Die K-Frage


Frederik Fuss
Anarchismus Anarchosyndikalismus Anarchokom Theorie

„Die Syndikalisten […] sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d.h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: ‚jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen!‘ seinen Ausdruck findet.“

Rudolf Rocker – Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus (1919)

Auch unter Anarchosyndikalist:innen ist das Wort mit K oft verpönt: Kommunismus. Dieser Ablehnung liegt häufig eine falsche Gleichsetzung von Kommunismus mit Bolschewismus und/oder Staatskapitalismus, Parteipolitik etc. zu Grunde. Ähnlich ist es mit dem Wort Marxismus, hier beging auch der oben zitierte Rudolf Rocker diese Pauschalisierung. Denn weder ist der Marxismus von den Bolschewiki gepachtet, noch ist es der Kommunismus.

Zum Marxismus

Die marxistische Lehre ist vielfältig. Natürlich gehören Lenin, Trotzki und Konsorten zu den bekanntesten Vertretern. Daneben gab und gibt es aber eine riesige Schar an antiautoritären Marxist:innen, die uns wesentlich näher als den bolschewistischen Parteien stehen. Genannt seien hier nur die holländischen Rätekommunist:innen um Anton Pannekoek oder die dissidenten Marxist:innen der jugoslawischen Praxis-Gruppe (nicht von ungefähr kommt es, dass einer ihrer prominenten Vertreter, Gajo Petrović, sich später als Anarchist bezeichnete). Die Auslegung von Marx’ Werk war und ist hart umkämpft. Es sollte nicht die Aufgabe von Anarchosyndikalist:innen sein, sich in solcherlei Diskussionen zu verlieren, aber man sollte sie nicht abtun, als gäbe es dort keinen Erkenntnisgewinn für uns. Eine eigenständige Analyse der politischen Ökonomie von anarchistischer oder anarchosyndikalistischer Seite hat es in der Form nicht gegeben – und sie ist auch nicht notwendig. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, es reicht vollkommen, wie Bakunin es auch anriet, Marx zu lesen und seine Erkenntnisse in unsere Theorie zu integrieren.

Zur Rolle der Ökonomie und der anarchosyndikalistischen Strategie

Ebenfalls in der Prinzipienerklärung des Syndikalismus erklärt Rocker, „daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage“ sei. Bedeutet dies nun, dass wir die Ökonomie vernachlässigen und uns auf kulturelle Fragen konzentrieren sollten? Keineswegs. Um es einfach auszudrücken, bemühen wir das Bild von der gesellschaftlichen Basis und des Überbaus. Die Basis ist die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse (also das und wie Menschen arbeiten und produzieren müssen, um zu leben), sie „bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft“ (Marx). Aus dieser Basis erhebt sich ein „juristischer und politischer Überbau“, wie auch gesellschaftliche Bewusstseinsformen, „geistige Produktion“, Kultur, aber auch das Verhältnis zur Natur und zu anderen Menschen. Zusammen ergibt sich daraus die jeweilige Gesamtkonstitution der Gesellschaft – in unserem Zeitalter der Kapitalismus. Daraus folgt für uns, dass die Basis in weiten Teilen determiniert (also vorherbestimmt), wie wir sind, was wir denken, wie wir handeln und fühlen. Aber – und das ist wichtig – diese Determination ist nicht in dem Sinne total und allumfassend, dass es keine Abweichung geben könnte, das würde letztlich Stillstand bedeuten (und von Slime wissen wir, „Stillstand ist der Tod“). Beide Sphären stehen in einem Wechselverhältnis, jedoch beeinflussen sie sich nicht zu gleichen Teilen, die Basis wirkt viel stärker auf den Überbau als umgekehrt, doch bewahrt dieser sich eine relative Autonomie, aus der dann eben auch dissidentes Bewusstsein wie das des Anarchosyndikalismus entstehen kann. Daraus ergibt sich aber auch das Dilemma vor dem viele Genoss:innen standen und stehen, wenn sie versuchen die Arbeiter:innenselbstverwaltung in die Tat umzusetzen. Denn solange sie sich nur in den Nischen abspielt, die uns durch die relative Autonomie des Überbaus zur Verfügung stehen, in denen wir uns anders organisieren können, bleiben wir in den Strukturen des Unterbaus verhaftet, wir sind also weiterhin den ökonomischen Zwängen unterworfen und beuten uns im Kollektivbetrieb selbst aus – oft schlimmer, als es in einem Betrieb der Fall wäre, der keinen revolutionären Anspruch hat.

