Die Abschaffung des Kapitalismus wird das Patriarchat nicht abschaffen


Zoe Baker
Anarchafeminismus Zoe Baker Theorie Patriarchat

Es wird oft behauptet, dass durch die Abschaffung des Kapitalismus auch das Patriarchat abgeschafft würde. Diese Annahme beruht in der Regel auf einer bestimmten Definition der Beziehung zwischen Ökonomie und dem Rest der Gesellschaft. Ich benenne diesen Denkansatz hier als ökonomischen Determinismus.

Dem ökonomischen Determinismus zufolge besteht die Gesellschaft aus zwei unterschiedlichen und voneinander getrennten Ebenen: Die wirtschaftliche Basis und dem Überbau. Die wirtschaftliche Basis besteht aus den Produktionskräften - d. h. der Technologie einer bestimmten Gesellschaft und den besonderen menschlichen Fähigkeiten, bestimmte Dinge zu produzieren - und den Produktionsbeziehungen, d. h. den sozialen Beziehungen, durch die diese Produktionsprozesse ablaufen, wie z. B. die Lohnarbeit. Der Überbau umfasst alle anderen Aspekte der Gesellschaft, einschließlich Formen des Bewusstseins und in bestimmten Gesellschaften einen rechtlichen und politischen Überbau, wie z.B. einen Staat oder eine Regierung und den dazugehörigen Rechtsapparat. Der Inhalt des Überbaus wird in erster Linie durch den Inhalt der wirtschaftlichen Basis im Allgemeinen und der vorherrschende Produktionsweise im Besonderen bestimmt. Diese Bestimmungen äußern sich vor allem darin, dass die ökonomische Basis den Überbau so formt, dass dieser die Reproduktion der ökonomischen Basis ermöglicht. Der Überbau bestimmt die ökonomische Basis, aber die ökonomische Basis ist nichtsdestotrotz primär.

Nach dieser Auffassung ist das Patriarchat Bestandteil des Überbaus und wird daher (a) in erster Linie durch die wirtschaftliche Basis bestimmt und (b) so gestaltet, dass es die Reproduktion der wirtschaftlichen Basis ermöglicht. So verrichten Frauen beispielsweise unbezahlte Hausarbeit, weil sie so die Reproduktion der Arbeiterklasse sicherstellen, für die Ehemänner wird gekocht oder Kinder, die zukünftige Arbeitskräfte sind, werden geboren und aufgezogen. Da diese Arbeit unbezahlt ist, bedeutet dies, dass die Kapitalisten nicht die vollen Kosten für die Reproduktion der Arbeiterklasse zahlen müssen und somit mehr Profit machen können. Oder die Männer der Arbeiterklasse misshandeln ihre Frauen, als Reaktion auf die eigene Entfremdung und Unterdrückung im Kapitalismus, so lassen sie ihre Frustration und Wut an ihren Frauen aus, anstatt an ihren Bossen.

Wenn das Patriarchat auf dem Fundament der kapitalistischen Wirtschaft ruht, so wird angenommen, dass die Abschaffung des Kapitalismus zur Abschaffung des Patriarchats führen wird. Denn wenn das Patriarchat die Funktion hat, den Kapitalismus zu reproduzieren, dann wird mit der Abschaffung des Kapitalismus auch das Patriarchat abgeschafft, weil eine sozialistische Gesellschaft das Patriarchat nicht mehr braucht, um sich zu reproduzieren. Diese Annahme geht in der Regel mit der Behauptung einher, dass das Patriarchat aus der Klassengesellschaft hervorgegangen ist und dass wir daher, wenn wir die Klassengesellschaft abschaffen, auch das Patriarchat abschaffen.

Im ökonomischen Determinismus sind jedoch mehrere Annahmen nicht richtig.

Argument Eins:

Die Ökonomie ist nicht die Grundlage für alle sozialen Beziehungen, so dass die Beseitigung der Grundlage nicht alle sozialen Beziehungen beseitigen würde. Vielmehr legt die Ökonomie Parameter fest, innerhalb derer manche soziale Beziehungen existieren, denn soziale Organisation hängt davon ab, was mit der täglichen Reproduktion der Menschen vereinbar ist. Das Primat der ökonomischen Basis sollte daher so verstanden werden, dass die ökonomische Basis die Möglichkeit bietet, dass Überstrukturen bestimmte Formen annehmen können, und dass sie den Formen, die Überstrukturen annehmen können, Grenzen setzt.

Die wirtschaftliche Basis ermöglicht es dem Überbau, bestimmte Formen anzunehmen, weil ein bestimmter Entwicklungsgrad der Produktivkräfte und bestimmte Formen der Produktionsbeziehungen erforderlich sind, damit eine bestimmte institutionelle Komponente eines Überbaus existieren kann. So ist beispielsweise ein moderner Staat historisch abhängig von den Kräften und Produktionsverhältnissen, die eine solche soziale Institution erst möglich machen, wie etwa die moderne Telekommunikation oder die Eisenbahn.

