Deutsche Übersetzung: DreiKaeseHoch, epoillac
The State is Counter Revolutionary ist ursprünglich ein vierteiliger Video-Essay auf Daniel Baryons YouTube-Kanal „Anark“.
Zusätzlich lud er das Skript dieses Video-Essays in leicht abgewandelter Form auf der Anarchist Library hoch. Dieses Skript dient als Grundlage für die Übersetzung.
Dieser Essay beschäftigt sich mit einem der wichtigsten Themen in der linken Theorie: die Rolle und die Natur des Staates im revolutionären Prozess. Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, dass die Rolle des Staates nur ein Zankapfel zwischen überzeugten Sozialist:innen ist. Es ist der wohl bedeutsamste frühe theoretische Riss innerhalb der politischen Linken und einer, der bis heute besteht. Im Verlauf dieses Essays werden wir uns mit den Gründen hinter dieser Spaltung beschäftigen und ergründen, warum dieser Riss trotz eines Jahrhunderts der sozialistischen Experimente, sowohl mit als auch ohne Staat, heute immer noch existiert.
Ich will diese Analyse mit einem Zitat aus dem Buch „Der bolschewistische Mythos“ des Anarchisten Alexander Berkman beginnen, in welchem dieser die Geschichte seiner Abschiebung aus den USA in die Sowjetunion zwischen 1919 und 1922 erzählt. Anders als man angesichts seiner anarchistischen Ideologie annehmen könnte, war Berkman bereit, seine Skepsis gegenüber dem Staat im revolutionären Prozess zurückzustellen. Über seine Ankunft in der Sowjetunion schrieb er:
Ein Gefühl der Feierlichkeit, der Ehrfurcht übermannte mich. So etwas mussten wohl auch meine frommen alten Vorväter gefühlt haben, als sie das erste mal das Allerheiligste betraten. Mich überkam das starke Bedürfnis, auf die Knie zu gehen und den Boden zu küssen – den Boden, der durch das Blut von Generationen des Leidens und des Martyriums und nun noch einmal durch die Revolutionär:innen meiner Zeit geheiligt worden war. Niemals zuvor, nicht einmal in der Obhut der Freiheit am glorreichen Maifeiertag 1906 – nach 14 Jahren im Gefängnis von Pennsylvania – war ich so tiefgreifend gerührt. Ich hatte das Verlangen, die Menschheit zu umarmen, mein Herz zu ihren Füßen zu legen und mein Leben tausendmal der Sozialen Revolution zu widmen. (1)
Wenig später erzählte Berkman von einer Veranstaltung, auf welcher er einen regimekritischen russischen Anarchisten, der gerade eine Rede hielt, unterbrach:
„Wir Anarchist:innen,“, sagte [der regimekritische Anarchist], „sind gewillt, mit den Bolschewiki zusammenzuarbeiten, sofern sie uns richtig behandeln. Aber ich versichere euch, dass wir keine Unterdrückung dulden werden. Falls es dazu kommen sollte, bedeutet das Krieg zwischen uns.“
[Berkman] sprang auf das Podium. „Lasst uns diese Sternstunde nicht durch solch unwürdige Gedanken herabwürdigen.“ rief [er]. „Von nun an sind wir alle geeint – geeint in der heiligen Arbeit der Revolution, geeint in ihrer Verteidigung, geeint in unserem gemeinsamen Ziel von Freiheit und Wohlstand für die Menschen. Sozialist:innen wie Anarchist:innen – unsere theoretischen Unstimmigkeiten sind zurückgelassen. Wir sind nun alle Revolutionär:innen und stehen Schulter an Schulter im Kampf und in der Arbeit für die befreiende Revolution. Genoss:innen, Held:innen der großartigen revolutionären Kämpfe Russlands, im Namen der amerikanischen Abgeschobenen grüße ich euch. Ich sage euch: Wir sind gekommen, um zu lernen, nicht um zu lehren. Zu Lernen und zu Helfen!“ (1)
Das war die Haltung vieler Anarchist:innen gegenüber der russischen Revolution. Diese war nicht perfekt, dachten sie sich vermutlich, aber die beste Option, die die politische Linke zu dieser Zeit hatte. Berkman, ein überzeugter Gegner des Staates, riet seinen anarchistischen Genoss:innen, die Bolschewiki zu unterstützen. Auch Kropotkin, ebenfalls ein vehementer Kritiker des Staates, wurde von der Verheißung der Revolution dazu ermutigt. Die Anarchist:innen der letzten Welle revolutionärer Handlungen warfen ihre Zweifel über Bord, um zu sehen, ob die Blume des Staatssozialismus in die erhoffte Befreiung blühen würde.
