Nicht unser System – eine pragmatische Analyse des Parlamentarismus


dreikaesehoch
Parlamentarismus Anarchismus Theorie

Die Bundestagswahl ist mittlerweile mehr als ein halbes Jahr her, die neue Bundesregierung ist schon mehrere Monate vereidigt und die nicht-mehr-ganz-so-große Koalition ist mit Hochdruck dabei ihre menschenfeindliche Migrationspolitik und gefährliche Kriegspolitik mit damit einhergehender Aufrüstung und Einstampfung des Sozialstaats zu etablieren. Eine Frage stellte sich mir im Bezug auf die politischen Forderungen dieser Koalition in den Wochen nach der Wahl jedoch ganz besonders: Wie?

Okay, das ist jetzt vielleicht ein bisschen plump, aber eigentlich fasst es die Ungläubigkeit, die ich rund um diese Bundestagswahl verspürt habe, ganz gut zusammen. Wie kann es in einem selbsterklärten demokratischen Land dazu kommen, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen ihre eigenen existenziellen Interessen eine Koalition an die Macht wählt, die für eine signifikante Verschlechterung der Lebensbedingungen für alle Migrant:innen, Arbeitenden und anderweitig auf einen Sozialstaat angewiesenen Personengruppen eintritt? Sind die wahlberechtigten Deutschen einfach super masochistisch? Oder schaffen es die Parteien der sogenannten Mitte und von Rechts einfach nur extrem gut, die Wahlberechtigten so krass mit Propaganda zu beschießen, dass sie immer und immer wieder gegen ihre eigenen materiellen Interessen wählen? Oder liegt das Problem sogar noch tiefer und die parlamentarische Demokratie selbst trägt die Schuld dafür?

Da ich kein Interesse hatte, die meisten deutschen Wähler:innen als dumm, masochistisch und komplett hirnverbrannt zu bezeichnen und es dabei zu belassen, habe ich mich mit Hilfe einiger schlauer Texte und Menschen ins Thema Parlamentarismus eingearbeitet und habe im Zuge dessen diesen Text verfasst. Ich werde in diesem Text den Parlamentarismus zuerst aus einer linken utilitaristischen Perspektive beleuchten und anschließend theoretisch analysieren. Lasst uns also in die Tiefen des Parlamentarismus eintauchen und ergründen, wer im Parlamentarismus das Sagen hat, was Wahlen bewirken und was eine mögliche Alternative zum Parlamentarismus sein könnte.

Bevor wir richtig loslegen, will ich nochmal ein bisschen das Begriffschaos rund um das Thema aufräumen. Dazu will ich kurz ein paar Erklärungen liefern, was ich mit einigen Begriffen, die uns in diesem Text öfter begegnen werden, meine:

Wenn ich von Parlamentarismus rede, meine ich damit diejenigen Formen der politischen Entscheidungsfindung, die über ein Repräsentantensystem verläuft. In regelmäßigen Abständen werden also Repräsentant:innen (Abgeordnete) vom Staatsvolk gewählt, die dann in einem Parlament (Bundestag) stellvertretend für alle Bürger:innen des Staates Entscheidungen fällen. Parlamentarismus setzt zudem die Existenz eines Staates voraus, die Existenz eines Gewaltmonopols (Polizei und Bundeswehr) und geht oft einher mit dem Konzept der Gewaltenteilung in Legislative (Bundestag), Exekutive (Bundesregierung und Gewaltmonopol) und Judikative (Verfassungsgericht).

Den Begriff Demokratie werde ich grob zusammengefasst für diejenigen politischen Systeme verwenden, die den Selbstanspruch haben, dass das Volk die Herrschaft über sich selbst ausübt. Da das jedoch sehr schwammig ist, werde ich den Begriff Demokratie in diesem Text nur in Verknüpfung mit einem Adjektiv wie „parlamentarisch“ oder einem Präfix wie „Basis-“ verwenden.

