tatsache, dass Menschen Institutionen entwickeln – deswegen kommt es auf ihre Ausgestaltung an.

Dennoch sind in diesen Vorwürfen anarchistische Wahrheiten enthalten, die auf Erfahrungen basieren. Erstens: Mit großen Gesellschaftsentwürfen wurden immer wieder schlechte Erfahrungen gemacht. Dies trifft insbesondere zu, wenn mit humanistischen Ansprüchen anderen vorgeschrieben wurde, was das Richtige für sie wäre. Zweitens besteht in größeren und formellen Organisation immer die Gefahr, dass sich in ihnen bürokratische Hierarchien entwickeln. Dies trifft auch auf eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform zu, in der Herrschaft realistischerweise nicht komplett abgeschafft sein wird. Damit gelangen wir drittens zum Grundproblem mit der Politik überhaupt zurück. Wenn sie ein durch Herrschaft geformtes Terrain ist, können Anarchist:innen darauf nun mal nichts für ihre eigentlichen Ziele gewinnen. Deswegen sollten sie ihre Zeit anders verbringen, als sich noch irgendwie auf Politik zu beziehen, mit Politik zu beschäftigen oder politisch zu handeln. Kommunistische Anarchist:innen sind sich dieser Probleme bewusst und haben ebenfalls versucht, Antworten auf sie zu finden.

In Widersprüchen handlungsfähig werden

Damit komme ich zu meinen Ausgangsfragen zurück: Was verstehen Anarchist:innen unter Politik? Wie gehen sie mit ihr um? Kann es eine autonome Politik geben, die den Rahmen des politischen Herrschaftsverhältnisses wirklich sprengt und nicht vom Staat vereinnahmt wird? Leider kann ich diese Fragen nicht abschließend beantworten. Das hängt mit meiner undogmatischen Herangehensweise zusammen, mit der ich weiterführende Fragen und Diskussionen für wichtiger halte, als definitive Antworten zu geben oder fixierte Definitionen zu formulieren. Daher möchte ich meine Fragen an alle Interessierten weitergeben und dazu anregen, selbst über sie nachzudenken.

Es glaube, es stimmt, dass es einen theoretischen Widerspruch im anarchistischen Kommunismus gibt, wenn sich mit ihm einerseits auf das politische Gebiet begeben wird, während in ihm andererseits die anarchistische Kritik am Politikmachen vorhanden ist. Abgesehen davon, dass dieser Widerspruch auch in anderen anarchistischen Tendenzen vorhanden ist, wenngleich er häufig dogmatisch oder romantisch ignoriert und weggeredet wird, stellt sich weiterhin die Frage, ob dies so schlimm ist. Denn, dass es diesen Widerspruch gibt, ist nicht einer Unzulänglichkeit des anarchistischen Denkens geschuldet. Vielmehr entsteht er durch die Rahmenbedingungen einer bestimmten Herrschaftsordnung, neben und jenseits derer es aber auch erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnissen gibt, auf welche Anarchist:innen sich positiv beziehen können.

Verkürzt gesagt, existieren Herrschaft und Freiheit gleichzeitig. Wäre das nicht der Fall, bräuchten Anarchist:innen überhaupt nicht für etwas anderes zu kämpfen. Dies gilt selbst dann, wenn sie sich vorrangig der Zerstörung von Herrschaftsstrukturen widmen würden. Wären keinerlei erstrebenswerte Veränderungen möglich, würden Anarchist:innen entweder nur irgendeine Szene bleiben, die von romantischen und dogmatischen Phrasen durchzogen ist. Oder sie würden in politischen Gruppen aufgehen und Politik für ein bestimmtes Klientel machen. Oder sie würden in den Nihilismus verfallen, der eine absurde Schlussfolgerung ist. Auch wenn diese Verfallserscheinungen vorhanden sind, bin ich davon überzeugt, dass Menschen prinzipiell in die Lage versetzt werden können, ihre Leben selbst zu bestimmen und eine libertär-sozialistische Gesellschaft zu erkämpfen, die weiterhin durch Anarchie infrage gestellt und weiterentwickelt werden wird.

Letztendlich sollte es um die Frage gehen, wie Anarchist:innen in Widersprüchen handlungsfähig werden können, um die Rahmenbedingungen der Herrschaftsordnung aufzusprengen, selbstorganisierte Gemeinwesen zu schaffen und darin egalitäre, libertäre und solidarische Beziehungen und Institutionen einzurichten. Ob und wie dies gelingen kann, wäre an anderer Stelle anhand von konkreten Beispielen zu diskutieren. Für den Anarch@-Kommunismus können das Denken und Handeln von Emma Goldman und Errico Malatesta inspirieren. In ihren Biografien und Texten sehe ich ein kontinuierliches Engagement, um verschiedene ausgegrenzte, ausgebeutete und unterdrückte Gruppen in ein gemeinsames sozial-revolutionäres Projekt einzubringen. Dabei verbinden sie unterschiedliche Kampffelder, versuchen divergierende anarchistische Standpunkte zu vermitteln und beziehen selbst klare Positionen in Bezug auf bestimmte Fragen.

Die formulierten Gedanken stammen aus einer Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus, die Jonathan Anfang 2022 eingereicht hat. Darüber hinaus gibt er regelmäßig Veranstaltungen zu damit verbundenen Themen in selbstorganisierten Kontexten und schreibt auf paradox-a.de.

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