Es kann den damaligen Anarchist:innen nicht vorgeworfen werden, ihre Skepsis im Angesicht eines scheinbar berauschenden Sieges zurückgehalten zu haben. Tatsächlich muss es so gewirkt haben, als ob die Weltrevolution direkt bevorstünde. Nun sind wir im Gegensatz zu den Linken von 1917 im Besitz der Erfahrungen und Ergebnisse der staatssozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts. Deshalb werde ich im Verlauf dieses Essays darlegen, warum wir eine Wiederholung dieses geschichtlichen Zyklus ablehnen müssen. Zuerst werde ich eine theoretische Analyse des Staates als Institution vornehmen, um zu enträtseln, wie die an den Staat gebundene Ideologien so korrumpieren konnten. In den folgenden Teilen werde ich mein Augenmerk auf die geschichtliche Einordnung legen, so dass wir die Zersetzung dieser revolutionären Projekte im Detail nachvollziehen können.
Die uns bevorstehenden Aufgaben sind viel zu wichtig, um angesichts der Furcht vor Sektierertum nicht die Wahrheit zu sagen. Es ist unsere feierliche Pflicht gegenüber den Menschen in unserer Gesellschaft, etwas herbeizuführen, das mehr ist als nur eine kleinteilige Verbesserung, das besser ist als eine neue Ästhetik für ein altes System. Ob wir dieser Pflicht gerecht werden, entscheidet sich durch unseren vehementen Widerstand gegen die gescheiterten Vorgehensweisen der Vergangenheit. Alle Evidenz, die gefunden werden kann, lässt die:den aufmerksame:n Beobachter:in einzig zu folgendem Schluss kommen: Der Staat ist konterrevolutionär.
Wenn wir nun diese Diskussion führen wollen, ist es angebracht, zuerst einmal eine Grundlagenfrage zu beantworten: Was ist überhaupt der Staat? Es gibt eine gängige Definition, die erstmals von Max Weber verfasst wurde, nach der der Staat:
die menschliche Gemeinschaft [ist], welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. (2)
Diese Definition ist großteils zweckmäßig und ein guter Einstieg, um komplizierte Diskussionen zu entwirren. Dennoch ist sie mangelhaft, wenn wir ein allumfassendes Verständnis unserer Ziele entwickeln wollen und wenn wir aufzeigen wollen, was die Abschaffung der unterdrückenden Aspekte des Staates letztendlich bedeutet.