Zu Beginn unserer Reise in den Kaninchenbau des Parlamentarismus will ich erklären, warum der Parlamentarismus überhaupt existiert. Wir leben in einer kapitalistischen Welt mit kapitalistischen Nationalstaaten und Deutschland ist einer davon. Die Gesellschaft ist grob in zwei wirtschaftliche Klassen – wenn auch mit Grauzonen – aufgeteilt. Die Kapitalistenklasse bzw. Bourgeoisie bilden diejenigen Menschen, die die Produktions- und Betriebsmittel (Fabriken, Ackerland, Werkstätten, Dienstleistungsbetriebe etc.) besitzen. Die Arbeiterklasse bzw. lohnabhängige Klasse bilden diejenigen Menschen, die keine Produktions- und Betriebsmittel besitzen und um zu überleben stattdessen ihre Arbeitskraft gegen einen Lohn an die Kapitalist:innen verkaufen. Warum diese Klassen jetzt genau im Konflikt miteinander stehen, warum die Kapitalistenklasse versucht, die Lohnabhängigen immer effizienter auszubeuten und was die Widersprüchlichkeiten dieses Systems sind, werde ich jetzt nicht erklären, das würde den Rahmen sprengen. Fest steht: Die Kapitalistenklasse setzt alles daran, ihre gesellschaftliche Macht, die sie durch den Besitz und die Kontrolle der Produktions- und Betriebsmittel hat, aufrechtzuerhalten und mittelfristig auszubauen. Gleichzeitig versuchen die einzelnen kapitalistischen Akteure, einander im Wettbewerb um die Markthoheit aufzukaufen oder anderweitig auszubooten und sich so den größtmöglichen Marktanteil zu sichern. Es findet eine Monopolisierung (wie beispielsweise bei sozialen Netzwerken oder Betriebssystemen) bzw. Oligopolisierung (wie beispielsweise bei Supermärkten oder Erdöl) der Wirtschaft statt in der kleine Unternehmen zunehmend verschwinden und die großen Unternehmen die Arbeiterklasse immer effizienter ausbeuten können und im Wettbewerb untereinander sogar zwingend müssen. Die kleineren Unternehmen, die weiterexistieren, rutschen ins Subunternehmertum ab, haben also keine eigene Stellung am Markt mehr sondern dienen den großen Playern als effektives Mittel um Arbeitsschutz, Mindestlöhne und Haftungsfragen zu vermeiden.

Die ein oder andere Person fragt sich jetzt sicher: warum lassen sich denn die ganzen Lohnabhängigen den Schwachsinn gefallen? Warum akzeptieren es die Menschen, ihre eigene Existenz für den Kannibalismus der Unternehmen aufzuopfern? Und genau an dieser Stelle kommt der Parlamentarismus ins Spiel.

Die parlamentarische Demokratie ist das wirksamste Werkzeug der Kapitalistenklasse, die Lohnabhängigen ruhigzustellen und gefügig zu machen. Wie der Parlamentarismus das tut, ist mehr als genial.

Die BRD wurde 1949 als Satellitenstaat der großen westlichen Weltmächte USA, Großbritannien und teilweise auch Frankreich, gegründet. Ziel der Westalliierten war es ein stabiles kapitalistisches Land mitten in Europa zu errichten, was ihnen einen geopolitischen Vorteil in dieser Region einbringt. Im Osten war Stalins Sowjetunion gerade dabei, sich halb Europa einzuverleiben; der Westen wollte das natürlich in seinem imperialistischen Eigeninteresse eindämmen. Um den Kapitalismus jedoch tatsächlich stabil zu halten, die Menschen, die durch ihre Lohnarbeit das System am Laufen hielten, nicht zu vergraulen und eine sozialistische Revolution zu verhindern, in der die Arbeitenden die Kontrolle der Produktions- und Betriebsmittel selbstständig übernehmen, wurde der Parlamentarismus als politisches System für die BRD festgelegt. Und der Parlamentarismus wurde in der Bundesrepublik verdammt gut umgesetzt. Das Ergebnis ist bis heute eine der stabilsten parlamentarischen Demokratien der Welt, die gleichzeitig die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und ein westliches „Vorzeige-Bollwerk“ mitten in Europa ist.

Basis der parlamentarischen BRD ist das Grundgesetz. Die deutsche Verfassung ist in ihren Kernpunkten seit 1949 gleich geblieben und beschreibt die Grundfunktionsweisen und selbstauferlegten Regeln des deutschen Staates. Den ersten Teil des Grundgesetzes (Artikel 1-19) bildet das allseits bekannte Bekenntnis zu den Menschen- und Bürgerrechten. Der für diesen Text relevante Teil des Grundgesetzes beginnt ab Artikel 20. In den folgenden Artikeln werden die Grundlagen für das politische System gelegt. Parteien werden definiert, die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative festgelegt, die politischen Gremien des Bundes und der Bundesländer samt der mit ihnen verknüpften Wahlen sowie die Mitgliedschaft in der EU beschrieben, das Gewaltmonopol durch Polizei und Bundeswehr definiert und vieles mehr.

