Vorbemerkung:
der folgende text ist ein Auszug aus dem Buch "FREIHEIT PUR - Die Idee der Anarchie,
Geschichte und Zukunft" von Horst Stowasser aus dem Jahr 1995.
Das Buch fand sich als Medienempfehlung bereits auf der alten anarchismus.de-Seite und ist auch weiterhin eine Empfehlung.
»Wir Frauen tragen schwer unter der Last der Macht, die die Männer seit vielen Generationen der Barbarei auf uns gebracht haben. Der Feminismus ist darauf aus, sich von dieser Last zu befreien und nicht darauf, die Domänen des ›starken Geschlechts‹ zu erobern. Wir wollen uns nicht vermännlichen.«
Soledad Gustavo
Es gibt ein verbindendes Element, das wie Kitt eine Einheit zwischen all den bisher kritisierten Strukturen – Staat, Demokratie, Kommunismus – herzustellen scheint, und das ist der Mann. Besser gesagt: Das ›Prinzip des Männlichen‹. Für viele Anarchisten beiderlei Geschlechts ist es augenfällig und kaum ein Zufall, dass es Männer waren und sind, die autoritäre Strukturen erdachten, durchsetzten und mit ihnen herrschten: Männer setzen Werte und schaffen entsprechende Tatsachen. In der Tat leben wir weltweit in einer Männerherrschaft, dem Patriarchat. Das Patriarchat hat eigene Strukturen, die alle Menschen prägen – Männer und Frauen gleichermaßen. Diese Strukturen sind zäh, vereinnahmend und haben sich in der Menschheitsgeschichte rücksichtslos durchgesetzt. Genau diese Qualitäten spielen in der Patriarchatskritik eine zentrale Rolle: Die männliche Art zu denken, zu handeln und zu herrschen, die fast die Gesamtheit des Lebens beansprucht und auf diese Weise das Geschick der Menschheit bestimmt – und damit unseres Planeten.
An dieser Tatsache ändert sich auch dann nichts, wenn Frauen sich mehr Rechte erkämpen oder ihnen diese ›zugestanden‹ werden; der Rahmen bleibt derselbe. Hat zu Beginn der
Frauenbewegung eine ›Befreiung der Frau‹ im Vordergrund gestanden, die darauf abzielte,
Frauen den Männern rechtlich gleichzustellen und Zugänge zu Wahlrecht, Arbeit und
Bildung zu erstreiten, so ist dieser Ansatz mehr und mehr einer globalen, allumfassenden
Kritik an den männlichen Werten an sich gewichen. Frauen wollten immer weniger so sein
wie die privilegierten Männer, sondern anders. Bei dieser Suche stießen sie folgerichtig auf
weibliche Werte. Auf diese Weise hat die Diskussion um Freiheit und menschenwürdiges
Leben neue Aspekte und Inhalte bekommen, die in den letzten Jahrzehnten zu einer Änderung des Denkansatzes geführt haben – zumindest in jenen Kreisen, die sich überhaupt
kritischen Gedanken aussetzen.
Jahrzehntelang war die Ökonomie das zentrale Thema kritischer Menschen, der Drehund Angelpunkt für die Frage nach sozialer Freiheit. Die Unterdrückung der Frau war
dabei ein sogenannter »Nebenwiderspruch«. Sie würde sich mit gerechteren wirtschaftlichen Verhältnissen, sobald die Frau nur einen angemessenen Platz in der Arbeitswelt
hätte, in Nichts aufösen… Nun kamen plötzlich zornige Frauen daher und wiesen mit
verblüffender Einfachheit darauf hin, dass die praktizierte Ökonomie ja wohl eine reine
›Männerwirtschaft‹ sei, und dass diese Art, wirtschaftend zu unterdrücken, männliche Qualität habe. Gleiches ließe sich unterm Strich über die Ursachen der weltweiten ökologi-
schen Katastrophe sagen, wie über die Art, mit der die (Männer-) Gesellschaft glaubt, ihrer
Herr zu werden. Oder über die sattsam bekannten Formen, auf mannhafte Art und Weise
Konfikte zu lösen… Hierarchie und Kirche, Justiz und Wissenschaft, Politik und Erziehung – all das wurde nun unter dem Aspekt der Patriarchatskritik betrachtet und führte
prompt zu der Erkenntnis, dass es spezifsch männliche Formen und Strukturen seien, die
sich durchgesetzt haben. Es handelt sich dabei übrigens um dieselben Strukturen, die auch
der Anarchismus mit Vorliebe kritisiert.
