Was ist Anarchismus?


David R.
Anarchismus Theorie

Vorbemerkung vom anarchismus.de Kollektiv: Dieser Text von Aktion & Alltag liefert auch für unsere Webseite ein tieferes Verständnis von unserem Anarchismus Begriff. Der Text ist sehr lang und wird in der Zukunft wahrscheinlich noch als Broschüre erscheinen. Mit der Veröffentlichung des Textes startet auch das YouTube Projekt von unserem Genossen David. Schaut also unbedingt auch auf seinem YouTube Kanal vorbei, dort findet ihr passende Videos zu dem Thema des nun folgenden Textes. Viel Spaß beim lesen und schauen!

Ich möchte mit der Definition beginnen, die mir am häufigsten entgegengebracht wird:

1) Anarchismus ist Ablehnung von Herrschaft und Hierarchie

Das sagt die Wikipedia so in der Art und das sagen auch viele Anarchist:innen. Und es steckt sogar schon im Wort. Diese Definition ist also naheliegend, allerdings auch relativ beliebig. Es ist quasi einfach eine Verallgemeinerung der ursprünglichen Bedeutung des Wortes "Anarchie" als Abwesenheit eines Herrschers bzw Abwesenheit einer staatlichen ordnenden Institution. Die Definition hat mehrere Probleme:

Provokant gefragt: Was soll denn dann eigentlich der Unterschied zum Kommunismus sein? Denn auch kommunistische Utopien gehen doch im Allgemeinen von einem Endzustand aus, in dem es keinen Staat gibt und alle frei und gleich sind. Und auch Marxist:innen können häufig eine sehr ausführliche Analyse von Staat, Herrschaft, Organisationsformen anbieten.

Begriffe wie Herrschaft und Hierarchie sind recht abstrakt und es gibt sehr unterschiedliche Auslegungen. Für manche ist jegliche Art von verbindlicher Organisation und Delegation, Abstimmungen zur Entscheidungsfindung, kollektive Identität, etc. bereits Herrschaft. Dieses Bild prägt heutzutage in Deutschland die anarchistische "Bewegung". Damit wäre aber 99% der historischen anarchistischen Bewegung überhaupt nicht anarchistisch.

Ein wichtiger Punkt wird ignoriert: Dass der Anarchismus nie einfach nur gegen Herrschaft und Hierarchie war, sondern als eine Strömung des Sozialismus entstanden ist und seine Blüte erlebt hat. Das heißt, die Hauptfrage, die sich der Anarchismus gestellt hat, war die soziale Frage. Die Frage nach den materiellen Verhältnissen und nach der Überwindung des Kapitalismus.

Proudhon, der als einflussreicher Vorläufer des Anarchismus angesehen wird, war in erster Linie Sozialist. In seinem Buch “Was ist das Eigentum?” von 1840 bezieht er sich mit der Selbstbezeichnung “Ich bin Anarchist” zwar auf die Anarchie als “Regierungsform”, in der es keinen Herrscher gibt. Aber bereits er behandelt hier vornehmlich die soziale Frage.

Eine richtige Bewegung, die sich selbst als anarchistisch bezeichnete, hat sich aber erst später entwickelt, maßgeblich durch die Abgrenzung vom autoritären Sozialismus in den 1860er Jahren während der Zeit der Ersten Internationale. Die anarchistische Bewegung war also der antiautoritäre Teil der sozialistischen Arbeiterbewegung des 19ten Jahrhunderts und die endgültige Geburt dieser Bewegung der Konflikt zwischen Autoritären und Antiautoritären in der ersten Internationale.

Die Definition des Anarchismus ausschließlich auf Grundlage der Ablehnung von Herrschaft und Hierarchien ist also sowohl zu eng: Ein Großteil der historischen anarchistischen Bewegung würde nicht dazu zählen. Als auch zu weit: Es fällt ganz schön viel darunter, was keinen Bezug zum Anarchismus hat, man kennt ja diese Aufzählungen von Anarchismus aus der Vorgeschichte über die Antike und das Mittelalter, etc. als es den Begriff Anarchismus noch nicht mal gab, geschweige denn eine anarchistische Theorie, auf die man sich beziehen hätte können. Es könnte außerdem viel dazu gezählt werden, was für die anarchistische Bewegung keine Relevanz hat(te) (Individualanarchismus) oder deren Idealen entgegengesetzt ist (Anarchokapitalismus).

