Notizen zur Literatur - zwei Buchbesprechungen


Stella Anarris
Rezension Anarchismus Theorie Lucy Parson Antje Schrupp Jacqueline Jones

Buchempfehlung: Antje Schrupp: „Reproduktive Freiheit“, 2022, Unrast Verlag

Im deutschsprachigen Raum gibt es wenig Literatur zum Thema Anarchafeminismus. Auf der anderen Seite ist das Interesse an feministischen Themen in libertären Kreisen sehr populär. Gängige Praxis ist es, sich unterschiedlichen feministische Theorien anzueignen und diese zu integrieren. Antje Schrupp als bekennende Anarchistin erwähnt in Ihrem Buch zwar an keiner Stelle das Wort Anarchie, knüpft aber an alte Traditionen z.B. des syndikalistischen Frauenbundes oder Emma Goldmann an, in sexualaufklärerischer Weise (damals ging es vornehmlich um Verhütung, Geschlechtskrankheiten sowie Abtreibung,) um über den aktuellen Stand medizinischer Reproduktion zu schreiben. Aus libertärer Sicht untersucht sie, entgegen gängiger Narrative, das Thema Reproduktion aus einer freiheitlichen Perspektive und wie diese in einer herrschaftsfreien Gesellschaft gedacht werden kann. Obwohl sie sich als Differenzfeministin verortet, stellt sie auch queeranarchistische Positionen mit der Infragestellung heteronormativen Geschlechterordnungen dar. Mit sehr aktuellem Bezug zu den Abtreibungsverboten in den USA und der erstarkten neuen Rechten, analysiert sie deren frauenfeindliche auf „natürliche Ordnungen“ basierende Argumentationsmuster.

Das „kleine Büchlein“, so wie Antje Schrupp ihr Werk „Reproduktive Freiheit“ benennt, ist ein Nachfolger des Essays „Schwanger werden können“, das 2019 im Helmer Verlag erschienen ist. Folgende acht Kapitel unterteilt sie:

Narrative und symbolische Ordnung: Natur muss erzählt werden Varianten der Menschheit. Zur Biologie der Reproduktion Die Erfindung der Geschlechterdifferenz und die Entstehung des Patriarchats Eine gewisse Opferbereitschaft, der § 218 und seine Geschichte Reproduktive Gerechtigkeit, und was in der Debatte fehlt In-vitro-Fertilisation. Was sich dadurch geändert hat und was nicht Geburt als Übergang, vielfältige Formen der Elternschaft Ausblick: Stichpunkte für eine neue Ethik der Reproduktion

Durch die aktuell hohe Lebenserwartung und den im Vergleich zu vor hundert Jahren wenigeren Schwangerschaften, ist die Phase eines potentiellen „Schwanger-werden-Könnens“ nur ein kleiner Lebensabschnitt in der heutigen Identitätsentwicklung von als weiblich zugewiesenen Personen/Frauen. Die Bedeutung hat sich verändert und modifiziert sich ebenfalls durch die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin.

Die Zuschreibungen „Frau sein“, „Mann sein“, die nach der Geburt durch die Genitalien definiert wird und eine potentielle Schwangerschaft, bzw. keine potentielle Schwangerschaft ausdrückt, wird durch die heutigen emanzipatorischen Bewegungen (LGBTIQ, queerfeministisch/ anarchistisch u.a.) in Frage gestellt. Dem heteronormativen Narrativ der Familiengründung, werden zudem andere Formen von Elternschaften und Familie hinzugefügt.

Der Zustand „Schwangerschaft“ „zwei in eins“, löst das überkommende individuelle Sein und die Bedingungen der Freiheit auf. Eine Kränkung und Widerspruch im Sinne egalitärer Ideen, da Freiheiten und Lebensrisiken ungleich verteilt sind. Aus Sicht von Antje Schrupp sind diese Ungleichverteilungen aus soziologisch-philosophischer Perspektive im Sinne von Gerechtigkeitsdebatten noch nicht abschließend ausdiskutiert. Schwangerschaft impliziert Verantwortung, was auch die medizinische Möglichkeit der Abtreibung mit einschließt, die sie uneingeschränkt bejaht.

Schwanger werden ist im Kapitalismus nach Schrupp nicht eigens vorgesehen, ergänzend dazu werden durch materielle Ausstattungen, Lebenschancen sowie Freiheiten, im Positiven wie im Negativen, vorab stark determiniert. Privilegierung versus Armut. Sehr deutlich skandiert Schrupp die Ausbeutungsverhältnisse bei Leihmüttern, Eizellen-verkäuferinnen und anderen Schieflagen. Hierbei stellt sie einen Zusammenhang mit der Wucht der erstarkten neuen Rechten und der aggressiven „Lebensschützer“ vor dem Hintergrund des neuen Abtreibungsverbots in den USA her.

