Die anarchistische Übergangsgesellschaft - Teil 2


Uebertage
Anarchismus Theorie

In der 100. Folge des anarchistischen Podcasts Übertage widmen sich Joshua und Marian dem großen Thema „Unser Weg zur Revolution“ und erläutern in fünf Unterpunkten den Weg in eine befreite, d.h. anarchistisch-kommunistische Gesellschaft. Welches Fundament liegt der Revolution zu Grunde? Welchen Weg zu Ihr müssen wir einschlagen? Wie sieht er aus, der große Bruch? Was passiert in der Übergangsgesellschaft? Und wodurch zeichnet sich die neue Gesellschaft aus?

Während uns bereits relativ viel Material zum theoretischen Fundament der Revolution und ihrer Durchführung zur Verfügung steht, ist es vor allem der Punkt der sogenannten Übergangsgesellschaft, der in neuerer anarchistischer Literatur oft weniger Beachtung findet.

Im Folgenden veröffentlichen wir deshalb in zwei Teilen die Skizzierung die Übertage von dieser Gesellschaft zwischen Revolution und neuer, befreiter Gesellschaft entwirft. Den ersten Teil findet Ihr hier

Wer lieber hört anstatt liest kann die Folge 100 von Übertage hier anhören oder unter einem der zahlreichen anderen Kanäle hier finden.

Ausgangslage und Außenbedingungen für die Revolution

Wenn wir bei der Einflussnahme von außen auf diese Übergangsgesellschaft sind, dann reden wir auch über das Außen generell, weil das vielleicht noch relevanter ist, als wie es im Inneren läuft - weil die Außenbedingungen für sozialistische Gesellschaftsversuche in der Geschichte generell immer schon maßgeblich waren und diese sehr stark bestimmt haben. Dies alles hängt sehr von der Ausgangslage ab. Gibt es zum Beispiel die Revolution nur in einem Land, wie z.B. in Malaysia. Oder ist vielleicht noch Brasilien mit dabei, ungefähr gleichzeitig? Oder gibt es vielleicht in Frankreich, Deutschland, Österreich eine Revolution oder in ganz Europa?

Das sind alles verschiedene Ausgangssituationen, die vollkommen unterschiedliche Bedeutungen haben. Wie gut kann sich dieses revolutionäre Gebiet erhalten und verteidigen gegen die Reaktion? Die natürlich von außen probiert, Einfluss zu nehmen. Oder sogar militärisch vorgeht.

Denn, und das darf man niemals unterschätzen, die geopolitische Ausgangslage und auch einfach die geografische Lage der alten Gesellschaft erbt man nun mal - und damit auch die wirtschaftliche Einbindung. Das heißt erstmal, dass historisch gesehen alles schon sehr begrenzt war, aber gerade in unserer global vernetzten Welt, mit ein paar Ausnahmen, Autarkie, eigentlich beinahe unmöglich ist.

Wenn wir jetzt von einem Staat wie Bhutan beispielsweise sprechen, der alleine die Revolution macht und in seiner Bergregion verbleibt, da ist es beinahe unmöglich, autark zu sein. Wenn wir jetzt von einem Gebiet in der Größe der Sowjetunion ausgehen, wo es damals schon gehapert hat, da ist es vielleicht noch etwas mehr möglich. Aber wir müssen das einfach verstehen, mit der Zunahme von globalisierter Gesellschaft, mit einer immer stärkeren globalisierten Arbeitsteilung von allen Prozessen, allen Produkten. Nennt mir mal irgendwelche Produkte, abgesehen von Agrarerzeugnissen, z.B. einem gewachsenen Apfel in Deutschland, wie viele Produkte es wirklich noch gibt, die vom Grund auf, von den Rohstoffen bis zum fertigen Endprodukt in einer Kette, in einer Region gefertigt werden.

Verbesserte Produktions- und Tauschbedingungen mit zunehmender Verbreitung der Revolution

Es gibt sicherlich ein paar Dinge, die man machen kann, wo man bestimmte Produktionsprozesse vereinfachen kann oder umstellen kann. Und je nachdem, wenn man mehrere Revolutionen in unterschiedlichen Ländern hat, kann man vielleicht auch einen internen Tausch in diesen Revolutionen verwirklichen. Das ist eben gemeint mit, umso mehr Revolutionen es gibt, umso besser wird die Ausgangslage für jede einzelne.