Problematisch ist an dieser relativ offenen Definition auch die mangelnde Tauglichkeit als Bezugspunkt. Anarchismus wird dargestellt als eine reine Idee, eine leere Hülle, ein Begriff, der nur auf seine Wortbestandteile reduziert wird. Manchmal wird das noch ergänzt um "grundlegende Werte", die die meisten Anarchist:innen teilen. Oder gewisse Dinge werden aus der Herrschaftslosigkeit/-feindlichkeit irgendwie umständlich abgeleitet. Zum Beispiel die Ablehnung des Kapitalismus, weil dieser ja auch Herrschaft sei. Beides erscheint irgendwie krampfhaft und lässt an der Definition an sich zweifeln.

Der Begriff bietet so also keine gemeinsame Theorie, Ideengeschichte, Bewegungsgeschichte. Keine gemeinsame Identität. Keine Möglichkeit zu sagen: "Ich bin Anarchist und damit ist eigentlich schon das wichtigste über meine politischen Überzeugungen und mein Weltbild gesagt.", keine Möglichkeit zu sagen "Dieses Projekt ist anarchistisch und damit ist seine Ausrichtung und sein Kontext bereits ganz gut umrissen.". Der Begriff bietet keine Möglichkeit einer Kollektivität im Sinne eines gemeinsamen Kampfes und damit auch keine Möglichkeit überhaupt wieder zu so etwas wie einer anarchistischen Bewegung zu kommen. Ich glaube, dass ein solcher Bezugspunkt für eine Bewegung und einen gemeinsamen Kampf aber nötig ist. Um auf den Punkt zu bringen, worum es im Kern geht.

2) Anarchismus ist der antiautoritäre Flügel des Sozialismus

In Abgrenzung zu dieser Definition wird im Buch "Schwarze Flamme" argumentiert, dass wie oben geschrieben erst in den 1860ern von einer Bewegung gesprochen werden kann, die sich selbst als anarchistisch bezeichnet und dass diese als der antiautoritäre Flügel der sozialistischen Bewegung verstanden werden muss.

Sie zählen dann zur Broad Anarchist Tradition auch sozialistische Strömungen, die sich selbst nicht als anarchistisch verstehen und sind in dieser Richtung vielleicht auch wieder etwas zu inklusiv. Der Fokus ist sehr stark auf der Gewerkschaftsbewegung und dem Syndikalismus, die - so argumentieren sie - zahlenmäßig immer der einzig bedeutsame Teil der anarchistischen Bewegung war.

Dabei werden die Ablehnung von Herrschaft und Hierarchien als Grundpfeiler des Anarchismus natürlich nicht verworfen. Es wird lediglich argumentiert, dass diese nicht als abstrakte Begriffe taugen, sondern mit Bezugnahme auf den historischen Anarchismus konkretisiert werden müssen. Außerdem, dass Ablehnung von Herrschaft und Hierarchien nur ein Teilaspekt des Anarchismus war. Dieser Aspekt war namensgebend und hat den Anarchismus von autoritären Teilen der sozialistischen Bewegung abgegrenzt, aber er war nicht allein konstituierend.

Die Richtung, die hier eingeschlagen wird, ist in vielerlei Hinsicht sinnvoller, da sie die oben genannten Probleme aus dem Weg räumt. Wir haben plötzlich eine klare Definition davon, was Anarchismus ist und was nicht. Keine Beliebigkeit mehr. Eine klare begriffliche Abgrenzung zum Kommunismus, die sowohl der Nähe von Anarchismus und Kommunismus Rechnung trägt, als auch den Anarchismus von einigen ...-Anarchismen abgrenzt, die eigentlich nichts mit dem Anarchismus zu tun haben. Sie ist nicht so abstrakt und nimmt den Fokus weg von Oberflächlichkeiten, die heutzutage oft unter Anarchist:innen diskutiert werden, hin zu dem Kern, worum es im Anarchismus eigentlich ging und geht.