Das klingt ja alles zuerst mal ganz nett: eine Verfassung, in der die Funktionsweise eines politischen Systems festgeschrieben ist, an dem alle durch regelmäßige Wahlen teilnehmen können und dessen Unterwanderung durch die Gewaltenteilung, das Verfassungsgericht sowie die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 verunmöglicht wird. Doch der Schein trügt. Dass sich die Gesetzgebung ans Grundgesetz halten muss, ist weitestgehend optional, dass das Gewaltmonopol nicht im Interesse einiger weniger missbraucht wird, wird nicht verhindert. Der Parlamentarismus soll nämlich die symbiotische Herrschaft der Kapitalistenklasse und der hohen politischen Tieren verteidigen und achtet dabei penibel darauf, dass er diese Herrschaft nicht gefährdet. Der Schlüssel dazu liegt im Klassenkampf von oben. Dieser ist eine Kombination aus den kapitalistischen „freien“ Medien, die gezielt rechte Narrative und Ideologien wie den Neoliberalismus und das Leistungsprinzip verbreiten und Kulturkämpfe schüren, dem Lobbyismus bzw. der Korruption durch vermögende Menschen und Organisationen, staatlicher Mechanismen wie dem Eigentumsrecht und der Klassenjustiz sowie der Parteienfinanzierung.

Die großen Massenmedien in Deutschland sind abgesehen von den Öffentlich-Rechtlichen in privater Hand. Sie gehören irgendwelchen großen Verlagshäusern oder Mediengruppen, die jeweils ein eigenes kapitalistisches Interesse haben, möglichst viele ihrer Medienprodukte zu verkaufen und so Reichweite und Geld zu generieren. Wenn also eine Partei oder eine andere außerparlamentarische Organisation den Kapitalismus und damit auch die Macht dieser privaten Verlags- und Medienhäuser angreifen will, werden die privaten Medien diesen Parteien oder Organisationen so wenig Aufmerksamkeit wie nur irgend möglich geben oder diese in ein schlechtes Licht rücken. Aus einem reinen Selbsterhaltungstrieb der Kapitalistenklasse wird beispielsweise eine reformistische Linkspartei, aber auch schon eine durchaus pro-kapitalistischen Partei wie die Grünen entweder klein- oder schlechtgeredet oder erst gar nicht besprochen. Das hat zur Folge, dass in den großen Medien die tatsächlichen Inhalte dieser Parteien de facto nicht stattfinden und dementsprechend die Menschen sich die Infos aktiv suchen müssten, wozu sie aufgrund der sich zuspitzenden Ausbeutungslage immer weniger Zeit haben. Wenn sie stattdessen aber einfach nach der Lohnarbeit RTL anschalten oder morgens die BILD am Kiosk mitnehmen, dann gelangen die Informationen zu diesen Parteien oder Organisationen sowie die Kritik am System erst gar nicht zu den lohnarbeitenden Massen, weil diese durch den Filter der ach-so-freien privaten Verlags- und Medienhäuser gejagt werden.

Zudem legen die großen kapitalistischen Medien Wert darauf, die Lohnabhängigen von ihrem kläglichen Dasein abzulenken. Die Inhalte, die in privaten Medien stattfinden, sind oft seichte Unterhaltung wie etwa Reality-TV-Shows oder Berichte über die Clanstreitigkeiten der Royals in England. Wenn es mal politisch wird, dann suchen die privaten Medien die Schuld nicht beim System oder den großen kapitalistischen Handlungsträger:innen, sondern bei Migrant:innen, Erwerbslosen, queeren Menschen oder anderen Minderheiten.