Die Grenzen, die die wirtschaftliche Basis dem Überbau auferlegt, bestehen in dem Umfang der möglichen Formen, die der Überbau annehmen kann, ohne die Reproduktion der wirtschaftlichen Basis wesentlich zu beeinträchtigen. Diese Grenzen haben zur Folge, dass sich der Überbau nur bis zu einem bestimmten Punkt verändern kann, wenn die ökonomische Basis dies tut. Die ökonomische Basis setzt dem Überbau diese Grenzen, denn eine Voraussetzung für die Reproduktion des Überbaus ist die Reproduktion der ökonomischen Basis, da eine Gesellschaft ohne die Produktion von Gütern wie Nahrung oder Kleidung oder ohne die Instandhaltung ihrer Infrastruktur nicht lange bestehen kann. Darauf bezieht sich Marx, wenn er in Band 1 des Kapitals schreibt, dass „das Mittelalter nicht vom Katholizismus und die antike Welt nicht von der Politik leben konnte. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben gewannen, erklärt umgekehrt, warum dort die Politik, hier der Katholizismus die Hauptrolle spielte” (Marx 1990, 176). Eine zentrale Grenze, die dem Überbau auferlegt wird, ist die Forderung, dass der Überbau jene Elemente enthalten muss, die die ökonomische Basis für ihre Reproduktion benötigt, wie z. B. der Kapitalismus, der einen Überbau benötigt, der die Rechte des Privateigentums durchsetzt.

In dem Maße, wie sich die wirtschaftliche Basis und der Überbau entwickeln, geraten sie in Konflikt miteinander. Es gibt zwei Hauptarten von Konflikten. Beim ersten entwickelt sich die wirtschaftliche Basis in eine Richtung, die eine neue Konfiguration von Grenzen schafft. Dies wiederum übt Druck auf den Überbau aus, sich zu verändern, um seine Reproduktion zu gewährleisten. Beim zweiten Konflikt entwickelt sich der Überbau in einer Weise, die mit den bestehenden, von der wirtschaftlichen Basis gesetzten Grenzen unvereinbar ist und dadurch die Reproduktion der wirtschaftlichen Basis behindert oder verhindert. Der Konflikt zwischen dem Überbau und der wirtschaftlichen Basis führt entweder zu einer Veränderung des Überbaus, so dass sie dieser in die von der wirtschaftlichen Basis gesetzten Grenzen einfügt, oder zu einer Veränderung der wirtschaftlichen Basis, so dass sie der derzeitigen Entwicklung des Überbaus keine Grenzen mehr setzt. Diese Veränderungen können entweder in Form einer Modifikation einer bestehenden Sozialstruktur oder eines Übergangs zu einer völlig neuen Sozialstruktur erfolgen.

Die Frage, die sich Sozialist:innen stellen müssen, lautet daher: „Ist das Patriarchat mit den Grenzen vereinbar, die eine sozialistische Gesellschaft schafft?“. Meine Antwort auf diese Frage lautet: Ja, das Patriarchat ist mit dem Sozialismus vereinbar. Es gibt nichts, was der Arbeiter:innen-selbstverwaltung oder dem kollektiven Eigentum von Produktionsmitteln innewohnt, das verhindert, dass Sexismus existiert oder dass Frauen sowie trans- und nicht-binäre Menschen unterdrückt werden. Dies zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass das Patriarchat auch während der Russischen und der Spanischen Revolution ein massives Problem darstellte, obwohl hier die Arbeiterkontrolle in großem Umfang eingeführt wurde. Es zeigt sich auch heute in linken Bewegungen, die patriarchalisch sind, obwohl sie sich direktdemokratisch organisieren und so die Organisationsformen einer sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen. Die Abschaffung des Kapitalismus wird also nicht dazu führen, dass das Patriarchat verschwindet. Stattdessen wird das Patriarchat durch andere wirtschaftliche Beziehungen vermittelt werden. Es wird Arbeiter:innen-selbstverwaltung geben, aber Frauen werden weiterhin vergewaltigt und misshandelt. Es wird eine direkte Demokratie geben, aber die Männer werden weiterhin das Sagen haben. Sie werden das Mikrofon des Volkes haben, aber den Überlebenden von Vergewaltigungen wird nicht geglaubt werden.

Argument Zwei:

Die Tatsache, dass x die Funktion hat, zur Reproduktion von y beizutragen, bedeutet nicht, dass die Beseitigung von y auch x beseitigt. X kann zur Reproduktion von y beitragen, ohne dass die Reproduktion von x notwendigerweise die Reproduktion von y erfordert. Das Patriarchat ist eine solche soziale Struktur. Seine Reproduktion ist nicht von der Reproduktion des Kapitalismus abhängig, obwohl es bei der Reproduktion des Kapitalismus eine Rolle spielt. Vielmehr wird das Patriarchat durch Dinge wie missbräuchliche Beziehungen, Sozialisierung in Geschlechterrollen, sexistische Stereotypen, Menschen, die sexistisches Verhalten spiegeln, das sie in ihrer Kindheit gesehen haben, das Fehlen positiver Darstellungen von Frauen in der Kunst und so weiter reproduziert. Natürlich gibt es bestimmte Elemente des heutigen Patriarchats, die den Kapitalismus voraussetzen. Sexistische Werbung zum Beispiel kann es nur geben, wenn es überhaupt Werbung gibt. Aber das gilt nicht für zahllose andere Beispiele, wie z. B. die Nichtberücksichtigung von Wissenschaftlerinnen in wissenschaftlichen Dokumentarfilmen oder den Ausschluss von Frauen aus der Gaming-Kultur.