Errico Malatesta gibt da schon eine umfangreichere Definition:
Die Anarchisten gebrauchen das Wort Staat, um die Gesamtheit aller politischen, gesetzgeberischen, gerichtlichen und militärischen Institutionen zu bezeichnen, durch die dem Volke die Führung seiner eigenen Angelegenheiten, die Bestimmung seiner eigenen Handlungen, die Verantwortung für sein eigenes Wohlergehen entzogen wird, um dieselben einigen Menschen zu übertragen, welche durch Gewaltanmassung oder Wahlen die Macht haben, Gesetze für alles und für Alle zu machen und das Volk zu zwingen, diese zu befolgen, wenn nötig, durch den Einsatz kollektiver Gewalt. (3)
Diese Definition beinhaltet fast alle wichtigen Gesichtspunkte des Staates, übergeht jedoch die territoriale Dimension von Weber. Kropotkin vervollständigt die Definition, indem er Malatesta und Weber verbindet. Der Staat nach Kropotkin:
bedeutet nicht blo[ß] die Existenz einer über der Gesellschaft stehenden Macht, sondern auch eine territoriale Ko[n]zentration und eine Konzentration vieler Funktionen des Gesellschaftslebens in den Händen einiger [...]. Sie bedeutet neuartige Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft [die vor der Gründung des Staates so nicht existierten]. (4)
Wir lassen hier die Streitigkeiten dieser beiden Denker über den Unterschied zwischen Staat und Regierung außen vor. Obgleich nützlich, sind diese Unterschiede für unsere Analyse unnötig. Kombinieren wir jedoch beide Staatsdefinitionen, lässt sich erkennen, welchen Gesichtspunkten der staatlichen Institution Anarchist:innen widersprechen. Es ist nicht nur Webers rechtmäßiger Gebrauch von Gewalt in einem bestimmten Gebiet der verwerflich ist, wenngleich es auch das Kernultimatum des Paradigmas umfasst. Es ist die Tatsache, dass der Staat ein hierarchisches Schema der Durchsetzung sozialer Normen ist, welches sich darauf begründet, die direkte Kontrolle durch das Volk zu verringern und die juristischen, militärischen und politischen Funktionen der Gesellschaft in einem Kreis privilegierter Herrschenden zu zentralisieren. Allein die Existenz eines solchen Konstrukts garantiert die Entstehung einer Klassengesellschaft, in der die Staatsfunktionär:innen und deren Kollaborateur:innen über dem Volk handeln und so die Massen in Untertan:innen verwandeln. Dieser letzte Aspekt wird besonders von Rudolf Rocker in seinem Werk „Nationalismus und Kultur“ hervorgehoben:
Jede Macht setzt irgendeine Form menschlicher Sklaverei voraus, denn die Teilung der Gesellschaft in höhere und niedere Klassen ist eine der ersten Vorbedingungen ihrer Existenz. Die aus jedem Machtgebilde hervorgehende Abgrenzung der Menschen in Kasten, Stände und Klassen entspricht einer inneren Notwendigkeit, um die Privilegierten vom Volke zu scheiden […]. (5)
Da Rocker selbst diesen Umstand wunderbar in seinen eigenen Werken darstellt, überlasse ich es euch, diese selbst zu lesen. Wenn euch die Herkunft und die Toxizität des Staates interessiert, dann findet ihr genügend Lesestoff in den Werken Nationalismus und Kultur von Rudolf Rocker und Der Staat und seine historische Rolle (6) von Pjotr Kropotkin. Stattdessen will ich an dieser Stelle ein Argument neu fassen, welches ich in einem meiner eigenen Videos auf meinem YouTube-Kanal Anark, „The Case Against Hierarchy“ getätigt habe. Das Argument lautet wie folgt:
Der Staat ist eine kleine Gruppe an Menschen, die mit der Kontrolle über die Regierungsfunktionen ausgestattet sind und die legal legitimierte Macht haben, das Volk zur Folgeleistung zu zwingen.
Unabhängig von der temporären Existenz selbstloser Herrschender wird es innerhalb des Staates immer eigennützige Menschen geben.
Die Macht des Staates erlaubt diesen Menschen, eigennützig zu handeln.
Deshalb liegt es im Interesse aller Menschen, die den Staat steuern, die staatliche Macht aufrechtzuerhalten. Im Bewusstsein dessen werden diese Herrschenden, wenn die staatliche Macht gefährdet wird, immer versuchen, diese Gefahr zu bannen.
Jedoch ist jede andere existente Machtstruktur Konkurrenz für den Staat.
Deshalb ist der Staat mit jeder anderen Struktur, die seine Macht über die Gesellschaft gefährden könnte, uneinig.
Die Massen haben allerdings eine inhärente Macht durch ihre Größe und durch ihre Hauptfunktion als Arbeitskräfte, die die Gesellschaft antreiben.
Der Staat hat also immer die Tendenz, die Massen als Gefahr für die staatliche Macht anzusehen.
Deswegen wird der Staat immer versuchen, die schlummernde Macht der Massen zu kontrollieren und zu unterdrücken, außer es fördert die Interessen des Staates.