Das wiederum ist Symptom eines Phänomens, was gemeinhin als Klassenkampf von oben bezeichnet wird. Um die Übermacht der lohnabhängigen Bevölkerung proaktiv zu brechen, die durch einen organisierten Zusammenschluss der Arbeiterklasse erreicht werden könnte, versucht die Kapitalistenklasse, die die großen Medien besitzt, durch gezielte Spaltungsimpulse die Klassensolidarität innerhalb der Arbeiterklasse zu unterbinden. Ziel ist es, die Lohnabhängigen so krass zu vereinzeln, dass sie ihre Lage als alternativlos annehmen. Die Wut, die sie aufgrund ihres ausbeuterischen Lohnarbeitsverhältnisses verspüren, soll umgeleitet und gegen andere Teile der Arbeiterklasse gerichtet werden. Dieser Klassenkampf von oben funktioniert derzeit hervorragend und resultiert in einem komplett verzerrten Bild der Realität in den Köpfen vieler lohnabhängiger Menschen.

All diese Faktoren führen dazu, dass progressive parlamentarische wie auch außerparlamentarische Kräfte keine mediale Plattform geboten bekommen, ganz im Gegensatz zu pro-kapitalistischen Parteien und Organisationen. Diese werden in ihrem Klassenkampf von oben medial bestärkt und finden zudem in den Medien mehr statt, was sich dann in Wahlergebnissen wie dem der Bundestagswahl 2025 niederschlägt.

Wie man aber in der letzten Zeit beobachten konnte, legte die Linkspartei trotz Schlechtredung oder Ignoranz der großen privaten Medien in der Bundestagswahl und den Umfragen stark zu. Grund dafür ist die zunehmende Relevanz von Social Media im Wahlkampf. TikTok, Instagram und Co. gehören alle ausländischen Großkonzernen, die (bisher zumindest) kein Interesse daran haben, linke politische Inhalte in Deutschland zu shadowbannen, da sie mit den Werbeeinnahmen dieser Social-Media-Beiträge noch einen Haufen Geld verdienen können und dabei nicht das Risiko eingehen, von den geforderten Reformen der Linkspartei in irgendeiner Weise direkt betroffen zu sein.

Doch nun greift die zweite parlamentarische Sicherheitsstufe gegen eine Abschaffung oder Gefährdung des Kapitalismus von linksaußen: der Lobbyismus bzw. die Korruption, gepaart mit dem System der Parteienfinanzierung. Die Art und Weise, wie in Deutschland und auch in anderen parlamentarischen Demokratien dieser Welt Geld in die Parteien und die Politiker:innen fließt, garantiert beinahe komplett, dass keine Partei auf parlamentarischem Wege zu politischer Macht kommt, die nicht direkt im Interesse der Kapitalistenklasse agiert.

Wer in Deutschland eine Partei von null auf gründet, steht vor einem Problem: die Partei hat, sofern sie nicht 0,5% bei einer Bundestags- oder Europawahl oder 1% bei einer Landtagswahl hat, keinen Anspruch auf Parteienfinanzierung. Sie muss sich also zunächst komplett aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanzieren. Erreicht die Partei dann mehr als 0,5 bzw. 1% der Stimmen, das sind bei der Bundestagswahl immerhin fast 300.000 Stimmen, hat sie Anspruch auf Parteienfinanzierung. Diese skaliert dann mit der Anzahl der gewonnenen Stimmen. Zusätzlich bekommen Parteien weitere Parteienfinanzierung, wenn sie Spenden annehmen.

Dieses System führt dazu, dass große Parteien, die gerne Spenden annehmen, extrem viele Mittel aus der Parteienfinanzierung erhalten und kleine Parteien, die keine oder wenige Spenden annehmen, leer oder fast leer ausgehen. In einer Welt, in der du als Partei auf Geld angewiesen bist, um Wahlkampf zu führen, Sekretariatsposten zu bezahlen, Veranstaltungen zu machen und vieles mehr, bist du enorm im Nachteil, wenn du Unternehmensspenden ablehnst und dabei zusätzlich bei der letzten Wahl nicht sonderlich viele Stimmen bekommen hast. In der Parteienfinanzierung gilt wie im Rest der kapitalistischen Gesellschaft ebenfalls der Grundsatz: Wer hat, dem wird gegeben.

