Vor kurzem veröffentlichte ich mein erstes Buch. (1) Es trägt den Titel »Unmöglicher Wandel? - Weshalb die Utopie scheitert«. Darin habe ich die historische Entwicklung seit dem antiken Griechenland, dem Geburtsort der Demokratie, skizziert und versucht, aufzuzeigen, dass wir uns in einem gedanklichen Käfig befinden, der uns in unserer politischen Handlungsfähigkeit einschränkt. Psychologisch spricht man hier von der erlernten Hilflosigkeit. Diese führte insbesondere in den letzten 50 Jahren, also seit der neoliberalen Konterrevolution, zu einer politischen Apathie. Das Ziel des Buches besteht darin, deutlich zu machen, dass die sogenannte »Demokratie«, in der wir leben, in Wirklichkeit nichts anderes ist, als eine »Elitendemokratie«, die eine echte, partizipatorische Demokratie verhindert.
Seit der industriellen Revolution und den daraus entstandenen sozialistischen Bewegungen, gehe ich in meinem Buch auch auf den Anarchismus ein, der in der breiten Bevölkerung leider immer noch mit »Chaos« und »Regellosigkeit« assoziiert wird. Um diesem falschen Verständnis von Anarchie entgegenzuwirken, möchte ich anarchismus.de einen Ausschnitt meines Buches zur Verfügung stellen und dadurch auch einen kleinen Einblick ins Buch geben.
Die Geschichte des Kommunismus – und die spätere Auswirkung – ist gut bekannt. Weniger bekannt dagegen ist die Geschichte des Anarchismus. Deshalb ein kleiner Exkurs. Um hier einen Mythos beiseite zu schaffen: Nein, Anarchismus bedeutet nicht Chaos! Der Anarchismus hat einen sehr schlechten Ruf. In Wirklichkeit ist der Anarchismus die Utopie schlecht hin. Denn es ist eine Ideologie, die alle wichtigen Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit miteinander in Einklang bringt – nur ohne Herrschaft! Am besten lässt sich Anarchismus mit Ordnung ohne Herrschaft beschreiben. Es geht sogar um die Abschaffung des Staates überhaupt. Die Idee ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich sind – im ökonomischen und rechtlichen Sinne! – und in der sich alle völlig selbst organisieren. Denn wenn jedes Gesellschaftsmitglied seine Aufgabe hat und man wirklich gemeinwohlorientiert wirtschaftet – wozu braucht es da noch Unterdrückung und Ausbeutung? Selbst der bekannte – Sie sollten ihn kennen – US-amerikanische Intellektuelle, Linguist und Aktivist Noam Chomsky ist Anarchist. Genauer gesagt beschreibt er sich als libertären Sozialisten. In einem Interview mit Zeit Campus sagte er mal: »Sobald jemand illegitime Macht erkennt, herausfordert und überwindet, ist er Anarchist. Die meisten Menschen sind Anarchisten. Mir ist egal, wie sie sich nennen«. (2) Es gibt allerdings viele verschiedene Strömungen des Anarchismus, von denen einige diesen Namen nicht verdienen sollten. Ein Beispiel ist der »Anarcho-Kapitalismus«, der sich von den ursprünglichen sozialistischen Strömungen unterscheidet und der eher eine Extremform des Kapitalismus ist.
Die Geschichte des Anarchismus und des Kommunismus verlief ursprünglich zusammen. Während Marx und Engels die Protagonisten der kommunistischen Strömung waren, wurde die anarchistische Strömung besonders von Michail Bakunin (1814-1876) angeführt. Zusammen gründeten sie 1864 die erste internationale Arbeiterassoziation (IAA; auch Erste Internationale genannt), deren Ziel es war, »den Schutz, den Fortschritt und die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse« zu erreichen. (3) Wegen der Differenzen zwischen Anarchisten und Kommunisten (die Kommunisten wollten eine zentralistische Regierung, während die Anarchisten, gemäß ihres Ideals, den Staat und die Regierung abschaffen wollten), kam es schließlich zum Streit zwischen Marx und Bakunin und damit 1872 zur Spaltung der Ersten Internationalen – in einen »roten« (kommunistischen) und einen »schwarzen« (anarchistischen) Block. Die Erste Internationale löste sich 1876 bzw. 1877 endgültig auf, wurde aber am 1922 von den sogenannten »Anarchosyndikalisten« neu gegründet und besteht noch heute unter dem Namen »International Workers Association«.
