Anarchismus des Viertels. Eine überwindende These 


Sadi Ruyman Delgado
Anarchismus Theorie Szene Sozialismus

Ich habe schon mal gesagt, dass ich den Unterschied zwischen sozialem Anarchismus und Insurrektionalismus (aufständischem Anarchismus) für konstruiert halte. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nur kontemplativen (rein theoretischen) und kämpferischen (überwiegend praktischen) Anarchismus gibt. Aber ich weiß, dass das für manche zu einfach klingt.

Die Konflikte zwischen den verschiedenen Richtungen im Anarchismus werden immer größer und es gibt immer weniger gemeinsame Räume, gerade jetzt wo wir sie am dringendsten brauchen. Die Schwächen der sogenannten "ideologischen Szene" sind zahlreich und wohlbekannt: Elitedenken, Abschottung, Sektierertum, Überheblichkeit, Realitätsferne, moralische Überlegenheit usw. Es ist nicht nötig, auf diese Beispiele einzugehen. Was weit weniger diskutiert wurde, zumindest nicht in einer vernünftigen Art und Weise, sind die Nachteile des vermeintlich "seriösen und verantwortungsvollen Anarchismus". Die Kritik kam bisher aus dem Dogma oder der Untätigkeit, nicht aus Engagement und der Militanz auf der Straße. Ein großer Teil des seriösen Anarchismus hat uns glauben lassen, dass es sinnvoll und praktisch ist, die Kritik an bestimmten Institutionen, die von bestimmten Gruppen besetzt sind, zu verringern. Sie reden von überschneidenden Interessen , wollen aber eigentlich das Image dieser Institutionen verharmlosen und aufpolieren um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Sie haben das Nachgeben als Erwachsenwerden des Anarchismus präsentiert und sich geweigert zu akzeptieren, dass sie besiegt und am Ende sind, zumindest als transformative Alternative. Gleichzeitig zementiert ihr Anti-Szene-Diskurs, der hart, unnachgiebig, streng und intolerant ist, nur die Szene in seinen Positionen. Wenn die Helfer der zwielichtigen Stadtratsmitglieder dich beschuldigen, "sinnlose" Wahlboykott-Kampagnen zu fördern, verlierst du jede Lust, den bequemen Raum der eigenen Strömung zu verlassen. 

Der Anti-Szene-Diskurs ist manchmal genauso moralisierend wie der Pro-Szene-Diskurs. Er vergisst, dass Militanz auch ein persönlicher Prozess ist und dass die Genossen, die sich zu engagieren beginnen, verschiedene Alternativen ausprobieren müssen, bevor sie ihren eigenen Weg finden. Wir alle durchlaufen eine Phase, in der wir etwas Bestimmtes glauben. Wenn alles gut läuft, ist dies nur vorübergehend. Aber wenn du ständig zensiert und getadelt wirst, kann das ein Leben lang dauern. 

Die Szene ist eine unproduktive Sackgasse, die zur Selbstisolation und einer Kultur des Scheiterns führt. Aber um es zu kritisieren, muss man es von unten tun und nicht aus der bequemen Position desjenigen, der sich in den Büros herumtreibt oder versucht, die Destabilisierung bestimmter Stadträte zu vermeiden.

Zwischen Reformismus und Szene gibt es genug Platz für mehrere Welten und auch für eine These, die dieses dualistisches Weltbild aufbricht: der Anarchismus des Viertels.

Der Gedanke anarchistische Ideen direkt in unseren Nachbarschaften umzusetzen könnte eine Brücke schlagen zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der anarchistischen Bewegung. Der "Anarchismus des Viertels" könnte die Antwort auf die scheinbare Gegensätzlichkeit zwischen sozialen Anarchisten und Insurrektionalisten sein (und beide zu den Autonomen, die oft genug der anarchistischen Etikette überdrüssig sind). Genauso wie der "Anarchismus ohne Adjektive" einst den Konflikt zwischen Kommunisten und Kollektivisten beigelegt hat. Ich werde dieses Konzept bewusst einfach erklären ohne mich auf bestimmte Quellen zu beziehen. 

Der "Anarchismus des Viertels" ist keine neue Idee, sondern eine vergessene. Er zielt darauf ab, das wiederzubeleben, was den Anarchismus einst großartig und zu einer Waffe des Volkes machte: sich auf konkrete Aktionen zu konzentrieren und die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Der "Anarchismus des Viertels" ist nicht rhetorisch, er kümmert sich nicht darum, welcher theoretischen Strömung der Betreffende anhängt. Sein Terrain ist nicht das der ideologischen Diskussion. Der "Anarchismus des Viertels" erzeugt Erzählungen und Ideen, aber auf der Grundlage seiner Aktivität. Er ist keine Ressource, die durch eine abstrakte Theorie bewertet werden kann.

Der "Anarchismus des Viertels" ist vor allem praktisch. Seine Stärke liegt in der Tatkraft, der Fähigkeit Probleme zu lösen und effektiv zu sein. Er strebt nach greifbaren Ergebnissen, die das Leben der Menschen im Hier und Jetzt verbessern.