Ein weitere Quelle aus der Parteien ihr Geld beziehen können sind, wie vorhin kurz angerissen, Parteispenden. Diese machen einen erheblichen Teil der finanziellen Mittel der Parteien aus. Das Problem an diesen Parteispenden: Sie werden von reichen Menschen, also Mitgliedern der Kapitalistenklasse sowie Unternehmen gezahlt. Oftmals handelt es sich um mehrere zehntausend oder hunderttausend Euro. Die Kapitalist:innen spenden aber natürlich nur an diejenigen Parteien, die ihre Interessen vertreten. Vertreten sie diese nicht mehr, wird auch der Geldhahn abgedreht. So machen sich Parteien abhängig von Großspenden aus dem Milieu der Kapitalistenklasse. Diese Art von indirekter Korruption garantiert, dass die Parteien, die im Kapitalinteresse handeln, finanziell so gut aufgestellt sind, dass sie sich einen aufwändigen und wirksamen Wahlkampf leisten können und so eine drastisch erhöhte Chance haben, Wahlerfolge einzufahren. Parteien wie die Linkspartei wissen um diese Korrumpierung durch Großspenden solcher Unternehmen und verzichten deshalb bewusst darauf. Das führt aber dazu, dass die finanziellen Mittel und somit auch die Wahlkampfkapazitäten erheblich geringer ausfallen.

Die letzte Stufe, durch die sich der Kapitalismus durch den Parlamentarismus selbst schützt, bildet die Notwendigkeit, Koalitionen einzugehen – sollte eine gegen das Kapitalinteresse agierende Partei trotz all der aufgezeigten Hürden jemals in diese Position kommen. Im Falle der Linkspartei wären das die SPD und/oder die Grünen. Beide Parteien sind pro-kapitalistisch und lassen sich von Unternehmensspenden korrumpieren, sodass die Linkspartei enorme Kompromisse eingehen müsste, die unter Umständen die Reformforderungen der Linkspartei bis zur Unkenntlichkeit verwässern würden. Zusätzlich würde in diesem Stadium die Kapitalistenklasse alles tun, einer Regierung mit Beteiligung der Linkspartei auf allen Wegen zu schaden. Medial wie wirtschaftlich, aber auch durch direkte Korruption der Regierungsmitglieder.

Was ich jetzt am Beispiel der Linkspartei und der deutschen parlamentarischen Demokratie durchgekaut habe, gilt in leicht abgewandelter Form natürlich für alle linken Parteien, die in Deutschland existieren oder in Zukunft existieren werden, aber genauso auch für andere parlamentarische Demokratien auf der Welt. Die BRD ist deswegen so spannend, weil sie ein unter der Aufsicht der USA und Großbritannien konstruiertes System ist und nicht wie beispielsweise die USA selbst ein aus dem bürgerlichen Kampf des späten 18. Jahrhunderts dynamisch gewachsenes System.

All diese beschriebenen Mechanismen der parlamentarischen Demokratie führen dazu, dass Parteien aus der linken Ecke des politischen Spektrums realistisch gesehen genau zwei Optionen haben: Entweder sie bleiben ihren Grundsätzen treu und verraten ihre Ideale und Werte nicht, bleiben dadurch aber irrelevant. Oder aber sie geben für ihr Streben nach Relevanz Grundsätze und Werte auf und durchlaufen eine Deradikalisierung und Annäherung an die sogenannte „politische Mitte“. Für die erste Option sind in Deutschland die MLPD und die DKP sowie ihre Abspaltungen gute Beispiele, für die zweite Option sind es Parteien wie die SPD, die Grünen – und angesichts ihres derzeitigen Kurses nach der Bundestagswahl – auch zunehmend die Linkspartei.

Der Parlamentarismus ist also in keinem Fall ein System, dass die Befreiung der Menschen von der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft der Kapitalistenklasse einfach so zulässt. Ganz im Gegenteil: Der Parlamentarismus hat vielschichtige und mächtige Sicherheitssysteme, die gewährleisten, dass die Wahrscheinlichkeit grundlegende wirtschaftliche Veränderungen über den parlamentarischen Weg zu erreichen gegen Null geht.

Die Befreiung der lohnabhängigen Klasse kann also rein logisch und realistisch gesehen nur außerparlamentarisch erreicht werden. Wie revolutionäre Ansätze zur Abschaffung der Lohnarbeit und anderer Herrschaftsverhältnisse aussehen können, will ich hier jetzt nicht mehr weiter ausführen, das können andere Menschen besser. Meine Empfehlungen wären „Prinzipienerklärung der FAUD“ speziell für den gewerkschaftlichen Ansatz und „Anarchistisches Verständnis von Basisarbeit“ sowie weiterführend „Das Ruder herumreißen“ (besonders Kapitel 3) für eine breitere strategische Aufstellung.