Es verwundert daher nicht, dass Frauen und feministische Themen von Anfang an in der
anarchistischen Philosophie und Bewegung eine große Rolle gespielt haben: Seit Mary
Wollstonecraft im Jahre 1792 mit Schriften wie Das Unrecht an den Frauen oder Ein Plädoyer für die Rechte der Frau den Reigen dessen eröffnete, was zwei Jahrhunderte später der
»anarchafeministische Diskurs« heißen sollte, ist diese von starken, selbstbewussten und
kämpferischen Frauen getragene Stömung niemals abgerissen. Legendäre Gestalten wie
Louise Michel, Emma Goldman oder Federica Montseny zählen dazu, aber auch eher unbekannt gebliebene Persönlichkeiten wie Voltairine de Cleyre, Soledad Gustavo oder Milly
Wittkop-Rocker. Schon früh entstanden in anarchistischen und syndikalistischen Milieus
spezifsche Frauengruppen und -verbände, die ihre Rechte nicht nur formulierten und einforderten, sondern um Anerkennung und gesellschaftliche Veränderung auch militant zu
kämpfen wussten.
Bei unserer Verfolgung der vielfältigen Stränge aus dem bunten Knäuel anarchistischer
Kämpfe, Ideen und Experimente werden wir solchen Frauen und ihren wegweisenden Beispielen auf den Seiten dieses Buches immer wieder begegnen.
Im historischen Anarchismus gipfelte diese Entwicklung in einigen ungemein populären Bewegungen wie etwa den Mujeres Libres, jener Organisation der »freien Frauen«, die
während der spanischen Revolution von 1936 mehr als 20.000 organisierte Anhängerinnen
zählte. Frauen, die vom machsimo der spanischen Gesellschaft die Nase gestrichen voll
hatten. Hier nahm der Kampf gegen das Patriarchat äußerst konkrete – und bisweilen auch
sehr handfeste – Formen an: angefangen von der Selbstorganisation der Bedürfnisse von
Arbeiterfrauen im tristen Alltag der Industriemetropolen über den Versuch, völlige Gleichberechtigung in juristischer und gesellschaftlicher Hinsicht durchzusetzen, bis hin zum
Kampf mit dem Gewehr in der Hand. Denn in dieser tiefgreifenden Revolution nahmen
sich die Frauen einfach das unerhörte Recht heraus, in den »antifaschistischen Milizen«
mit eigenen Frauenbataillonen gegen die Faschisten zu kämpfen – eine erzreaktionäre und
machttrunkene Allianz eitler und herrschaftsgeiler Männer, die in Spanien gerade einen
Militärputsch angezettelt hatten. Selbst viele glühende männliche Anhänger des anarchistischen Gleichheitsideals bekamen es damals mit der Angst zu tun: Frauen mit Gewehr – ob
das nicht zu weit ginge? Und ob es nicht viel besser wäre, wenn die Genossinnen ihren
Beitrag zum Kampf an der »Heimatfront« verrichteten? In Nähstuben vielleicht, in Kran-
kenhäusern oder Wäschereien.
Die an sich positive Entwicklung der Frauenbewegung im anarchistischen Lager darf
nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass emanzipierte Frauen schon damals ihre
Forderungen nicht nur gegenüber der reaktionär-patriarchalen Gesellschaft durchzusetzen hatten, sondern zunehmend gezwungen waren, sich in ihrem eigenen politischen
Milieu Gehör, Verständnis und Respekt zu verschaffen. Denn zwischen theoretischer
Erkenntnis und praktischer Veränderung klaffte – und klafft – bei vielen anarchistisch
bewegten Männern ein tiefer, dunkler und angstbesetzter Abgrund. Und so mancher mutige, militante und freiheitsliebende spanische Anarchist der dreißiger Jahre dürfte es als
selbstverständlich angesehen haben, dass er Abend für Abend auf anarchistische Meetings,
Streikversammlungen oder in libertäre Debattierclubs gehen konnte, während seine compañera daheim Küche und Kinder zu hüten hatte. Um so angefressener dürfte er reagiert
haben, als ihm ebendiese Lebensgefährtin eines schönen Abends einfach das Baby und den
Wischlappen in die Hand drückte, um ihrerseits kommentarlos auf das Treffen der Mujeres
Libres zu entschwinden…
Ob sich in dieser Hinsicht die Zeiten wirklich so sehr geändert haben, wie manche
behaupten, möchte ich dem Urteil meiner anarchistischen Leserinnen und Leser anheim-
stellen.