Die Formulierung dieses Arguments allein garantiert einen Gegensatz zwischen dem Volk und der Institution des Staates: Zentralisiert, ausgestattet mit der Kontrolle über die Zwangs- und Gewaltorgane, immer daran interessiert, eine Reihe von Klassenhierarchien aufrechtzuerhalten, die seine eigene Macht stützen. Ausgehend allein von den simplen Annahmen, dass Menschen manchmal eigennützig handeln, dass der Staat aus Menschen besteht und dass der Staat mit der Macht ausgestattet ist, Zwang auf die Gesellschaft auszuüben, ist die Etablierung eines Unterdrückungsverhältnisses durch den Staat langfristig garantiert. Wie Rocker sagte: „Jede Macht setzt irgendeine Form menschlicher Sklaverei voraus“.
Das einzig denkbare Gegenargument, ein wohlwollende Führung, die nicht eigennützig handle, könne im Sessel der Macht sitzen, vergisst das Unausweichliche: jeder Mensch stirbt irgendwann. Und wenn diese wohlwollenden Diktatoren sterben, werden die Zügel an eine neue Gruppe an Menschen weitergereicht, was den Staat in eine Runde Russisch Roulette mit der Zukunft der Massen als Opfer verwandelt.
Aber es wird noch schlimmer. Es ist nicht nur so, dass Menschen mit Macht oft in ihrem eigenen Interesse handeln wollen und es die inhärente Tendenz des Staates ist, Klassenstrukturen hervorzubringen und aufrechtzuerhalten, es ist zudem die Neigung der Menschen – auch derjenigen mit guten Intentionen – wenn sie ein Werkzeug bekommen, die Verwendung dieses Werkzeugs als Lösung aller Probleme anzusehen. Diese kognitive Neigung wird manchmal „Gesetz des Instruments“ oder „Maslows Hammer“ bezeichnet und findet sich im bekannten englischen Sprichwort „to the hammer, every problem looks like a nail“ (Für den Hammer sieht jedes Problem wie ein Nagel aus) wieder.
Wir sollten uns nicht wundern, dass diese kognitive Neigung so oft vorkommt, dass sie so einen Ruf erworben hat. Menschen haben ein inhärentes Verlangen, Lösungen für vor ihnen liegende Probleme zu finden. Gibt man ihnen dafür ein einziges Werkzeug, so werden die Menschen versuchen, jede denkbare Möglichkeit auszuprobieren, um mit diesem einen Werkzeug besagtes Problem zu lösen. Jede Herausforderung, die auf dem Weg der Problemlösung auftritt, wird demnach als eine Frage an die:den Werkzeugträger:in formuliert, wie das überhaupt ein Problem sein kann. Durch „Maslows Hammer“ wird diese Frage in etwas umgewandelt, das die:der Werkzeugträger:in durch die Verwendung der verfügbaren Mittel, also dem Werkzeug, als lösbar ansieht.
Solch eine Situation scheint noch perverser im Angesicht der Tatsache, dass die Hauptwerkzeuge des Staates Zwang und die Herstellung von Konsens sind. Der Staat ist also seiner Natur entsprechend immer bevormundend und chauvinistisch und ist daran gebunden, seine Untertanen als unbändig anzusehen, sobald sie ihm nicht gehorchen und nur dann als nützlich, wenn sie Folge leisten. Der Staat ist ein zum moralischen Niedergang verdammtes Konstrukt, ein Vormund, der ultimativ dazu bestimmt ist, seinen Schützling zu hintergehen. Überlässt man den Staat sich selbst, wird er früher oder später nur noch sein Eigeninteresse und die gemeinsamen Interessen des Staates und seiner mächtigsten Kollaborateur:innen repräsentieren, nicht die der Ausgebeuteten.
Allein der Akt der Zentralisierung von Macht ist deshalb ein Akt der Gewalt gegen die Arbeiterklasse. Solange dem Staat seine Existenz erlaubt bleibt, ist die Befreiung der Arbeitenden unmöglich, genau so wie die Klassengegensätze des Kapitalismus nicht beseitigt werden können, während die Produktionsmittel von den Kapitalist:innen kontrolliert werden. Die erhoffte Abschaffung der Klassen kann also nur dann gelingen, wenn die Abschaffung der zentralisierten Macht mit ihr einhergeht. Diese Aussage ist keine Vorliebe, sie ist eine fundamentale Voraussetzung für die nächste Phase menschlicher Entwicklung. Alle Versuche, den Staat als Sprungbrett für die Befreiung zu nutzen sind fehlgeleitete Verhandlungen mit einer starken konterrevolutionären Macht.