Lasst uns nun das Gesagte etwas abstrahieren und einen Blick in die Zukunft wagen. Angenommen, eine Revolution der lohnabhängigen Massen ist geglückt und die Arbeitenden kontrollieren nun die Produktions- und Betriebsmittel selbst. Jetzt steht die Gesellschaft vor der Herausforderung eine Organisationsstruktur für sich zu finden. Die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Organisation, Verwaltung und Entscheidungsfindung sind unendlich, aber auch unendlich komplex. Dementsprechend liegt es nahe, sich zuerst einmal diejenigen Formen der Verwaltungsgliederung und Entscheidungsfindung anzuschauen, die bereits existieren und bereits erprobt sind. Dazu gehört eben auch der Parlamentarismus. Da ich die parlamentarische Demokratie bisher nur in Kombination mit dem Kapitalismus kritisiert habe und meine Schlussfolgerung lautete, dass die Interessen der arbeitenden Massen durch die strukturelle Bevorteilung der Kapitalinteressen de facto nicht durchgesetzt werden könnten, wäre es naheliegend zu glauben, dass nun, da die Kapitalist:innen nicht mehr Teil der Gleichung sind, der Parlamentarismus endlich die Interessen der arbeitenden Massen berücksichtigen könne, dass ein „Demokratischer Sozialismus“ möglich und anstrebenswert wäre. Die Erklärung, warum das nicht so ist, bedarf eines kleinen Ausflugs in die anarchistische Staats- und Machtanalyse.

Das Haupt- und Alleinstellungsmerkmal des Parlamentarismus im Vergleich zu anderen Formen der gesellschaftlichen Verwaltungsgliederung und Entscheidungsfindung ist nicht die Vernetzung von organisatorischen Gremien wie Parlament und Regierung, nicht das Vorhandensein von Wahlen sowie formaler Gewaltenteilung und auch nicht die Art und Weise, wie das Gewaltmonopol aufgebaut ist. Der Hauptunterschied liegt im Prinzip der parlamentarischen Repräsentation: ein:e Abgeordnete:r wird für eine gewisse Zeit durch eine Wahl legitimiert, im Namen seiner Wähler:innen und auf dem Papier als deren Vertreter:in am gesellschaftlichen Verwaltungs- und Entscheidungsprozess aktiv mitzuwirken. Dabei ist er ausschließlich seinem eigenen Gewissen unterworfen und kann unabhängig von seinen Wähler:innen handeln. Im Parlamentarismus delegiert man als Wähler:in nicht nur die gesellschaftliche Verwaltungsaufgabe an eine:n Repräsentant:in, man gibt den eigenen Teil gesellschaftlicher Macht ab, indem man darauf verzichtet, an den Entscheidungsprozessen selbst teilzuhaben.

Im Parlamentarismus wird also nicht nur Organisation, Verwaltung und Entscheidungsfindung vereinheitlicht, es wird gesellschaftliche Macht angehäuft und zentralisiert, und zwar massiv. In Deutschland findet der Großteil der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung im Bundestag statt, einem Gremium, was derzeit 630 Repräsentant:innen umfasst. Diese 630 Menschen verfügen formal (in der Realität sieht es durch das Vorhandensein von Bundesregierung, Verfassungsgericht und anderen Organen, föderalen Ebenen wie Land, Kreise etc. sowie kapitalistischem Lobbyismus etc. wesentlich komplizierter aus) über die Gesamtheit der gesellschaftlichen Macht, die etwa 85 Millionen Menschen auf deutschem Staatsboden durch ihre „Teilhabe“ am Parlamentarismus abgeben.