Und deswegen ist es auch ein immanentes Ziel, nicht zu sagen: Wir haben in unserem Land die Revolution gemacht, eigentlich sind wir jetzt fertig. Eine ganz zentrale Sache ist, sich nicht darauf auszuruhen, sondern die Revolution in anderen Ländern zu unterstützen. Aber natürlich gehen wir erstmal davon aus, wenn es eine Revolution in einem Land oder in einer Region oder so gibt, dass das ein unfassbar riesigen Impact auf die ganze Welt hat, speziell in unserer vernetzten Welt das ist ja auch wieder ein Vorteil.

Bei der arabischen Revolution hat man zum Beispiel gesehen, natürlich ist da jetzt nichts tolles daraus entstanden, aber man gesehen wie durch die Flamme der Revolution in einer ganzen Region plötzlich in vier, fünf Ländern irgendwelche Machthaber weggerafft werden.

Das würde auch in so einer Situation passieren. Das würde sicherlich vielleicht ein, zwei, drei Länder erfassen oder zumindest die revolutionären Bewegungen in diversen Ländern der Welt massiv anwachsen lassen, massiv stärken und die Hoffnung der Arbeiter:innenklasse auf einen grundsätzlichen Wandel der weltweiten Zustände wieder wecken - und genau diese Bewegungen müssen dann massiv unterstützt werden, damit sich die Ausgangslage der Revolution weltweit verbessert.

Der Drahtseilakt: Abhängigkeit von kapitalistischen Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Zerschlagung

Dennoch wäre es naiv, sich vorzustellen, dass dies alles einfach nur so abläuft. Das lässt sich natürlich immer sehr einfach sagen, ja, einfach machen, einfach unterstützen. Aber das ist eben die Sache, die Übergangsgesellschaft wird eingebunden sein in die aktuelle geopolitische Gemengelage. Und da wird es kein Staat gerne sehen, wenn die revolutionäre Bewegung in seinem Land die ganze Zeit von außen mit Geldmitteln, mit Öffentlichkeit etc. unterstützt wird. Das heißt, so weh das auch immer tut, sich das einzugestehen, das wird immer ein Drahtseilakt sein zwischen der Abhängigkeit von kapitalistischer Weltwirtschaft und gleichzeitig einem feindlichen Gegenüberstehen zu dieser.

Das heißt, es wird eigentlich wie der gesamte vorangehende Prozess vor dem Bruch ein langwieriger Prozess des Landgewinns sein, des guten Ausspielens der eigenen Karten, mehr Gegenmacht anzusammeln, ohne sich komplett zu verausgaben, ohne alles konstant immer auf’s Spiel zu setzen und mit den wenigen Machtmitteln, die man hat, gegen eine Wand zu rennen, um seinen Einfluss zu vergrößern und diesen Bruch, den man auf der lokalen Ebene geschaffen hat, für die ganze Welt zu schaffen.

Das Verhältnis zwischen Kompromissen und revolutionären Idealen

Natürlich muss es dann auch darum gehen, dass nicht jede revolutionäre Einmischung sofort in einem Krieg eskaliert. Manchmal ist es dann auch notwendig, punktuelle Zugeständnisse zu machen, um gewonnenes Land zu sichern, um nicht von einer kriegerischen Organisation in die nächste zu laufen. Das ist eine ganz breite Diskussion. Das werden wir in der Tiefe hier niemals behandeln können. Es muss im Kern immer darum gehen, an den revolutionären Grundsätzen festzuhalten. Wenn die Wahl ist, diese komplett über den Haufen zu werfen, um dann möglicherweise eine Chance zu haben, nicht von irgendeinem kapitalistischen Staat überrannt zu werden, dann würde ich immer sagen, ja gut, das sind irgendwelche Garantien, die einfach nur so gegeben werden - und das muss ja nichts heißen. Aber wenn man das realistisch einschätzt, die Kräfteverhältnisse, und nicht alles komplett über den Haufen wirft in solchen Verhandlungssituationen, dann kann es manchmal notwendig sein.

Das Erbe der revolutionären Gesellschaft und ihre Ausgangslage bestimmt den strategischen Prozess

Wenn wir das von Außen betrachten, wird deutlich, dass im Gegensatz zum Innen natürlich hier wieder die Rolle, die revolutionäre Gesellschaft spielen kann, einfach sehr stark abhängig ist davon, was für ein militärisches Grundgerüst geerbt wird.