Der Kritik an typisch männlichen Werten folgte natürlich die spannende Frage nach der
Qualität typisch weiblicher Werte, was wiederum zahllose weitere Fragen aufwarf, die sich
daraus ableiten. Etwa, ob solche Werte unabänderlich und angeboren oder gesellschaftlich
bedingt und somit veränderbar seien. Sind Frauen die besseren Menschen? Sollen Frauen
gegen die Männer ihren eigenen Weg gehen und Männer ignorieren? Sollen sie statt des
Patriarchats ein Matriarchat anstreben – und was wäre das genau? Oder wäre es womöglich
gescheiter, mit den Männern einen anderen, einen neuen und vielleicht gemeinsamen Weg
zu suchen?
Auch bei Frauen gibt es auf viele Fragen viele Antworten, und so gehen Meinungen und
Überzeugungen in diesen Punkten auseinander. Und zweifellos gibt es auch dogmatische
Fraktionen in der Frauenbewegung, ebenso wie es in ihr phantastische und erschreckende,
kluge und dumme Ansätze gibt, aufgesetzte Attitüden und vergängliche Moden. Gerade
diejenigen Männer, die sich von selbstbewussten Frauen verunsichert fühlen, weisen gerne
und mit Häme auf solche ›Schwachpunkte‹ hin, wobei sie natürlich verschweigen, dass dies
ausnahmslos auf alle Bewegungen zutrifft, einschließlich der anarchistischen. Worte wie
dumm, erschreckend, aufgesetzt und modisch passen ebensogut oder sogar besser auf
Vieles, was die Männergesellschaft an Typischem hervorgebracht hat.
In Wirklichkeit sind die »Feministinnen«, jene Frauen, die sich auf die Suche nach ihrer
Identität begeben und diese mit der Frage der Menschheit verknüpft haben, erst am Beginn
eines langen Weges. Das ist nicht erstaunlich.
Vor allem deshalb, weil all das, was einst an weiblichen Traditionen existiert haben mag,
heute weitestgehend verschüttet ist, um es milde auszudrücken. Auch Geschichtsschrei-
bung und Archäologie, Philosophie und Moral, Anthropologie und Kirche sind bis auf
wenige Ausnahmen männliche Domänen, und Männer haben alles nur Erdenkliche getan, um jene Bereiche, in denen einstmals Frauen die Gesellschaft prägten, zu verschleiern. Ma-
triarchale Tradition und die mit ihr verbundenen Erfahrungen müssen heute – unabhängig
von der Frage, ob das nun alles gut war oder nicht – erst einmal mühsam rekonstruiert
und erforscht werden: vom mystischen Kultus der einstigen Weltengöttin Gaia über die
großen, viele tausend Jahre zurückliegenden matriarchalen Kulturen Kleinasiens) bis hin
zur ausgerotteten Welt der letzten ›wissenden Frauen‹, die man vor noch nicht allzulanger
Zeit in einem perfekt organisierten Femizid als ›Hexen‹ verbrannte. Dabei fördert die unermüdliche Frauen- und Matriarchatsforschung ständig neue archäologische Artefakte und
faszinierende Erkenntnisse zu Tage – Bruchstücke, die zu Zeugen einer untergegangenen
Kultur werden, die so anders war als unsere.
Mit Erstaunen entdecken wir, dass ›die Zivilisation‹ weder in den mesopotamischen
Stadtstaaten noch in der klassischen Antike begann, und dass es vor dem Patriarchat auch
schon ein hochentwickeltes gesellschaftliches Leben gab… In ihm waren überwiegend
Frauen tonangebend, und nach allem was wir wissen, scheint es da durchaus humaner und
sehr viel weniger hierarchisch zugegangen zu sein als bei allem, was folgte. Dieses Mosaik
verschiedener Gesellschaften, in denen nicht ›der Mann‹ die Macht besaß, wird heute unter
dem Begriff Matriarchat zusammengefasst.