Der "Anarchismus des Viertels" verschwendet keine Zeit mit organisatorischen Machtkämpfen und definiert sich nicht über die Struktur die er wählt. Er ist nicht identitär und ausschließend, sondern offen für alle. Er zeichnet sich durch seine Taten aus: in der Wohnungsfrage, bei Arbeitskämpfen, in der Selbstversorgung, in der freien Bildung usw. Er konzentriert sich auf das Wesentliche, denn ohne gesicherte Lebensgrundlagen bleibt kein Raum für große Ideale.

Der "Anarchismus des Viertels" arbeitet in der unmittelbaren Umgebung, ohne sich auf das Lokale zu beschränken, aber auch ohne die dringlichste umgebende Realität zu ignorieren. Sein Aktionsfeld ist der gemeinsame räumliche Bereich des Viertels, das Nachbarschaftliche, der Straßenkampf, das Unmittelbare. Er isoliert sich nicht in seinem kleinen städtischen Rückzugsort, aber er schweift auch nicht besessen in ferne und makrostrukturelle Rahmen ab, während er noch nicht in der Lage ist, mit denen zu interagieren, die ihn umgeben, und das Naheliegende zu lösen.

Der "Anarchismus des Viertels" ignoriert keinen Kampf, aber er ist ein Anarchismus, der sich in erster Linie an die Armen richtet, der von und für die Marginalisierten, die Ausgegrenzten und die Prekären entwickelt wurde. Sein Hauptkampffeld sind die dringendsten Bedürfnisse: Brot, ein Dach über dem Kopf und Kleidung. Er ordnet dem weder alle anderen Kämpfe unter, noch leugnet er die Vielfalt der Unterdrückungen. Aber gerade durch die Arbeit in diesem Bereich, durch die Zusammenarbeit mit den Nachbarn, durch das Knüpfen von Netzwerken mit den am stärksten Verfolgten und Ausgestoßenen der Gesellschaft, wird das Thema Migration, Rassismus, Geburtenrate, Geschlechterunterdrückung, ethische Ernährungssouveränität usw. von Grund auf, vom Asphalt aus und nicht vom Elfenbeinturm oder der Bibliothek aus angegangen. Es gibt keinen Kampf jenseits der konkreten Menschen, die ihn führen müssen und viele von ihnen sind in den Stadtvierteln zu finden, wo die verschiedenen Facetten der Unterdrückung, der Hierarchie und der Ungleichheit ihr gröbstes und am wenigsten differenziertes Gesicht zeigen.

Der "Anarchismus des Viertels" ist nicht für Anarchisten gedacht, die die Armen missionieren wollen. Er ist für arme Menschen gedacht, die bereit sind, Anarchie zu erzeugen. Es geht nicht darum, dass einige wenige Anarchisten der Nachbarschaft sagen, was sie zu tun haben. Stattdessen sollen alle zusammenarbeiten um Probleme selbst zu lösen. Es ist die Nachbarschaft, die die Nachbarschaft verteidigt, es sind die Armen, die die Armut bekämpfen, es sind wir, die unsere eigenen Probleme lösen.

Der "Anarchismus des Viertels" braucht keine Verklärung der Armen. Er bedient sich nicht des Mythos der "guten Armen". Er glaubt nicht, dass Menschen ohne Mittel frei von niedrigen Leidenschaften, schändlichen Taten und der Aufrechterhaltung von Unterdrückung sind. Aber er weiß, dass trotz der jahrtausendealten Wirkung des Autoritätsprinzips gerade diejenigen, die nichts haben, einen Grund haben etwas zu ändern. Er weiß auch, dass niemand unseren Kampf für uns führen kann und dass niemand uns etwas geben kann, was wir nicht selbst in die Hand nehmen. Jedes System, das ohne unsere Beteiligung organisiert wird, ist zum Scheitern verurteilt.

Der "Anarchismus des Viertels" ist ehrlich. Er denkt laut über eigene Misserfolge nach ohne jedoch Niederlagen zu mythologisieren. Er ist auch nicht triumphalistisch und bietet keine falschen Siege, die nur vorläufige Zwischenstationen sind. Er ist bescheiden und realistisch und weiß, dass ein kleiner Sieg nur der Anfang einer neuen Anstrengung ist.

Der "Anarchismus des Viertels" paktiert nicht mit Parteien und will nichts mit Institutionen zu tun haben. Sie sind der Feind und sie sind dazu da, um unter Kontrolle gebracht und bekämpft zu werden, um ihnen so viel wie möglich wegzunehmen. Kein Lächeln, keine Fotos, keine Schlagzeilen für sie. Der "Anarchismus des Viertels" ist sehr stark in seiner Unabhängigkeit. Er entsteht von unten und hat kein Interesse an Wahlen oder an denen, die von Stimmen leben.