Der 1. Mai, der »Tag der Arbeit«, dürfte Ihnen bekannt sein, oder? Das ist der Feiertag, an dem man mit ein paar Leuten und einem Bollerwagen umherzieht, den Grill anschmeißt und sich meist dabei die Hucke vollsäuft. Doch kennen Sie die Geschichte dahinter? Der Tag nennt sich auch »Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse« und er soll daran erinnern, wie sich das Proletariat weltweit den Achtstunden erkämpft hatte. Dabei spielte die Erste Internationale eine wesentliche Rolle. Bereits 1840 stellte ein in London geborener Schreiner namens Samuel Parnell die Bedingung an seinen Arbeitgeber, »dass die Arbeitszeit nur acht Stunden pro Tag betragen soll«. (4) Und weiter merkte er an: »Uns sind vierundzwanzig Stunden pro Tag gegeben; acht davon sollten für die Arbeit sein, acht für den Schlaf, und die restlichen acht für die Erholung und in denen die Männer die kleinen Dinge tun können, die sie für sich selbst wollen. Ich bin bereit, morgen früh um acht Uhr aufzubrechen, aber es muss unter diesen Bedingungen geschehen oder gar nicht«. Das nenne ich äußerst selbstbewusst. Er überzeugte auch die anderen Arbeiter in Wellington davon und schließlich wurde der erste Achtstundentag beschlossen – von 8:00 morgens bis 17:00 abends (eine Stunde Pause inklusive). Wer das nicht akzeptieren wollte, der wurde angeblich einfach in den Hafen geworfen. Den ersten Achtstundentag mit vollem Lohnausgleich erkämpften die australischen Steinmetze in Melbourne im Jahre 1856. Der Text eines Arbeiterliedes lautete: »Acht Stunden zum Arbeiten, Acht Stunden zum Spielen, Acht Stunden zum Schlafen, Acht Schilling am Tag. Ein fairer Tag Arbeit, für einen fairen Tageslohn«. (5) Nachdem die Bauunternehmen den Forderungen nicht nachkamen, legten die Arbeiter am 21. April 1856 ihre Werkzeuge nieder und marschierten zum Parlamentsgebäude. Damit hatten sie gemeinsam den Achtstundentag erkämpft und bekamen dafür denselben Lohn wie zuvor für zehn Stunden Arbeit!
Der internationale Durchbruch wurde erst zehn Jahre später eingeleitet. Im August 1866 verfasste Marx die »Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen«, die er auf dem Genfer Kongress vorstellte. (6) Darin hieß es: »Wir schlagen 8 Arbeitsstunden als gesetzliche Schranke des Arbeitstages vor. Diese Beschränkung wird bereits allgemein verlangt von den Arbeitern der Vereinigten Staaten Amerikas, und der Beschluß des Kongresses wird sie zur allgemeinen Forderung der Arbeiterklasse der gesamten Welt erheben«. (7) Erst 1884 führte der Frankfurter Chemiekonzern Degussa (heute Evonik) als erstes deutsches Unternehmen den Achtstundentag ein. Ab dem 1. Mai 1886 kam es dann zu einem großen mehrtägigem Generalstreik in den USA, an dem zwischen 300.000 und 500.000 Arbeiter beteiligt waren. Besonders in Chicago ging es zur Sache. Auf dem Haymarket Square kam es zu Aufruhen, die als Haymarket Riot oder auch Haymarket Affäre in die Geschichte eingingen. Dies war ein Schlüsselereignis der Arbeiterbewegung.