Warum also sind Linke jemals zu dem Schluss gekommen, dass die Realität anders aussehen könnte? Wir werden uns nun damit beschäftigen, welche theoretischen und rhetorischen Aspekte linker Ideologie zu Fäulnis in den autoritären Grundlagen geführt haben, so dass wir vielleicht besser verstehen können, wie es zu ihrem wiederholten Scheitern in der Praxis kam.
Zuerst einmal liegt der Dreh- und Angelpunkt der links-autoritären Konzeptualisierung in der Auffassung, dass jedes vom Volk selbst verwaltete sozialistische Projekt zu schwach und ziellos sei, um sich zu verteidigen und dass, anstatt sich übergangsweise selbst zu regieren, der Staat die Macht schnellstmöglich zentralisieren und anschließend wohlwollend im Interesse der Massen nutzen solle. In anderen Worten: Links-autoritäre stellen sich vor, dass eine Phase der Staatsführung entstehen muss, die Gemeinsamkeiten mit Kapitalismus und Sozialismus hat und für eine gewisse Zeit im Interesse der ehemals ausgebeuteten Klasse regiert und dabei die ehemals ausbeutende Klasse unterdrückt.
Diese spezielle Anschauung ist jedoch nirgends in der marxistischen Literatur so festgeschrieben. Tatsächlich sagte Marx in der ersten Internationalen etwas komplett gegensätzliches:
… die Emanzipation der Arbeiterklasse [muss] durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden [...] [D]er Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse [ist] kein Kampf für Klassenvorrechte und Monopole [], sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft. (7)
Einige rhetorische Entscheidungen von Marx und sein anfänglicher theoretischer Schwerpunkt ließen die Fragen, was getan werden und durch welche praktische Maßnahmen der Kampf geführt werden solle, weitgehend offen, was die Gefahr der Vereinnahmung erhöhte. Der wohl relevanteste dieser rhetorischen Entscheidungen war der Ruf nach einer revolutionären Phase, in der es eine „Diktatur des Proletariats“ geben solle. Dabei meinte Marx ziemlich sicher keinen zentralisierten Staatsapparat mit vollkommener Kontrolle, der die Arbeitenden und die ehemalige Bourgeoisie gleichermaßen beherrschen solle. Obwohl es stimmt, dass er bereits 1848 im „Kommunistischen Manifest“ für Zentralisierung warb, kritisierte er 1891 in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ deutsche Sozialist:innen heftig für ihren Glauben, dass Sozialismus durch einen bevormundenden Staat erreicht werden könne. Marx schrieb:
Freier Staat – was ist das? Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei“ zu machen. [...] Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats“ beschränken. (8)
Anhand dieser Aussage können wir ableiten, dass Marx am Ende seines Lebens nicht die Auffassung vertrat, dass Kontrolle der Arbeitenden einen zentralisierten Staat bedeute. Tatsächlich sah Marx nur eine einzige Staatsform als mit der Kontrolle der Arbeitenden vereinbar an: einen vollkommen dem direkten Willen der Arbeitenden unterworfenen Staat. In der „Kritik des Gothaer Programms“ kritisierte er die deutschen Sozialdemokrat:innen scharf dafür, dass sie es sich herausnehmen würden, die Massen bilden zu wollen:
Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schule auszuschließen. […] [Es] bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauhen Erziehung durch das Volk. (8)
Wo kamen also diese autoritären Tendenzen auf, wenn nicht bei Marx? Wagt man einen tieferen Blick in die Geschichte, war der wichtigste Wegbereiter der autoritären Ideologie wohl ein Franzose namens Louis Auguste Blanqui. Blanqui, ein früher französischer sozialistischer Revolutionär, bezweifelte, dass das Proletariat aus eigener Kraft heraus der Aufgabe einer Revolution gewachsen war. Stattdessen war Blanqui der Ansicht, dass es einer kleiner Gruppe an Berufsrevolutionär:innen bedürfe, die eine Kaderpartei gründen würden, um die Arbeitenden auf diesem Wege zum Putsch gegen den Staat zu leiten. Anschließend würde die ehemalige Herrschendenklasse so lange unterdrückt, bis irgendwann der Wandel zum Sozialismus stattfinden könne. Blanqui versuchte nicht einmal, die sozialistische Zukunft zu konzipieren und legte auch nicht offen, wie, wann und wo der Übergang von Kaderherrschaft zur Arbeitendenkontrolle stattfinden soll. Ihm war es viel wichtiger, dass die ehemalige Herrschendenklasse um jeden Preis besiegt würde. Das wird nicht das letzte mal sein, dass wir von solch einem Standpunkt hören, wenngleich sich die folgenden Anhänger:innen solch einer Ideologie nicht Blanquist:innen nannten.