Sobald eine Ansammlung an gesellschaftlichen Institutionen den Menschen eines bestimmten Territoriums, im Falle des Parlamentarismus eben durch Wahlen, gesellschaftliche Macht entzieht und diese zentralisiert, dann bilden – nach anarchistischer Theorie – diese Institutionen gemeinsam einen Staat. Eine solche Machtzentralisierung kommt allerdings mit ein paar Notwendigkeiten einher. So muss ein Staat immer über ein Gewaltmonopol in Form eines hierarchischen Polizei- und Militärapparats verfügen, der die von den Institutionen beschlossenen Entscheidungen falls nötig auch gewaltsam durchsetzen kann. Ebenfalls muss der Staat, um nicht durchgängig auf den Einsatz des Gewaltmonopols angewiesen zu sein, seine Machtzentralisierung durch Staatspropaganda legitimieren. Dazu zählt unter anderem das suggerieren der Alternativlosigkeit des Systems, die Behauptung, der Staat handle im Interesse des Volkes sowie Patriotismus und Nationalismus, aber auch die gezielte Förderung pro-parlamentaristischer Kulturprojekte.

Unabhängig davon, ob ein parlamentarischer Staat mit einer Volkswirtschaft, die von den Arbeitenden selbst besessen, verwaltet und kontrolliert wird (demokratischer Sozialismus), im Interesse der arbeitenden Massen handelt oder nicht: er hat jedoch immer noch jede Menge Macht über die Menschen und hält diese von den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen fern.

In einem „Demokratischen Sozialismus“ wären die Menschen zwar frei von der Willkür von Unternehmensbossen, aber nicht frei von der Willkür des Staates. Dieser hätte durch das Gewaltmonopol die Kapazitäten, jederzeit gesetzgeberisch auf die Wirtschaft einzuwirken und so den Arbeitenden die Kontrolle über die Produktionsmittel und Betriebe wieder zu entreißen und diese stattdessen zu verstaatlichen. Das würde erneute Lohnarbeit für die Massen und die Wiedergeburt einer Kapitalistenklasse, diesmal jedoch einer staatsbürokratischen Kapitalistenklasse aus politischen Entscheidungsträger:innen und Beamt:innen bedeuten. In anderen Worten: Staatskapitalismus.

Um also zu einer wirklich freien Gesellschaft zu gelangen und gleichzeitig nicht Gefahr zu laufen, in staatskapitalistische Produktionsverhältnisse abzurutschen, muss der Staat als Institution der gesellschaftlichen Organisation, Verwaltung und Entscheidungsfindung und mit ihm der Parlamentarismus und die Logik der repräsentativen Machtzentralisierung verschwinden und durch ein System ersetzt werden, welches allen Menschen gleichermaßen Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen lässt. Dieses System wurde nie wirklich benannt. Ich würde es am ehesten als föderale, basisdemokratische und kollektive Selbstverwaltung beschreiben.

Eine solche föderale, basisdemokratische und kollektive Selbstverwaltung hat den Anspruch, die Gesellschaft als ganzes verwalten und organisieren zu können, ohne auf Machtzentralisierung und ein Gewaltmonopol angewiesen zu sein. Gesamtgesellschaftliche Strukturen sollen nicht mehr der Freiheit der einzelnen Menschen im Wege stehen, sondern ihnen sogar noch mehr Freiheit ermöglichen. Dabei liegt der Dreh- und Angelpunkt im Prinzip der kollektiven Selbstverwaltung. Menschen sollen sich anhand von Gemeinsamkeiten in der Lebensrealität zusammenfinden und alles, was ihre gemeinsame Lebensrealität betrifft, als Kollektiv basisdemokratisch selbstverwalten. Dabei hat niemand mitzureden außer denjenigen, die selbst (mit)betroffen sind. Wenn wir als Beispiel einer Gruppe von Menschen mit Gemeinsamkeiten die Bewohner:innen eines Wohnblocks nehmen, dann sollen diese ihren Wohnblock kollektiv selbstverwalten, indem sie alle Entscheidungen im Gespräch miteinander basisdemokratisch und gemeinsam treffen.

