Warum Anarchokommunismus?


Gabriel Kuhn
anarchismus.de Anarchokom Theorie

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin nicht Teil des Kollektivs, das anarchismus.de betreibt. Ich muss das Projekt nicht erklären, rechtfertigen oder verteidigen. Das können die Betreiber:innen selbst tun. Wieso ich mich dann hier ausbreite? Ich wurde eingeladen, für den Stapellauf der Website einen Text zu verfassen. Mach ich natürlich gerne. Wobei: Als die Einladung kam, sollte das Projekt noch anarchokommunismus.de heißen. Dementsprechend fiel mein erster Textentwurf aus. Kurzfristig kam es dann zur Änderung der Domain. Die Betreiber:innen versicherten mir jedoch, dass sich an der anarchokommunistischen Ausrichtung des Projekts nichts ändert würde. Insofern folgt nun, im Großen und Ganzen, das von mir ursprünglich verfasste Plädoyer für den Gebrauch des Namens „Anarchokommunismus“.

Selbstverständlich ist dieser Gebrauch keineswegs. Einwände kommen von allen Seiten. Zunächst gibt es jene, die nichts davon halten, den Anarchismus aufzufächern. Individualistischer Anarchismus hier, kommunistischer Anarchismus dort, dazwischen, darüber oder darunter syndikalistischer, christlicher, pazifistischer oder sonstiger Anarchismus. War das mit dem „Anarchismus ohne Adjektiven“ nicht besser? Irgendwie ja, dann aber auch wieder nicht.

Der Anarchismus ist ideologisch im 19. Jahrhundert als eine Art Synthese von Liberalismus und Sozialismus entstanden. Das bedeutet, dass er sich in einem Spannungsfeld grober Gegensätze bewegt. Das macht nicht zuletzt seinen Reiz aus, doch wenn das Gleichgewicht verloren geht, kann er sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln.

Wir sehen das bei jedem anarchistischen Event. Oft vereint die Menschen, die sich dort treffen, wenig mehr als ein diffuses Gefühl, gegen Macht, Herrschaft und Autorität zu sein. Politisch kann das für die Leute alles Mögliche bedeuten. Die einen wollen sich gewerkschaftlich engagieren, die anderen Kunsthallen aufbauen, die nächsten Drogen abfeiern oder nur noch Fallobst essen. Kein Wunder, dass die Events oft abstrusen Charakter haben. Insofern macht es durchaus Sinn, seinem Verständnis des Anarchismus eine deutlichere Schlagseite zu geben. Mit dem Begriff des Anarchokommunismus schreibt man sich in eine linke Tradition ein, die durch kollektives Handeln auf eine klassen- und staatenlose Gesellschaft abzielt. Gut so.

Allerdings kommt hier gleich der nächste Einwand: Manche Leute meinen nämlich, dass es unnötig sei, einen eigenen Begriff für einen Anarchismus zu haben, der durch kollektives Handeln auf eine klassen- und staatenlose Gesellschaft abzielt. Denn das sei in Wahrheit der einzige Anarchismus. Alles andere (Kunsthallen aufbauen, Drogen abfeiern, Fallobst essen usw.) sei nur Lifestyle, subkultureller Schnickschnack, Pseudo-Anarchismus.

Nun. Man begibt sich immer auf dünnes Eis, wenn man die eigene Definition eines Begriffs zur einzig wahren erhebt. Nicht zuletzt, wenn es um einen so vielschichtigen Begriff wie den des Anarchismus geht. Wo setzt man an? Soll er historisch erklärt werden, etymologisch (begriffsgeschichtlich) oder philosophisch? Man läuft Gefahr, sich in abstrakte Streitigkeiten zu verzetteln, die mit einer Politik der Befreiung nichts mehr zu tun haben. Wer braucht das? Da lieber ein Adjektiv akzeptieren und unter einem Namen wie Anarchokommunismus das machen, was man für richtig hält. Mehr Positivität, weniger Vergeudung von Energie.

Der Begriff des Anarchokommunismus hat einige Vorteile. Er ist deutlich genug, um sich von liberalistischen Strömungen des Anarchismus abzugrenzen. Gleichzeitig ist er offen genug, um nicht bestimmte Organisationsstrukturen oder Strategien vorzuschreiben. Das sind Probleme, mit denen sowohl der Anarchosyndikalismus als auch der Plattformismus zu kämpfen haben. Der Anarchosyndikalismus ist per Definition an gewerkschaftliche Arbeit gebunden. Der Plattformismus orientiert sich an einem in den 1920er Jahren verfassten Dokument (der „Plattform libertärer Kommunisten“). Gleichzeitig sind beide Strömungen klassenkämpferisch ausgerichtet und mit dem Anarchokommunismus verwandt.

Das führt zu internen Debatten, bei denen der Anarchokommunismus auch gut aussteigt. Wer sich für historische Diskussionen interessiert, kann sich beispielsweise die Kritik ansehen, die einer der bekanntesten Anarchokommunisten, Errico Malatesta, Anfang des 20. Jahrhunderts am Anarchosyndikalismus formulierte. Malatesta meinte, dass man sich nicht von den Massen trennen sollte, indem man in jedem Lebensbereich ideologisch reine Organisationen schafft (zum Beispiel anarchistische Gewerkschaften), sondern dass man sich auf das Schaffen politischer Organisationen beschränken sollte, um dann Einfluss in Massenorganisationen zu gewinnen und Menschen aller Art zu erreichen. Ich halte den Ansatz für richtig, auch heute noch.

Ein explizit anarchokommunistisches Projekt kann im deutschsprachigen Raum eine wichtige Rolle spielen. Seit rund 40 Jahren hat die autonome Bewegung viele anarchistische Impulse aufgesaugt. Doch die autonome Bewegung war immer heterogen (vielfältig, manchmal auch widersprüchlich). Die anarchistischen Einflüsse vermischten sich mit anderen, das politische Profil der Bewegung war oft undeutlich. Heute ist sie historischer Bezugspunkt für insurrektionistische (aufständische) Gruppen genauso wie für karriereorientierte Jungakademiker. Das Milieu, das sich selbst als „anarchistisch“ bezeichnete, war innerhalb der radikalen Linken im deutschsprachigen Raum lange marginalisiert. Kleine Grüppchen, die ihr eigenes Ding machten, historische Forschung betrieben oder auch nur griesgrämig im Kaffeehaus saßen.

Dabei hat der Anarchismus der radikalen Linken viel zu bieten. Es bedarf einer Kritik an neoautoritären Versuchungen (der Koketterie mit Mao oder Stalin) genauso wie einer Abgrenzung zu parteipolitischem NGO-Fußvolk. Es bedarf eines Milieus, das zugänglich, gleichzeitig aber starken Überzeugungen verpflichtet ist. Ein Milieu, in dem man sich gerne aufhält, in dem man aber auch versteht, dass der Wert politischer Arbeit nicht nur am Spaßfaktor hängt. Inwieweit anarchismus.de dazu beitragen kann, werden wir sehen. Den Versuch ist es allemal wert.

Gabriel Kuhn

Gabriel Kuhn

Gabriel Kuhn ist Schriftsteller und Autor von Büchern, die sich mit sozialistischer Theorie und Geschichte und sozialen Bewegungen beschäftigen. Er veröffentlicht Werke in deutscher und englischer Sprache.

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