Man muss sehen, dass dieser Begriff des Anarchismus auch immer die Bezeichnung einer Bewegung und einer kollektiven Identität ist. Andere sozialistische Strömungen, die sich nicht auf den Anarchismus berufen und diesem auch nicht zuzuordnen sind, sind diesem deshalb möglicherweise inhaltlich sehr nah. Man denke an den Rätekommunismus. Eine Abgrenzung rein aufgrund vom Inhalt ist kaum möglich. Genauso wie bei der ersten Definition bleibt also die Schwierigkeit erhalten, dass inhaltliche Unterschiede zwischen Anarchist:innen teilweise größer sind als zu anderen Denkrichtungen. Allerdings in erheblich geringerem Maße als bei der ersten Definition, da der Anarchismus jetzt wesentlich stärker inhaltlich eingegrenzt ist.

Die stärkere inhaltliche Schärfe dieser Definition macht es auch einfacher, Gemeinsamkeiten zu Personen, Projekten und Organisationen zu fassen, die sich selbst nicht dem Anarchismus zuordnen. Also natürliche Bündnispartner:innen zu finden, ohne den eigenen Bezug zur anarchistischen Bewegungsgeschichte und Theorie zu verlieren.

Um herauszustellen, wen man als natürliche Verbündete in einem gemeinsamen Kampf sieht, lohnt es sich also sowohl innerhalb als auch außerhalb der anarchistischen Bewegung sowohl nach dem gemeinsamen Ziel zu fragen, als auch nach den eingesetzten Mitteln.

(Anmerkung: Die Frage nach pragmatischen Zweckbündnissen mit Personen und Organisationen, die uns inhaltlich nicht nahestehen, ist eine andere und soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Generell braucht es diese taktischen Bündnisse, wenn es darum geht, gesamtgesellschaftlich Einfluss zu nehmen anstatt im Elfenbeinturm zu versauern. Konkreter soll darauf aber an anderer Stelle eingegangen werden. Hier geht es zunächst um natürliche Verbündete, die mit uns generell bis auf Detailfragen an einem Strang ziehen, und auf die wir uns auch als Teil einer breiteren Bewegung positiv beziehen möchten.)

Was ist das gemeinsame Ziel überhaupt?

Ist es die politisch korrekte "Lass uns mal jetzt erstmal drei Stunden diskutieren, wer hier Herrschaft über wen ausgeübt hat?"-Dystopie? Oder ist es die freie, klassenlose Gesellschaft, in der es weder Kapitalismus, noch Patriarchat noch einen übergeordneten Herrschaftsapparat wie den Staat gibt? In der aber auch nicht Friede-Freude-Eierkuchen ist. In der zwischenmenschliche Beziehungen durch unterschiedliche Rollen, durch Hierarchien, durch Konflikte geprägt sind, über die wir uns auch dann noch Gedanken machen müssen, die aber wesentlich weniger verheerende Auswirkungen hätten? Ich würde ja für so eine meiner Meinung nach "realistische Utopie" argumentieren und ich glaube, dass auch das historisch gesehen der Tenor unter Anarchist:innen war. Trotzdem gab es auch im Anarchismus unterschiedliche Ansichten über das Ziel im Detail. Nur als Randnotiz seien hier kollektivistischer Anarchismus und Anarchokommunismus genannt.

Wo sind die eingesetzten Mittel zumindest nicht kontraproduktiv?

ZB ist der Parlamentarismus wohl eher als kontraproduktiv zu sehen, genauso wie die Ideen von einer Diktatur in einer Übergangsphase. Auch der Insurrektionalismus als dediziert anarchistische Strömungen ist meiner Meinung nach kontraproduktiv. Andererseits gibt es verschiedene anarchistische Strategien (von Siedlungsgenossenschaften über Plattformismus, Especifismo, Beteiligung in sozialen Bewegungen, Syndikalismus, Projektanarchismus), die sehr unterschiedlich sind und wo die Vertreter sich vielleicht gegenseitig vorwerfen, dass die jeweils andere Strategie zu nichts führt, aber nichts davon dem eigentlichen gemeinsamen Ziel schadet, sondern im schlimmsten Fall einen nicht weiterbringt.

Wenn man also diesen Rahmen steckt bezüglich gemeinsamen Ziel und dem Weg dahin, um einen Bezugspunkt zu haben, was man solidarisch unterstützt und als Teil des eigenen Kampfes begreift, kommt man wieder zu dem Schluss, dass auch andere als nur anarchistische Projekte dazugehören. Insbesondere wieder aus dem kommunistischen bzw. marxistischen Bereich.