Die einzelnen kollektiv selbstverwalteten Einheiten, seien es jetzt Wohnblöcke, Betriebe oder andere, können sich zu größeren Verbünden (Föderationen) zusammenschließen, müssen es aber nicht. Im Zentrum dieses Föderalismus steht das Delegiertensystem. Jede kollektiv selbstverwaltete Einheit kann einen oder mehrere ihrer Mitglieder in ein föderales Gremium (Rat) delegieren. Die Delegierungen sind dabei zweckgebunden und jederzeit widerrufbar. Die Delegierten selbst sind an die Entscheidungen des Kollektivs gebunden und fungieren als Sprachrohr desselben und nicht als eigenständige Entscheidungsträger:innen. Delegierung zentralisiert keine Macht, sie vereinfacht nur Kommunikationsprozesse und schont zeitliche und personelle Kapazitäten. Delegierung ist deshalb auch beliebig oft potenzierbar. Falls es sich also notwendig oder zumindest sinnvoll erweist, kann es Föderationen mit mehreren Ebenen von Räten geben, die sich jeweils aus Delegierten der nächst-„niedrigeren“ Ratsebene zusammensetzen und wiederum weitere Delegierte für die nächsthöhere Ratsebene ernennen können. Ob sich eine solche vielschichtige Föderation anhand geographischer Dimensionen gliedert (also aus Ortsteil-, Orts-, Regions-, Landesräte usw. besteht), ob sie sich thematisch gliedert (also bei einer Wohnungsbauföderation aus Bewohner:innen-, Handwerker:innen-, Nachbar:innen-, Architekt:innenräten usw. besteht), ob sie eine komplett andere Gliederung oder eine Mischung aus mehreren nutzt, ist den Menschen in diesen Föderationen überlassen.

In der föderalen, basisdemokratischen Selbstverwaltung behalten also immer die Menschen selbst die Macht darüber, was in der Gesellschaft passiert und geben diese Macht nicht an eine kleine Gruppe von Herrschenden ab.

Solch ein System muss sich wie der Parlamentarismus und jedes andere System auch legitimieren und aufrechterhalten. Im Gegensatz zu staatlichen Verwaltungs- und Entscheidungsfindungsstrukturen funktioniert das ganz ohne Gewaltmonopol, dem Vorgaukeln von Volkswillen und Nationalismus. Es legitimiert sich einzig und allein durch den Grundsatz des Kommunismus: Jede Person trägt mit ihren Fähigkeiten zur Gesellschaft bei und profitiert nach ihren Bedürfnissen von der Gesellschaft.

Abschließend will ich nochmal eine Textempfehlung für „Die Eroberung des Brotes“ aussprechen. Das Buch dreht sich rund um das Thema alternative Gesellschaftskonzepte und wie sie praktisch zu erreichen wären. Es behandelt meine doch recht knappen Ausführungen nochmal wesentlich tiefer.

Im Großen und Ganzen sollte nun klar sein, dass der Parlamentarismus sowohl im Hier und Jetzt keine gute Bühne für den proletarischen politischen Kampf ist, als es auch nach der Überwindung des Kapitalismus nicht sein wird. Politische Parteien und der Parlamentarismus als Ganzes sind Schauplätze widerlichster Ellenbogen- und Machtpolitik, in der die größte Scheiße systemgewollt oben auf schwimmt. Diejenigen, die tatsächlich positive Veränderungen wollen und aus Unwissenheit, Naivität oder anderen Gründen Parteien, Parlamente und Petitionen als Mittel der Wahl sehen, kämpfen mit stumpfen Schwertern und unter hohem Burn-Out-Risiko für Veränderungen, die innerhalb des Systems gar nicht möglich sind. Dabei ist der Parlamentarismus gar nicht alternativlos. Ganz im Gegenteil, die Alternativen liegen in Form von Strategien und Utopien seit Jahrzehnten vor, sie warten nur auf ihre Umsetzung. Die einzige gesellschaftliche Kraft, die die Chance hat, die Menschen von wirtschaftlichen wie staatlichen als auch anderen sozialen Herrschaftsverhältnissen befreien zu können, sind wir – die lohnabhängigen Menschen auf der gesamten Welt. Der einzige Weg dorthin ist der Weg der sozialen Revolution; der kompromisslosen, vollständigen und allumfassenden sozialen Revolution, die außerparlamentarisch und durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht entsteht. Der Parlamentarismus wird uns dabei nicht helfen, er wird uns bekämpfen. Er ist nicht unser System und wird es auch nie sein.

DreiKaeseHoch

DreiKaeseHoch kommt aus Baden-Württemberg und ist erst seit Kurzem Anarchist. Aufgrund seiner recht turbulenten Lebenslage ist er derzeit nicht organisiert, beteiligt sich aber stattdessen an Übersetzungen für anarchismus.de und schreibt Texte über aktuelle Themen aus anarchistischer Perspektive. Derzeit arbeitet er als FSJler in einem Waldkindergarten.

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