Nun bestehen natürlich viele Anarchisten darauf, dass sie ein Matri-archat ebensowenig
wünschten wie Patri-archat; was sie wollten, sei ein An-archat: Niemand solle herrschen,
auch keine Frauen – selbst, wenn sie es ›besser‹ könnten!
Das mag richtig sein, aber in diesem Sinne aber wird das frühgeschichtliche »Matriarchat« von den meisten Feministinnen gar nicht verstanden, ebensowenig wie die zahlreichen späteren Beispiele weiblich geprägter Kulturen, Traditionen und Bewegungen,
die überall auf der Welt bestanden uns bis heute bestehen. Hinzu kommt, dass der einst
von der Wissenschaft gewählte Begriff »Matriarchat« im Grunde genommen ein äußerst
unglücklicher Missgriff war – zumindestens in Bezug auf die archaischen ›egalitären Kulturen‹ Kleinasiens ist er jedenfalls völlig unpassend. Denn da ging es überhaupt nicht um
›Herrschaft‹ in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen. So etwas hat es in jenen weit zurückliegenden Epochen der Menschheit allem Anschein nach überhaupt nicht gegeben, und die
Leute hätten über die Idee einer Frauen-Herrschaft vermutlich verständnislos gelacht.
Im Grunde umschreiben wir hier etwas, was wir nicht verstehen (weil wir es nicht kennen), recht hilfos mit unzureichenden Worten aus unserer partriarchal-hierarchischen
Welt. Das griechische Stammwort arché lässt sich in unseren Wertekategorien kaum
anders als mit Herrschaft ›übersetzen‹ und ist schon deshalb ein problematischer Begriff,
denn sein Wortstamm ist bedeutend komplexer und vieldeutiger; nur kennt unsere Sprache
dafür keinen passenden Begriff – wir werden auf dieses Problem noch zurückkommen.
Wie dem auch sei – die Angst, dass der Feminismus an Stelle des Patriarchats eine Art
»Weiberherrschaft« inthronisieren wolle, entspringt eher der Welt diffuser Männerängste
als der Realität. Weibliche Machtphantasien solcher Art werden höchstens in den Winkeln
etwas überspannter feministischer Randgruppen gepfegt. Der Frauenbewegung unserer
Tage, insbesondere den Anarcha-Feministinnen, die das Thema ›Frau‹ mit dem der ›Freiheit‹ zu einem eigenen politischen Diskurs verknüpft haben, geht es nicht um die Inthronisierung von Maggie Thatcher oder Angela Merkel. Sie betrachten all diese geschichtlichen
Erkenntnisse inzwischen eher als eine Quelle der Inspiration und Kritik, als Trümmerfeld
verschütteter femininer Tugenden, von denen wir einige heute vielleicht bitter nötig hätten.
Die Kritik am Patriarchat ist deshalb mehr als nur ein ›interessanter Aspekt‹ oder eine ›anregende Bereicherung‹ des anarchistischen Standpunktes. Sie ist radikal und global; dass
sie dabei bisweilen auch einseitig sein muss, ist klar – aber das muss eine psychologische
oder ökonomische Kritik der bestehenden Zustände ebenso wie eine ökologische oder
ethische. ›Einseitig‹ ist schließlich auch der Anarchismus selbst, aber bisweilen gibt es
nichts, was Zusammenhänge klarer macht, als eine gewisse Einseitigkeit. So wie der Blick
durch eine Lupe oder ein Mikroskop. Der feministische Blick auf die Welt ist fraglos ein
leistungsfähiges Mikroskop. Mit seinen Bildern können wir im unverkrampften Diskurs
um die großen Fragen der Freiheit nicht alles, aber einiges sehr treffend interpretieren, was
bislang mit Erfolg verdrängt wurde.
Wohlverstandene Patriarchatskritik sollte deshalb keine ›Frauensache‹ sein, ist es aber
ganz überwiegend. Das wird wohl auch so bleiben, solange Männer nicht begreifen, dass
›spezifsch weibliche‹ Werte und Sichtweisen für sie nicht unbedingt eine Bedrohung sind,
sondern auch eine Bereicherung sein können – wenn nicht gar eine Hoffnung.