Also nehmen wir jetzt an, es wäre ein Staat wie Costa Rica ohne Armee, dann wird das wahrscheinlich sowieso natürlicherweise sehr begrenzt ablaufen. Wenn es jetzt aber ein Staat wie Frankreich mit einem atomaren Waffenarsenal wäre, wird es vermutlich wieder anders ansehen, wie auch die kriegerische Konfrontation der anderen Staaten anders aussehen wird.

Handel in der Übergangsgesellschaft, auch mit kapitalistischen Staaten

Wir haben auch gerade gesagt: Durch diese Vernetzung in der globalisierten Welt ist man auf Handel angewiesen. Gerade weil Autarkie nicht möglich ist und weil man nicht alles produzieren und abhandeln kann in seinem eigenen Land. Dementsprechend muss man natürlich so gut es geht mit revolutionären Gebieten oder mit freundlich gesinnten Gebieten Handel treiben. Aber vermutlich, je nachdem wie die Situation ist, zum größten Teil mit kapitalistischen Staaten und dementsprechend wird das Erwirtschaften von Devisen dann wieder ein Thema sein, also Vermögen in Auslandswährung, um diesen Handel überhaupt betreiben zu können. Das ist natürlich dann wiederum eine gesellschaftliche Entscheidung, welche Produkte zur Ware werden und auf dem Weltmarkt gehandelt werden.

Das ist erstmal eine total spannende Sache, die man einmal festhalten muss, dass wir dann in einer Gesellschaft leben, in der eben nicht mehr Produkte automatisch zu Waren werden, sondern diese aktiv beispielsweise durch die Schaffung einer Handelsgesellschaft bzw. einem Handelsrat erstmal zu einer Ware gemacht werden müssen. Um dann eben wieder Auslandsvermögen, also Devisen, anzuhäufen, und das dann wieder gegen die anderen benötigten Produkte auf dem Weltmarkt, die dann ebenfalls Waren sind, einzutauschen.

Hinsichtlich dieser ganzen Frage des Handels, waren diese auch Mechanismen des Niedergangs, in diesem Fall autoritär-kommunistischer Übergangsgesellschaften. Nehmen wir die Sowjetunion, nehmen wir verschiedene andere Staaten des Ostblocks, die alle große Probleme damit hatten, dass sie die Bedürfnisse ihrer Bürger nicht befriedigen konnten, dass sie darauf angewiesen waren, Devisen zu erwirtschaften, um mit dem kapitalistischen Ausland Handel zu treiben, d.h. ihre eigenen Produkte zu teilweise furchtbaren Konditionen nach außen abstoßen mussten und wieder zu furchtbaren Konditionen Waren von kapitalistischen Staaten einkaufen mussten.

Das sollte uns zu denken geben, wie schwierig dies auch zu bewältigen sein wird. Vielleicht kann man an diesem Punkt auch mal an alle unsere Hörer, die in der Wirtschaftsbranche oder in der Logistikbranche arbeiten, appellieren und nochmal sagen, wir müssen uns vielmehr mit der Frage des Handels aus einer anarchistischen oder generell aus einer freiheitlich-sozialistischen Perspektive beschäftigen.

Die Verteidigung der Übergangsgesellschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Womit wir uns natürlich auch beschäftigen müssen, um zum letzten Punkt für die Übergangsgesellschaft zu kommen, ist die Verteidigung eben dieser. Diese Verteidigung muss in der gesamten Gesellschaft verankert werden, um überhaupt eine Chance zu haben, gegen die kapitalistische Konkurrenz, oder je nachdem auch faschistische Konkurrenz, zu bestehen. Nicht in dem Sinne von diesem oft beschriebenen Kriegskommunismus, dass diesem jetzt alles komplett untergeordnet ist und man einfach nur noch eine reine Marschgesellschaft bildet, aber es wird wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass viele Teile der Produktion Verteidigungsutensilien produzieren müssen und man auch entsprechend viele Ressourcen darauf verwendet, wie man diese Verteidigung organisiert.

Dies wird über Milizstrukturen laufen, die unter basisdemokratischer Kontrolle stehen. Wir sehen hier keine riesigen Probleme in der Effektivität gegenüber von konventionellen Armeen, weil letztendlich ist es wie in allen Bereichen der Gesellschaft - die Fähigkeiten, militärische Fähigkeiten, Strategien und so weiter, können ja nach wie vor in entsprechenden Milizstrukturen vorhanden sein und dort auch ausgelebt werden.