Da nun die Grundlagen geklärt sind, können wir unsere Aufmerksamkeit nun der wohl bedeutendsten Entwicklung der links-autoritären Ideologie zuwenden: dem selbst erklärten „Marxismus“-Leninismus. Diese auf den Gedanken Wladimir Iljitsch Lenins fußende Ideologie regte eine große Zahl revolutionärer Kämpfe an und brachte viele ideologische Ableger hervor. Da die Behandlung all dessen den Rahmen dieses Essays sprengen würde, werden wir uns in Teil 3 nur dem wichtigsten Ableger widmen: der Marxismus-Leninismus-Maoismus. Doch lasst uns von vorne beginnen. Folgendes Zitat aus Lenins Werk „Was tun?“ ist ziemlich aufschlussreich, was seine Haltung zur revolutionären Organisation betrifft:
Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. (9)
Der Leninismus basiert auf einem grundlegenden Mangel an Vertrauen in die Arbeitenden, sich selbst zu organisieren und ohne eine führende Partei ein vollumfängliches Bewusstsein ihrer Klassenlage zu entwickeln. Für Lenin war die Parteispitze, die aus aufgeklärten sozialistischen Denker:innen bestand, ein Stellvertreter des proletarischen Klassenbewusstseins. Deshalb sollte es auch die Aufgabe einer revolutionären Partei sein, die Massen „von außen“ über ihre Befreiung zu belehren. Wo den Arbeitenden eine solche führende Hand fehlte, schätzte Lenin ihr Massenpotenzial gering ein und glaubte, dass der höchste Zustand, den sie aus eigener Kraft erreichen könnten, das sei, was er als gewerkschaftliches Bewusstsein bezeichnete. Damit bezeichnete er die Fähigkeit der Arbeitenden, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen.
Solch eine Vorstellung übersieht natürlich die Tatsache, dass die Gewerkschaftsbewegung eine eigenständige Bewegung mit Anhänger:innen und Denker:innen ist, die von Revolutionär:innen entwickelt und vorangebracht wurde. Eine Bewegung, die vermutlich wesentlich mehr radikale und transformative Elemente in die Russische Revolution eingebracht hat als die Bolschewiki. Doch nach Lenins Ansicht war eine Weiterentwicklung der Massen über das Gewerkschaftsbewusstsein hinaus notwendig, um revolutionäre Erfolge feiern zu können. Um sich so weiterzuentwickeln, wie er es vorsah, müssten sich die Arbeitenden der Parteiherrschaft unterwerfen.
Rosa Luxemburg verfasste 1904 „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ als Antwort auf Lenins „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“. In diesem Text kritisierte sie seine Haltung folgendermaßen:
Die Aufrichtung der Zentralisation [...] auf diesen zwei Grundsätzen – auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kernes der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird – erscheint uns [...] als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. (10)
Es steht also fest, dass der Zusammenhang zwischen Lenins Ansichten und Blanqui nichts ist, was ich mir ausgedacht hätte. Lenin wurde sogar so oft das Vertreten blanquinistischer Ansichten vorgeworfen, dass er sich gegen diese Vorwürfe verteidigen musste. Allerdings war seine einzige Verteidigung, dass seine Kaderpartei die Massen organisieren würde, um so die absolute Kontrolle zu erlangen und nicht wie Blanquis Kaderpartei den Putsch bis zum letzten Moment alleinig planen würde.