Fazit: Ein aktueller anarchafeministischer Diskussionsbeitrag

Jacqueline Jones: „Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parson.“Aus dem Englischen von Felix Kurz. 2023, Edition Nautilus

Lucy Parson (1851-1942) ist im deutschsprachigen Raum im Vergleich zu Emma Goldmann weniger bekannt, war aber zu Lebzeiten in den Vereinigten Staaten sehr populär wie berühmt und hat sich über ihre politischen Redetourneen und Agitationsveranstaltungen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Als Witwe des im bekannten Haymarket-Prozesses von 1886 unschuldig zum Tode verurteilten Albert Parsons, wurde dieses Ereignis zu einem wesentlichen Dreh – und Angelpunkt ihrer politischen Identität und Erinnerungskultur, die sie bis zu ihrem Tode über die Spannweite ihres langen Lebens aufrecht erhielt. 1905 begründete sie die IWW (Industrial Workers of the World) mit und konzentrierte sich als bekennende Anarchakommunistin in ihrem politischen Kampf auf die Klassenfrage und die Abschaffung von Staat und Kapitalismus.

Hierbei bezog sie Obdachlose, Prostituierte und Wanderarbeiter:innen (die Tramps) mit ein. Feminismus verstand sie als Teil des Kampfes der Arbeiterinnenklasse und grenzte sich stark gegen einen Mittelschichtsfeminismus ab. Hierbei war sie eine scharfe Kritikerin von Emma Goldmann, die unter anderem die „freie Liebe“ propagierte, dies sah sie als nicht wirklich relevanten politischen Gegenstand. Dabei lebte sie auch sehr freizügig, machte ihren privaten Lebensstil aber nicht zum Inhalt ihres politischen Kampfes. Sie war aktiv bei mehreren anarchistischen Zeitungen dabei, engagierte sich gegen die Diskriminierung von Mischehen und wurde mehrfach wegen Agitation mit anarchistischer Literatur ins Gefängnis gebracht. Ihre „schwarze“ Herkunft als freigelassene Tochter einer Sklavin verleugnete sie, wie sie auch nicht auf die besondere Diskriminierung und Gewalt gegen POC Personen einging, die eine wesentliche Untergruppe des Proletariats in den USA darstellten. Parson hat sich nicht, wie heute üblich, in einer identitären Weise, als diskriminierte Person an die Öffentlichkeit gewandt, obwohl sie mehrfache Diskriminierungs-erfahrungen erlebte, sondern widmete sich mit ganzer Kraft per Propagierung der direkten Aktion (DA) ihrem Kampf der Arbeiterinnenklasse. Ihre Vitalität speiste sich aus ihren mit Polemik gespickten Reden, womit sie auch gerne Veranstaltungen unterwanderte und mit ihren Beiträgen die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dem Buch gelingt es sehr gut, das Beeindruckende von Lucy Parson nahe zu bringen, ohne mit ihr persönlich sympathisieren zu müssen. Mit Kontrahent:innen ist sie wenig zimperlich umgegangen und scheute sich nicht, diese vor Gericht zu verklagen oder die Polizei für sich zu nutzen. Ihren Sohn ließ sie als jungen Erwachsenen in eine Psychiatrie einweisen, weil er ihr nicht mehr folgen wollte.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass es der Autorin Jacqueline Jones fesselnd gelingt, Lucy Parson als maßgebliche Aktivistin und ihrer Zeit in der Chicagoer anarchistischen Szene aus der Vergessenheit herauszuholen und im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen. Kritisch ist anzumerken, dass Jones aus meiner Sicht, Lucy Parson aus einer zu persönlichen individuellen Perspektive mit zwar vielen (auch neuen) Details, als nur widersprüchliche „radikale Persönlichkeit“ darstellt. Die Gesamtaktivitäten von Parson als kollektive Identität der IWW und ihre Bedeutung für die Anarchistische Bewegung werden zwar richtig hinterfragt, aber nicht genügend gewürdigt. Möglicherweise ist der Autorin die Bedeutung von „Anarchakommunismus“ zu fremd. Es fehlen Bezüge/Angaben ihrer reichhaltigen publizistischen Tätigkeit und Vernetzung innerhalb der Wobblies, die eine sehr soziale egalitäre basisdemokratische Kultur pflegten. Auch der Titel „Göttin der Anarchie“ ist wenig anarchistisch und drückt in drei Worten meine grundsätzliche Kritik einer ansonsten sehr detailreich recherchierten Biographie aus.

Stella Anarris

Seit Okt 2024 produzieren wir, Ronovern und Falka, unseren Podcast. Wir haben vorher schon als libertäre Sozialistinnen Veranstaltungen konzipiert zu den Themen, anarchistische Utopien, Science - Fiction, Dystopien und das gute Leben.

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