Und natürlich würden entsprechende Genoss:innen, die dort tiefes Wissen haben, auch in wichtigen Positionen in solchen Milizstrukturen sein. Eine Milizstruktur bedeutet auch, dass es in konkreten Kampfhandlungen klare Befehle und Gehorsam-Ketten gibt. Nur diese Positionen innerhalb der Milizstruktur werden auf der Grundlage von Vertrauen erhoben. Und wenn dann jemand, wenn z.B. irgendein General, Scheiße baut, dann wird er seines Amtes vor der nächsten Schlacht enthoben.

Insofern geht es aber insgesamt darum, eine wehrhafte Kampfgesellschaft zu bilden, die diesen Gedanken von Generation zu Generation weitergibt, um dann der Revolution auf der ganzen Welt den Durchbruch zu verhelfen. Hier kann man auch gucken, dass man auf die vorhandenen Ressourcen, die man sozusagen erobert hat, auch weiterhin zugreift. Das gilt natürlich auch für die Rehabilitierung von Militärstrategen, bei denen man sagen kann, dass sie nicht komplett reaktionär sind und die sich dann auch in den Dienst der Revolution stellen. Aber hier muss man natürlich auch wirklich aufpassen, da gab es ja auch in der Vergangenheit von Revolution echt größere Probleme, wo man eher reaktionären Leuten wieder in Amt und Würden geholfen hat.

Im Angriffsfall muss es immer darum gehen, so wie wir das auch jetzt eigentlich in der Konfrontation zwischen kapitalistischen Staaten oder in Bürgerkriegssituationen usw. vertreten würden, dass man probiert, Verhandlungen zu führen, um möglichst wenig Blutvergießen zu gewährleisten. Wann immer es möglich ist zu verhandeln, sollten wir dies auch tun. Außer wir sind in einer völligen Macht-Dominanz-Situation und stellen fest, okay, wir brauchen das gar nicht.

Es gibt natürlich die Frage, wie führen wir einen Kampf, der über uns gebracht wird? Führen wir einen konventionellen Krieg? Haben wir überhaupt die Möglichkeiten dazu, diesen zu führen? Oder sehen die Chancen da so schlecht aus, dass wir von Anfang an sagen, nein, wir führen eher einen Guerillakrieg und Untergrundkampf gegen so eine einfallende imperialistische Macht? Oder sagen wir direkt, wir können es niemals gewinnen. Wir sind nicht in der Lage, uns gegen eine solche Übermacht zu verteidigen. Ziehen wir uns lieber zurück, da der Blutzoll zu hoch ist. Und probieren dann auch wiederum, unsere revolutionären Kräfte zu erhalten und dann einen neuen Anlauf im Späteren zu wagen.

Zusammenfassung Übergangsgesellschaft

Wir haben nun verstanden, warum wir überhaupt auch als Anarchisten eine Übergangsgesellschaft brauchen, wie divers diese beispielsweise in der Organisation der Produktion oder in der Frage der Verteilung aussehen wird; und wie wichtig es aber auch ist, dass beispielsweise durch einen Revolutionsrat und durch eine Verankerung, durch die Grundstrukturen, die Einheit des Ziels bereitgestellt wird.

Wir haben gesehen, wie das Innen organisiert wird, wie es eine Schaffung von Räten, eine Selbstorganisation in allen gesellschaftlichen Bereichen braucht, wir aber auch Presse- und Redefreiheit haben, zumindest für alle, die, um im Terminus der BRD zu sprechen, nicht gegen die freiheitlich-demokratisch-sozialistische Grundordnung verstoßen. Und natürlich auch, wie wichtig es ist, die reaktionären Bestrebungen im Inneren und Einflussnahme durch das imperialistische Außen zu bekämpfen.

Und zum Schluss haben wir auch noch darüber gesprochen, wie wichtig dieses Außen für unsere lokale Revolution sein wird, wie wir immer verstehen müssen, dass wir eine geopolitische Ausgangslage erben werden, wie zentral Handel und Verteidigung sind und wie wir auch diesen ganzen Prozess hin zu einer Weltrevolution als ein langes Spiel um Landgewinn und Macht verstehen müssen.

Übertage

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Podcast von unseren Autoren Marian und Joshua

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