Wichtig sind diese Experimente für ein besseres Morgen dennoch, da sie unser Bewusstsein ändern, uns neue Erfahrungen machen lassen. Genauso wie Streiks, direkte Aktionen oder andere Akte der Selbstermächtigung. Wir müssen auf der Ebene des Überbaus agieren, um in die Struktur der Basis eingreifen zu können – was zum Beispiel bedeuten könnte, eine kritische Masse mit revolutionärem Bewusstsein zu haben, die eine gesellschaftliche Selbstverwaltung gegen den Widerstand der herrschenden Klasse durchsetzen will. Es reicht aber keinesfalls Rockers Kulturfrage auf Gesangsveranstaltungen und Lesungen herunterzubrechen (so schön beides ist) oder Streiks etc. nicht mit der Vision von einer gesellschaftlichen Umgestaltung zu verbinden. So hatte er das nicht gemeint. Sondern, dass es einen gesellschaftlichen Wandel nur geben kann, wenn wir die strukturierende Kraft der Gesellschaft verändern, die Ökonomie. Die Stärke des Anarchosyndikalismus ist es genau hier anzusetzen und mit dem kulturellen Kampf zu verbinden – denn auch ein Wandel der Ökonomie ohne (positive, freiheitliche) Veränderung im gesellschaftlichen Miteinander kann in Tyrannei enden. Der Anarchosyndikalismus will nicht nur genau das verhindern. Er will die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, er will die Entfremdung zwischen Produzent:innen und Produkt aufheben, er will die Produktion an den Bedürfnissen der konkreten Menschen ausrichten und jedem das Nötige zukommen lassen. Das alles verbunden mit der Aufhebung der zwischenmenschlichen Entfremdung, der Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und der Mitbestimmung der Einzelnen in all den Fragen, die sie betreffen.

Kurz gesagt: Die Basis wirkt sich sehr viel stärker auf alle Bereiche des Überbaus aus, als dieser auf die Basis zurückwirken kann. Eine Veränderung der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert eine Revolutionierung der Basis (also der Ökonomie) mit einer gleichzeitigen Umgestaltung des Überbaus (also wie wir miteinander leben, in welchem Verhältnis Menschen zueinander stehen, wie Verwaltung funktioniert etc.).

Kommunismus?!

Der Sozialismus ist letzten Endes damit eine kulturelle Frage, da wir uns nicht auf die Ökonomie beschränken, sondern über diese hinausgehen und einen freiheitlichen Kommunismus anstreben. Er ist aber keine reine Kulturfrage, da wir nicht die totale Freiheit atomisierter Individuen wollen (was ohnehin nur eine bürgerlich Lüge ist; was sie meinen, ist die Freiheit, unter der Brücke zu verhungern), sondern eine freie Gesellschaft, in der die Freiheit des einen die Bedingung der Freiheit der anderen ist, in der solidarisch und kollektiv gewirtschaftet wird, Betriebe, Reichtümer, Böden, Immobilien usw. vergesellschaftet sind. Ein Spannungsfeld zwischen individueller und gesellschaftlicher Freiheit kann hier nur zum Konflikt gemacht werden, wenn es jemand als seine Freiheit erachtet, anderen zu schaden und sie auszubeuten, andernfalls verwirklicht sich die Freiheit des Einzelnen durch die soziale Freiheit in der Gesellschaft. Es gibt ein Wort hierfür: Kommunismus. Es beschreibt unsere Utopie, die wir als Anarchosyndikalist:innen haben. Der Begriff Anarchosyndikalismus bezieht sich daher viel mehr auf unseren Weg und unsere Strategie, als auf unser Ziel. Dieser Weg zeichnet sich dadurch aus, dass wir durch die gesellschaftlichen Experimente in den Nischen, die wir haben, bereits den gesellschaftlichen Wandel durch die Selbstveränderung vorbereiten. Es sind die Erfahrungen in kollektiven Betrieben, Zentren, Streiks, Organisationen gegenseitiger Hilfe usw., die ein revolutionäres Bewusstsein schaffen, in denen auch bereits andere Verkehrsformen als die kapitalistischen erprobt werden (so sehr sie auch immer noch in diesen gefangen sind) und erste Keimzellen für Gesellschaftsstrukturen geschaffen werden, die – wenn sie sich massenhaft vervielfältigen – einen revolutionären Bruch einläuten können. Der Anarchosyndikalismus drückt all das aus, er befindet sich damit auch in der Tradition einer freiheitlichen Gewerkschaftsbewegung, die immer mehr als nur Gewerkschaft war. Er drückt unsere Ablehnung von Staat und Partei aus und bringt uns auf Distanz zu jenen, die unter Kommunismus einen Staatskapitalismus verstehen. Darum sind wir nicht einfach Kommunisten. Wir sind Anarchosyndikalist:innen – aber eben auch Kommunist:innen.

Frederik Fuß

ist Kollektivmitglied im Syndikat-A Verlag und Redakteuer der Tsveyfl - dissensorientierten Zeitschrift.

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