Dieser Punkt gilt auch für das Argument, dass die Klassengesellschaft das Patriarchat hervorgebracht hat und daher die Abschaffung der Klassengesellschaft das Patriarchat beenden wird. Das Patriarchat kann anfangs von der Klassengesellschaft hervorgebracht werden, dann aber seine eigenen Reproduktionsmechanismen entwickeln, die sich selbst tragen und die Existenz der Klassengesellschaft nicht erfordern, um zu funktionieren. Auch wenn bestimmte Merkmale des gegenwärtigen Patriarchats die Existenz der Klassengesellschaft voraussetzen, wie etwa die für die herrschende Klasse spezifischen Geschlechterrollen, ist das Patriarchat als Ganzes nicht auf die Existenz der Klassengesellschaft angewiesen. Kurz gesagt, das Patriarchat hat sich, wie Dr. Frankensteins Monster, verselbständigt.

Argument Drei:

In den „Thesen über Feuerbach“ fordert Marx uns auf, das menschliche Leben als „sinnliche menschliche Tätigkeit“ zu betrachten (Marx 1845). Marx fordert uns auf, den Menschen konkret als real verkörperten Menschen mit Bewusstsein zu betrachten, der sich betätigt, Erfahrungen macht und über Dinge nachdenkt. Die Gefahr abstrakter Modelle wie der Basis-Überbau-Metapher besteht darin, dass wir uns im Modell verheddern und aus den Augen verlieren, was das Modell eigentlich beschreiben sollte, nämlich reale menschliche Wesen. Wir müssen daher verstehen, dass soziale Strukturen nicht genauso wie reale physische Strukturen, von z.B. Gebäuden, existieren. Sie sind lediglich ein begriffliches Instrument, um über das Netz sozialer Beziehungen nachzudenken, das reale Menschen im Laufe ihrer Existenz schaffen und in dem sie leben.

Zu sagen, dass der Kapitalismus abgeschafft wurde, bedeutet, dass sich die sozialen Strukturen so verändert haben, dass die Menschen einander nun durch sozialistische soziale Beziehungen begegnen. Das wiederum bedeutet, dass sich die realen Alltagserfahrungen der Menschen von Erfahrungen des Kapitalismus zu Erfahrungen des Sozialismus gewandelt haben. Wenn wir uns also die Abschaffung des Kapitalismus vorstellen wollen, dürfen wir dies nicht nur vom Standpunkt eines abstrakten Modells aus tun, sondern müssen dies auch aus der Sicht der realen Menschen und ihrer bewussten Erfahrungen in der ersten Person tun. Eine Person, die zum Sexismus erzogen wurde, in einer sexistischen Gesellschaft lebt und sexistisches Verhalten an den Tag legt, wird nicht auf magische Weise aufhören, sexistisch zu sein, weil der Kapitalismus abgeschafft wurde. Sie wird nicht am Tag nach der Revolution aufwachen und plötzlich feststellen, dass sie Frauen nicht mehr als Sexobjekte betrachtet und ihre Frau nicht mehr schlagen will. Sie wird nicht plötzlich aufhören, sich Frauen gegenüber herablassend zu verhalten oder Fremden auf der Straße sexuelle Belästigungen zuzuschreien. Vielmehr wird diese Person aufwachen und zu ihrem Arbeitsplatz in einer von Arbeitnehmer:innen kontrollierten Kunstgalerie gehen und in ihrer Mittagspause Lebensmittel aus einem von Arbeitnehmer:innen kontrollierten Supermarkt holen. Sie wird wissen, wie man demokratisch Entscheidungen trifft, und froh sein, dass sie keinen Chef mehr hat. Was sich durch das Ende des Kapitalismus nicht ändern wird, ist ihr Sexismus.

Wenn die Abschaffung des Kapitalismus das Patriarchat nicht abschaffen wird, was dann? Die Antwort ist der bewusste feministische Kampf gegen das Patriarchat, der sich nicht auf den Kampf gegen den Kapitalismus reduzieren lässt, weil wir gegen eine andere Art von sozialen Strukturen kämpfen. Wenn wir eine freie Welt erschaffen wollen, müssen wir gegen alle Formen von Herrschaft gleichzeitig kämpfen. Was wir brauchen, ist intersektionaler Klassenkampf.

Das Originalvideo findest Du hier.

Das englische Transkript lässt sich hier lesen.

Übersetzung: Anna

Zoe Baker

Ich bin eine Transfrau (sie/ihr), die über die Theorie und Geschichte des Anarchismus, Feminismus und Marxismus spricht. Autorin von "Means and Ends: The Revolutionary Practice of Anarchism in Europe and the United States". Ich habe zur Geschichte des Anarchismus promoviert.

Empfohlene Lektürelisten und Skripte meiner Videos finden sich in meinem Blog.

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