Empfehlenswert dazu ist der Arte-Dokumentarfilm »Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie«, welcher dieses und weitere wichtige Ereignisse der Anarchismus-Bewegung sehr anschaulich darstellt. (8) Der Generalstreik wurde von der örtlichen Polizei gewaltsam aufgelöst. Die Arbeiter reagierten daraufhin mit einer Protestkundgebung. Wieder versuchte die Polizei die Demonstration aufzulösen, als plötzlich eine Bombe explodierte, die ein Dutzend Polizisten tötete und weitere schwerverletzte. Die Situation eskalierte. Die Polizei reagierte mit Waffengewalt, schoss um sich und tötete dabei mehrere Demonstranten – sie gaben den Anarchisten die Schuld für den Anschlag, obwohl es keine Beweise dafür gab. Trotzdem wurden Dutzende Anarchisten festgenommen, die angeblich für den Anschlag verantwortlich gewesen seien – dabei waren einige von ihnen nicht einmal bei den Demonstrationen anwesend. Acht Anarchisten wurden angeklagt, fünf von ihnen wurden zum Tode verurteilt, einer begann Selbstmord in seiner Zelle und die anderen vier wurden gehängt – ein Exempel wurde statuiert. Im Jahre 1893 begnadigte der Gouverneur von Illinois alle verurteilten (und gehängten) Anarchisten; sie waren unschuldig! Beschuldigt wurde stattdessen die Polizei, genauer gesagt der Polizeichef von Chicago, der diesen Anschlag angeblich organisiert und inszeniert hatte. Unglaublich, oder? Die hingerichteten Anarchisten wurden daraufhin zu Märtyrern und internationalen Volkshelden. Doch schon im Juli 1889 wurde der 1. Mai zum Gedenktag der Opfer der Haymarket Affäre erklärt und ab 1890 kam es zum ersten Mal zu Massenstreiks an diesem Protest- und Gedenktag – der »Internationale Kampftag der Arbeiterklasse« ward geboren! Es dauerte noch bis 1918 um den Achtstundentag in Deutschland gesetzlich zu verankern. Die USA folgten erst 1938. Was wir also für selbstverständlich halten, haben wir den jahrzehntelangen Streiks der Arbeiterklasse zu verdanken.
Zum Schluss möchte ich noch einen Diskurs anregen. Da ich im Buch vorwiegend auf die Demokratie eingehe, stellt sich für mich die Frage, ob Demokratie und Anarchismus unvereinbar sind? Meiner Ansicht schließen sich diese Organisationsformen keinesfalls aus, sondern ergänzen sich viel mehr. Denn eine anarchistische Gesellschaft kann sich durch eine echte, partizipatorische Demokratie überhaupt erst gleichberechtigt organisieren. Selbstverständlich ist es wichtig, das wirkliche Wesen von Demokratie hier zu erläutern.
Denn allzu oft wird die Demokratie auf den reinen Wahlprozess reduziert, was jedoch falsch ist. Dazu möchte ich Rainer Mausfeld zitierten, emeritierten Professor für Allgemeine Psychologie: »Wahl ist nicht das Wesen von Demokratie; Partizipation und Austausch in einem Debattenraum sind das Wesen von Demokratie«. (9) Hier möchte ich auch Mausfelds neues Buch »Hybris und Nemesis« (10) empfehlen, in welchem das Verhältnis von Macht und Gegenmacht der letzten 5000 Jahre sehr tiefgreifend analysiert wird. Für das Verstehen von Herrschaft im Rahmen der Anarchismus-Bewegung ist dieses Werk sich sehr bedeutend.
Fußnoten:
Zum Buch: Das Buch wurde über Books on Demand (BoD) veröffentlicht und lässt sich unter diesem Link bestellen.