Auf der anderen Seite muss zumindest unterschieden werden zwischen dem Insurrektionalismus einerseits und dem “Massenanarchismus” (Begriff aus Schwarze Flamme übernommen) andererseits. Wobei ersterer zwar Teil der anarchistischen Bewegung ist, aber als historisch gescheitert betrachtet werden kann. Während der Massenanarchismus auf die Organisation der Massen und ein Wirken in alltäglichen sozialen Kämpfen (wie zum Beispiel in Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen) setzt, lehnt letzterer sowohl Massenorganisationen als auch Reformen als hinderlich ab und propagiert stattdessen den “permanenten Aufstand”. Die Strategie des Insurrektionalismus als romantisch verklärter gelebter Aufstand ohne Bezug zu den Kämpfen der Massen kann heute nicht mehr als positiver Bezugspunkt dienen, wenn es um eine Transformation der Gesellschaft als Ganzes gehen soll.

Wozu nutzt der Begriff Anarchismus aber dann eigentlich? Und was beschreibt er? Historisch gesehen eine Strömung des Sozialismus, die sehr breit den antiautoriären Teil der sozialistischen Bewegung gefasst hat. Später aber nur noch eine von mehreren antiautoritären sozialistischen Strömungen, die sowohl Probleme hat, sich inhaltlich nach außen abzugrenzen als auch intern einen sinnvollen gemeinsamen Nenner zu finden.

3) Der Anarchismus ist tot, es lebe der Anarchismus!

Man könnte argumentieren, mit dem Niedergang der anarchistischen Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert ist auch die Berechtigung des Labels "Anarchismus" verlorengegangen. Denn der Anarchismus ist weltweit zahlenmäßig brutal zusammengeschrumpft. Zermalmt zwischen Faschismus, autoritärem Sozialismus und Kapitalismus. In vielen Ländern gibt es wie in Deutschland keine Kontinuität. Der Anarchismus musste komplett neu belebt werden. Der Austausch zu alten Genoss:innen war eher gering. Es sieht so aus, als sei der Anarchismus erst im Zuge der 68er wiederentdeckt worden. Allerdings mehr als Projektionsfläche von allerlei antiautoritär eingestellten Linken verschiedenster Coleur. Ein bisschen Marxismus hier, ein bisschen Individualismus und neoliberale Ideologie dort, ein Hauch von Antiparlamentarismus und eine Prise Vorurteile, die in den Jahrzehnten zuvor vom politischen Gegner geschürt wurden.

Das prägt bis heute die anarchistische "Bewegung", die eigentlich keine ist. Und das prägt auch das Verständnis davon, was Anarchismus ist und was nicht: Beliebigkeit und eine nur bruchstückhafte Bezugnahme auf eine gemeinsame Geschichte von Theorie und Praxis.

Ist der Begriff also nur noch zur Beschreibung von historischen Vorgängen sinnvoll statt als Selbstbezeichnung? Soll sich halt so nennen, wer auch immer denkt, er oder sie sei Anarchist:in? Die Frage ist durchaus zu stellen. Denn sich selbst oder eigene Projekte als anarchistisch zu bezeichnen bedeutet weder, dass damit klar ist, was gemeint ist. Noch startet man auf einer grünen Wiese. Als Anarchist habe ich immer wieder den Eindruck, dass die meisten, die sich selbst als Anarchist:innen bezeichnen, etwas ganz anderes damit meinen als damit ursprünglich gemeint war. Dieses Verhältnis war vor hundert oder hundertfünfzig Jahren wohl anders. Da waren es eher vereinzelte Exoten, die es als notwendig gesehen haben, philosophische Diskussionen darüber zu führen, ob Kapitalismus denn nun Herrschaft ist oder ob Mehrheitsabstimmungen denn noch anarchistisch sind. Heutzutage sind diejenigen die Exoten, die sich inhaltlich eher am klassischen Anarchismus orientieren.