Der "Anarchismus des Viertels" ist der Weg um die Straße zurückzuerobern, gemeinsam für öffentliche Räume zu kämpfen, Gebäude und Plätze zurückzuerobern und das Gemeingut wieder den Bewohnern zurückzugeben. Er basiert auf der kollektiven Verwaltung der Ressourcen und des Territoriums, um den Kampf gegen die Verschlechterung der Lebensverhältnisse des Viertels, gegen Zwangsumsiedlungen und steigende Lebenskosten. Und das alles, ohne dass die Betroffenen jemals aus dem Mittelpunkt des Geschehens geraten.

Dieser Weg der Straße kann von allen Libertären beschritten werden: von den "Insus", ohne den Diskurs abzuschwächen und ohne auf ihre Mittel zu verzichten; von den "Sozialen", die jenseits von Büchern und Artikeln über die soziale Eingliederung reale praktische Dinge mit realen Menschen tun. Wir können gemeinsam mit obdachlosen Familien Gebäude besetzen, ohne dabei unsere Radikalität aufzugeben und ohne sich für den Sozialstaat einsetzen zu müssen. Wir können Barrikaden gegen Räumungen errichten, Konflikte auslösen und Unruhen stiften, um Räumungen zu stoppen, ohne verantwortungslose Avantgardisten zu sein und die Unterstützung der Bevölkerung zu vernachlässigen.

Beim "Anarchismus des Viertels" geht es nicht darum, was man sagt, sondern was man tut.

Ich habe ja schon angedeutet, dass diese Überlegung sehr vereinfacht ist. Viele werden sagen, dass dies bereits getan wird und andere es schon tun, ohne ihm diesen oder einen anderen Namen zu geben. Aber ich denke es war wichtig das Konzept etwas auszuarbeiten, ihm eine gewisse Gestalt zu geben, so klein, einfach und bescheiden es auch sein mag. Und vielleicht können wir anfangen, Aktivitäten und Projekte zu identifizieren, die sich um diese These herum organisieren lassen. Sie ist kritisierbar und veränderbar, aber wir können sie alle übernehmen, die die Kriege der Ideen satt haben, weil wir die Notwendigkeit sehen, auf der Straße zu kämpfen.

Der anarchistische Kampf in den Vierteln und auf der Straße erlebt heute eine neue Form. Ohne sich an bestimmte Namen zu binden, breitet er sich in verschiedenen Teilen des Landes aus. Vielleicht wird er von der großen Politik unterdrückt, vielleicht hindern ihn ideologische Rückkopplungsschleifen am Wachstum, vielleicht ist er ein isoliertes und vorübergehendes Phänomen oder vielleicht ist es nur eine Illusion, die ich aus meiner kanarischen Randlage heraus habe.

Wie dem auch sei, angesichts so überwältigender und wachsender Prozesse wie Gentrifizierung, Touristifizierung, Zwangsräumungen, Arbeitslosigkeit, Prekarisierung der Arbeiterklasse, Verfolgung von Migranten, sozialer Ausgrenzung, weit verbreitete Armut von Frauen und Kindern, chronischer Obdachlosigkeit, Inhaftierung ganzer Generationen, drastischen Veränderungen des urbanen Umfelds und Zerstörung unserer sozialen Räume ist klar, dass uns keine andere Wahl bleibt, als die Viertel zurückzuerobern, wenn wir dem Angriff standhalten und in der Lage sein wollen zurückzuschlagen. Die nächsten sozialen Kämpfe werden in den Vierteln ausgetragen. Wenn wir nicht aus unseren Vierteln vertrieben und den Spekulanten kampflos überlassen werden wollen, müssen wir Fuß fassen und uns darauf vorbereiten keinen Zentimeter Land aufzugeben. Wenn wir keinen anarchistischen Kampf in den Vierteln organisieren, werden andere uns ihren faschistischen Kampf in den Vierteln aufzwingen und uns überfahren. Der Kampf um diesen kleinen Raum ist auch ein Kampf ums Überleben, und Sterben sollte keine Option für uns sein.

Autor: Ruymán Rodríguez

Originaltext findet Ihr hier

Übersetzer: Ruyman Delgado und Sadi

Sadi

Der Sadi. Arbeitet in der Kinderbetreuung.
Wundert sich über das Verhalten erwachsener Menschen.
Versteht sich als antiautoritär. Mal Optimist, mal Realist, selten Pessimist.
Mag keine Dogmen, hört auf sein Gewissen.
Und stellt sich gern in kurzen Sätzen in der dritten Person vor.

Ruyman Delgado

Ich bin Ruyman Delgado, seit Beginn meiner Ausbildung als Kaufmann im Einzelhandel (im Bereich Möbel und Lichtplanung) in der FAU Düsseldorf organisiert. Ich habe Erfahrungen mit der Arbeit im Einzelhandel aus zwei unterschiedlichen EU-Ländern und in bisher 5 verschiedenen Unternehmen gesammelt. In vielen von denen habe ich versucht, die Situation meiner Kolleg:innen zu verbessern.

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