Letztendlich muss aber anerkannt werden, dass Lenins Vorstellung der Partei kein wirklicher Stellvertreter des proletarischen Klassenbewusstseins war, sondern vielmehr eine Instanz, die die Unterordnung zur Parteispitze einforderte. Das meinte Luxemburg, als sie die Zentralisierungspläne Lenins als eine „schroffe [...] Abgrenzung des organisierten Kernes der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu“ bezeichnete. Tatsächlich schien Lenin die Menschen als in ihrer Natur unterwürfige Wesen anzusehen. Luxemburg fährt fort:
[…] ein echter Proletarier dagegen müsse [nach Lenins Meinung] sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden […]. (10)
Die zentralisierenden Tendenzen Lenins waren also kein Konzept der Rechenschaft gegenüber den revolutionären Massen, sondern vielmehr eine Methode, um maschinenähnliche Gefolgsamkeit unter den Arbeitenden zu schaffen. Tatsächlich sah Lenin die Entfremdung von der eigenen Arbeit nicht einmal als etwas Bekämpfenswertes an, wie Luxemburg schreibt:
Die „Disziplin“, die Lenin meint, wird dem Proletariat keineswegs bloß durch die Fabrik, sondern auch durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus, kurz, durch den Gesamtmechanismus des zentralisierten bürgerlichen Staates eingeprägt. (10)
Es ist etwas verkehrt an dieser dieser Vorstellung, da Lenin das Verhältnis der Arbeitenden zu den Produktionsmitteln scheinbar überhaupt nicht verändern will, sondern stattdessen das Gehorsam des Proletariats gegenüber den Kapitalist:innen mit dem Gehorsam gegenüber der Parteiführung austauschen will. Die von Lenins Ideen verstörte Rosa Luxemburg schrieb dazu:
Tatsächlich [liefert] nichts eine noch junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus, der die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines „Komitees“ herabwürdigt. (10)
Und sie war nicht die einzige, die die auf Lenins Worten basierende Katastrophe voraussah: Trotzki persönlich sah noch vor der Februarrevolution in Lenins zweckmäßiger Ideologie das Risiko für den sogenannten Substitutionismus. Kurz gesagt befürchtete Trotzki, der Leninismus könnte dazu führen:
[...] dass die Parteiorganisation die Partei selbst, das ZK die Parteiorganisation und schließlich ein Diktator das ZK ersetzt. (11)
Eine solche Staatsordnung fand schließlich auch statt und rechtfertigte sich durch die leninistische Logik: Wenn die Partei das Klassenbewusstsein des Proletariats ist, dann ist eine Parteiendiktatur eine Diktatur des Proletariats. Die Ergebnisse dieser Begriffsspielereien waren alles andere als unbedeutend. Es scheint wie ein schlechter Witz, dass ausgerechnet Trotzki selbst, als er Macht in ebendieser substitionistischen Kaderpartei bekam, wenige Jahre nach der Revolution seine Haltung so klar ausdrückte:
Die Partei muß ihre Diktatur erhalten, ungeachtet aller momentanen Schwankungen innerhalb der Arbeiterklasse... die Diktatur läßt sich nicht ständig durch formale Prinzipien der Arbeiterdemokratie in Frage stellen… (12)
Ich denke es sollte inzwischen klar sein, dass nichts dessen im Geiste von Karl Marx steht. Ganz im Gegenteil, diese Ideen stellen einen harten Bruch mit der marxistischen Theorie dar. Während Marx glaubte, dass jede die Arbeitendenklasse repräsentierende Macht den Arbeitenden „durchaus untergeordnet“ sein müsse, meinte Lenin, dass sich die Arbeitenden vollständig der Partei unterzuordnen hätten. Während Marx dachte, dass der revolutionäre Staat durch die Massen gebildet werden müsse, dachte Lenin, dass die Massen durch den Staat gebildet werden sollten.