Es gibt aber durchaus auch gute Gründe am Begriff des Anarchismus festzuhalten. Zum Ersten hat der Begriff immer noch eine starke Anziehungskraft. Viele junge Aktivist:innen, die sich irgendwie vom autoritären Sozialismus abgrenzen wollen, und denen es wichtig ist auf die Integrationskraft des Parlamentarismus hinzuweisen, die auf Selbstorganisation und Emanzipation der Massen setzen statt auf hierarchische Organisation und Stellvertreterpolitik, landen früher oder später beim Anarchismus. Dieses Potential sollte nicht vertan, sondern gefördert werden.

Problematisch ist hieran nur, dass sie dann oft erstmal mit vom Liberalismus geprägten individualistischen Ideen von Anarchismus konfrontiert werden und doch wieder abstrakte intellektuelle Diskussionen über Herrschaft und Hierarchie ertragen müssen. (Bzw. wie in meinem Fall diese Diskussionen auch selbst einige Jahre voller Inbrunst führen.) Nur wer dabei nicht die Lust verliert und irgendwann zufällig mit den richtigen Texten, Leuten oder Organisationen in Kontakt kommt, kann sein Potential im Kampf für eine bessere Welt wirklich effizient entfalten. Man muss aber dagegenhalten, dass das kein rein anarchistisches Problem ist, sondern allgemein ein Problem unter Linken, zumindest in Deutschland. Vielleicht ist es in einer Gesellschaft auch kaum anders möglich, in der unsere Ideen keine Verankerung in der breiten Gesellschaft haben und überwiegend vom radikalen Teil eines linksliberalen Bildungsbürgertums getragen werden, und die so stark von der kapitalistischen Ideologie durchzogen ist.

Nichts desto trotz kann man - sowohl in Deutschland als auch international - ein Erstarken der Bewegung festmachen. Eine stärkere und vor allem sichtbarere Präsenz von Anarchist:innen in sozialen Bewegungen, eine Zunahme von anarchistischen Organisationen und Projekten und eine stärkere Bezugnahme auf den klassischen Anarchismus sprechen dafür.

Der Begriff des Anarchismus als Selbstbezeichnung und Bezugspunkt hat also durchaus Probleme, aber auch Vorteile. In der ersten vorgestellten Definition ausschließlich als Ablehnung von Herrschaft und Hierarchie, die leider auch die gängige Definition ist, hat er meiner Meinung nach fast gar keine Tauglichkeit und wird auch der historischen Realität nicht gerecht. In der zweiten vorgestellten Definition als Bewegung, die als antiautoritärer Teil der sozialistischen Bewegung entstanden ist, kann der Anarchismus allerdings ein wichtiger Bezugspunkt sein und bietet einen reichen Fundus an Theorie und Praxis. An diese Tradition anzuknüpfen halte ich deshalb für sinnvoll.

Dabei darf der Begriff des Anarchismus allerdings nicht zum neuen Dogma werden. Die anarchistische Bewegung, Theorie und Praxis darf nicht glorifiziert und idealisiert werden. Wenn wir den Begriff des Anarchismus als Selbstbezeichnung, Bezugspunkt, sogar als kollektive Identität und politische Heimat übernehmen möchten, darf dabei auch weder eine kritische Reflektion des Anarchismus fehlen (Stichwort Insurrektionalismus), noch ein Blick über den Tellerrand hinaus (Stichwort Rätekommunismus).

4) Alternative Begrifflichkeiten

Je nach Kontext ist eine Präzisierung und Konkretisierung des Begriffes Anarchismus weiterhin nötig. Manchmal ist es auch sinnvoller, den Begriff ganz wegzulassen oder durch andere Begriffe zu ersetzen. Beispiele, was ich damit meine:

Heutzutage wird oft von Sozial- oder Klassenkampf-Anarchismus gesprochen, um sich vom “Individualanarchismus” abzugrenzen. Das ist nach der Definition von Anarchismus, auf die ich mich beziehen will, ein Pleonasmus: Es gibt keinen Anarchismus, der nicht sozialistisch oder klassenkämpferisch wäre. Trotzdem macht es manchmal Sinn, diese Begriffe zu verwenden, um klar zu machen, was wir meinen.

Auch der Begriff des Anarchokommunismus wird wieder häufiger verwendet, um sich in diese Richtung abzugrenzen. Genaugenommen war dieser Begriff aber eine Abgrenzung in Richtung des kollektivistischen Anarchismus: Statt nur die Produktionsmittel zu kollektivieren und eine Art Einheitslohn zu zahlen, sollten alle nach ihren Fähigkeiten beitragen und nach ihren Bedürfnissen teilhaben. Da der Anarchokommunismus als Weiterentwicklung des kollektivistischen Anarchismus gesehen werden kann, der diesen de facto verdrängt hat, spricht allerdings nichts dagegen, den Begriff des Anarchokommunismus in ähnlicher Weise wie Sozial- oder Klassenkampf-Anarchismus zu verwenden.

Insbesondere von der Organisation “die plattform” wird stattdessen der Begriff Anarchakommunismus (also mit a statt o in der Mitte) verwendet, um eine stärkere Bezugnahme auf den Anarchafeminismus sichtbar zu machen. Damit wird betont, dass auch ein klassenkämpferischer, sozialistischer, kommunistischer Anarchismus sich nicht ausschließlich auf antikapitalistische Kämpfe beschränkt. Zwar können Kapitalismus und Patriarchat nicht einfach als äquivalente Ausdrucksformen von Herrschaft nebeneinander gestellt werden, sondern sowohl ihre Einzigartigkeit als auch ihre Wechselwirkungen müssen untersucht und benannt werden. Aber die Schlussfolgerung daraus ist an dieser Stelle, dass beides gemeinsam bekämpft und überwunden werden muss.

In der zahlenmäßig größten Strömung des Anarchismus, dem Anarchosyndikalismus, wird bisweilen auf das “Anarcho-” in der Selbstbezeichnung verzichtet. Man legt den Fokus auf die Praxis und lässt die Schwierigkeiten, die ich hier bespreche, scheinbar einfach hinter sich. Auch das kann manchmal sinnvoll sein. Unterm Strich würde ich aber wie gesagt dafür argumentieren, den Bezug zum Anarchismus nicht aufzugeben. Die Begriffe “Anarchosyndikalismus”, “Syndikalismus” und “revolutionärer Syndikalismus” werden in der Praxis beinahe deckungsgleich verwendet und der Syndikalismus ist auch historisch als Teil der anarchistischen Bewegung entstanden.

Häufig macht es tatsächlich weiterhin Sinn, den Begriff des Anarchismus nicht einfach für sich stehen zu lassen, sondern konkret zu erläutern, worum es geht: Antikapitalismus, Föderalismus statt Zentralismus, Selbstorganisation und Basisdemokratie statt Parlamentarismus und hierarchischer Organisation, Freiheit des Individuums durch die Freiheit aller statt eines liberalen individualistischen Freiheitsbegriffes, etc.

Weniger hilfreich scheint es zu sein, den Begriff einfach durch andere Begriffe ersetzen zu wollen, zum Beispiel “libertär”. Bzw. das kann man schon machen, aber es löst die Probleme des Begriffes “anarchistisch” nicht.

5) Schlusswort

Ich möchte nochmal zusammenfassen, dass ich erstens die gängige Verwendung und Definition des Begriffes Anarchismus teilweise für problematisch halte und stattdessen für eine mehr an der historischen Realität angelehnte Verwendung des Begriffes plädieren möchte.

Zweitens, dass ich dann aber “Anarchismus” als Selbstbezeichnung und Bezugspunkt für den Aufbau einer Bewegung durchaus für sinnvoll halte.

Drittens, dass der Anarchismus trotzdem innerhalb dieser Bewegung kritisch reflektiert werden sollte und auch ein Blick über den Tellerrand nötig ist.

Und viertens, dass je nach Situation auch andere Begriffe oder eine ergänzende Konkretisierung sinnvoll sind.

David R.

David kam als Jugendlicher das erste Mal mit anarchistischen Ideen in Berührung und ist seit 2014 in der Freien Arbeiter:innen-Union aktiv. Er lebt seit einigen Jahren in Koblenz und war Ende 2018 an der Neugründung der FAU Koblenz beteiligt.

Er interessiert sich für antiautoritäre klassenkämpferische Theorie und Praxis. Neben seinem Engagement für die FAU betreibt er die Instagram- und Youtube-Präsenz "aktion & alltag", wo er unregelmäßig verschiedene anarchistische Inhalte mit einem lokalen Schwerpunkt auf Koblenz postet.

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