Weil Lenin es zudem geschickt vermied, den Anarchismus tatsächlich zu verstehen, wurde seine Ideologie gezwungenermaßen zum Opfer der Umstände, die wir am Anfang dieses Essays aufgeschlüsselt haben. Der Leninismus beseitigt nicht die inhärenten Gegensätze zwischen Staat und Arbeitenden, er verstärkt sie. Der Leninismus versteht Unterdrückung nicht nur als nützliches Werkzeug, er kann Unterdrückung nur als Werkzeug begreifen.
Aus diesem Grund fanden auch spätere Projekte, die die Bürokratie zu begrenzen und gleichzeitig die Kaderideologie aufrechtzuerhalten versuchten, erst zu spät heraus, was für einen Widerspruch sie da in ihr revolutionäres Projekt eingeschleust hatten. Lenins Ideologie würde sich als blanquistische Krankheit ausbreiten, die in einigen Fällen gewaltsam und in anderen Fällen von willigen Empfänger:innen weitergegeben wird. Jedoch resultiert sie in allen Fällen in der letztendlichen Beseitigung des Sozialismus, wie es bei allen zentralistischen Versuchen unausweichlich passieren wird.
Trotz dieser ganzen Analysen erwarte ich nicht von euch, das Gesagte als gegeben anzusehen. Schließlich reicht es nicht aus, nur im Reich der Ideen zu existieren, wenn wir eine revolutionäre Zukunft aufbauen wollen. Deswegen will ich in den nächsten zwei Teilen genau auf die zwei wichtigsten staatlichen Versuche eingehen: Die UdSSR und das maoistische China. Ich werde zeigen, dass in beiden Staaten, obwohl sie sich in ihren ideologischen Voraussetzungen ihrer Führung stark voneinander unterschieden, die geringe Chance auf Sozialismus zwar existierte, jedoch dazu verdammt war, von einer staatsgesteuerten Konterrevolution beseitigt zu werden. Die Arbeitenden, die es diesen Konstrukten erlaubten, sie im Namen des Sozialismus zu unterdrücken, würden letztendlich nichts mehr von ihrem revolutionären Bestreben in ihrer Realität wiederfinden.
In Teil 4 werden wir schließlich zu unseren theoretischen Betrachtungen zurückkehren und erklären, wie die heutige politische Linke dazu kam, diese Fehlschläge zu entschuldigen, dabei die rhetorische Leere ihrer Argumente enttarnen und ein ausgleichendes Narrativ anbieten, das uns zu verstehen hilft, wie wir solche Fallstricke in der nächsten revolutionären Welle vermeiden können.
Bevor wir diesen Essay beenden, möchte ich nochmal zu Alexander Berkmans Tagebuch zurückkehren. Obwohl er 1919 zunächst seine Prinzipien aufgrund einer fast religiös anmutenden Ehrfurcht vor dem Befreiungspotential hinten anstellte, änderte sich sein Tonfall bis 1922 deutlich. Dies waren seine letzten Worte, die er vor seiner Rückkehr nach Amerika niederschrieb:
Grau sind die vorüberziehenden Tage. Ein Funke der Hoffnung nach dem anderen ist erloschen. Terror und Willkür haben das im Oktober [1917] geborene Leben zerstört. Den Parolen der Revolution wurde abgeschworen, ihre Ideale wurden im Blut der Menschen erstickt. Der Atem von gestern verdammt Millionen zum Tode; die Schatten von heute hüllen das Land in ein schwarzes Leichentuch. Die Diktatur zertrampelt die Massen unter ihren Füßen. Die Revolution ist tot; ihr Geist weint in der Wildnis. Lob sei den Zeit, in der die Wahrheit über die Bolschewiki erzählt wurde. Das weiße Grab muss entlarvt, die Tonfüße des Götzen, der das internationale Proletariat betört hat, zu todgeweihten Irrlichtern zu verkommen, aufgedeckt werden. Der bolschewistische Mythos muss zerstört werden.
Ich habe beschlossen zu gehen, Russland. (1)
In Kürze werden wir sehen, welche Ereignisse Berkman zu diesem Sinneswandel bewegten.