Deutsche Übersetzung: DreiKaeseHoch, epoillac
The State is Counter Revolutionary ist ursprünglich ein vierteiliger Video-Essay auf Daniel Baryons YouTube-Kanal „Anark“.
Zusätzlich lud er das Skript dieses Video-Essays in leicht abgewandelter Form auf der Anarchist Library hoch. Dieses Skript dient als Grundlage für die Übersetzung.
Lasst uns also mit der Analyse fortfahren, die wir im ersten Teil dieses Aufsatzes begonnen haben. Im letzten Teil haben wir erkundet, weswegen der Staat, von einem theoretischen Standpunkt, eine von Natur aus konterrevolutionäre und antisozialistische Institution ist und haben dann beschrieben welche ideologischen Trends zu seinem Aufkommen innerhalb der Linken führten. In diesem Teil werden wir die Entwicklung der leninistischen Methode, wie sie zuerst in der UdSSR praktiziert wurde, nachverfolgen und ihren materiellen Einfluss als eine rechtfertigende Ideologie nachweisen. In Teil 3 werden wir die Weiterführung dieses ideologischen Ansatzes, wie er sich im Maoistischen China manifestierte, nachvollziehen und uns anschauen, wie Maos Revisionen weiterhin unzureichend waren, um den Staat davon abzuhalten, schlussendlich doch die Kontrolle durch Arbeitenden zu überwältigen.
Dieser zweite und dritte Teil des Aufsatzes sind meiner Meinung nach sehr wichtig, da die Versuchung der autoritären Ideologie in dem Glauben liegt, sie hätte Erfolge vorzuweisen, wo sie durchgesetzt wurde. Wir werden hier allerdings zeigen, dass der Erfolg dieser Projekte nicht der Erfolg des Sozialismus ist, sondern stattdessen eine Demonstration, dass das etatistische1 Modell der Zentralisierung und militärischen Konformität Teil einer erfolgreichen Methode der Machtanhäufung durch eine privilegierte Herrscherklasse ist.
Durch diese Linse betrachtet wird Langlebigkeit nebensächlich. Niemand hatte Zweifel darüber, dass eine zentrale Kaderpartei2 erfolgreich die Kontrolle an sich reißen und einen vorherigen zentralen Diktator stürzen könne; dies ist ja schließlich wie jede bürgerliche Revolution ausgeführt wurde. Was hier geklärt werden muss, ist, ob diese Methode die Kontrolle der Gesellschaft durch Arbeitenden herbeiführen kann. Und wie wir sehen werden, kann sie es nicht.
Im ersten Teil dieses Aufsatzes haben wir eine Reihe an Fundamentalkritiken und ein wenig der anarchistischen Theorie, die den Staat als Wesen erklärt, skizziert. Wir haben außerdem zugehört, wie Rosa Luxemburg, eine Zeitgenossin Lenins, die Fundamente seiner Ideologie kritisierte und ihre Skepsis an seinem Organisationsethos äußerte. Der Anarchist Michail Bakunin sah allerdings viel weiter. Wir haben uns seine Vorhersagen für diesen Teil aufgespart, da ich sie gerne frisch im Gedächtnis hätte, während wir vorfahren.
Bakunin musste nicht einmal Lenin gelesen haben, um zu wissen, welcher Opportunismus kommen würde. Tatsächlich konnte er die Vorstufen einer solchen Legitimierung in Marx sehen. So schreibt er beispielsweise 1869, fünfzig Jahre vor dem Anfang der UdSSR, geschrieben:
Die Diktatur des Proletariats... wäre in Wahrheit ein Barackenregime, in dem die standardisierten Massen von Männern und Frauen zum Paukenschlag aufwachen, schlafen, arbeiten und leben würden; für die Schlauen und Gelernten ein Privileg des Herrschens: und für die söldnerisch gesinnten, angezogen von der Staatskasse, ein großes Feld lukrativer Arbeit.3
Und später, 1873:
Die Anführenden der Kommunistischen Partei, vor allem Herr Marx und seine Gefolgsleute, werden die Regierungsgewalt in einer starken Hand konzentrieren. Sie werden alle kommerzielle, industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion zentralisieren und dann die Massen in zwei Armeen teilen, eine industrielle und eine landwirtschaftliche, unter die direkte Weisung der Staatsingenieure, welche die neue privilegierte wissenschaftliche und politische Klasse bilden werden.[^12]
Wie kam es dazu, dass, trotz der Evolution der Ideologie von Marx über den Lauf seines Leben, Bakunin so eindeutig diese Gefahr vorhersehen konnte? Es ist nicht unbedingt, weil Bakunin Marx genau verstanden hatte, sondern eher, dass Marx Begriffe gewählt hat, die seine Wünsche kaschieren. Es spielte keine Rolle, ob, nach Auseinandernehmen und Analysieren, Marx kein Autoritärer war; dadurch, dass er von "Diktaturen" des Proletariats und "Arbeitendenstaaten" sprach, hat Marx zugelassen, dass die politische Sprache der Autoritären seine Rhetorik bestimmte. Dass Autoritäre später diese Rhetorik zur Legitimation ihrer Macht umformulieren würden, ist nicht schockierend. Dies ist, tatsächlich, was in Russland die "linguistische Wende" genannt wird. In dieser Sichtweise sind Bakunins Kritiken adressiert an das, was aus der Ideologie von Marx würde, sollte sie von einem zentralisiertem Staat vereinnahmt werden.
Letztendlich erkannten Bakunin und andere zeitgenössische Anarchist:innen, dass ein Staat, also eine zentralisierte, hierarchische Machtstruktur, die ein Gewaltmonopol zu errichten versucht, in natürlicher Opposition zum Sozialismus steht, sofern Sozialismus die Kontrolle der Produktionsmittel durch die Arbeitenden bedeutet. Jede Bürokratie, die die Arbeitenden beherrscht, und ihre Arbeit befehligt, ihre Entschädigung festlegt, und ihre Produktion und Verteilung bestimmt, reproduziert unweigerlich ein Klassensystem, ungeachtet der Ästhetik, die sie sich aufmalt. Behaltet diese Vorhersagen Bakunins und die Untersuchungen des letzten Teils dieses Aufsatzes im Gedächtnis, während wir durch diesen Teil und den nächsten fortfahren. Jede wird sich in beiden Projekten im Vollsten bewahrheiten.
Im Jahr 1917 befand sich Russland tief in der Verzweiflung des Ersten Weltkriegs. Obwohl der Konflikt ursprünglich ein Schlachtruf war, der die Massen von ihrem Leiden unter Tsar Nikolaus II. ablenken sollte, kamen die Soldat*innen nun Heim von einem sinnlosen, traumatisierenden Krieg, nur um ihre Ehepartner*innen in Suppenküchen zu und große Teile der industriellen Arbeitendenschaft in frühen Konflikten mit dem Staat vorzufinden. Sowohl die Bäuer*innenschaft als auch das städtische Proletariat hatten das Vertrauen in die Regierung verloren. Die Kombination von Kriegsmüdigkeit, wachsender Unzufriedenheit mit der Institution der Monarchie selbst, als auch Essensknappheit hatten die Bevölkerung zu Massenstreiks und Aufständen bewegt. Die Regierung selbst war aufgrund einer Reihe unkluger Entscheidungen zersplittert. Als die Inflation wuchs und der Krieg die russische Teilnahme am Weltmarkt behinderte, war das russische Volk an seiner Belastungsgrenze angelangt. Die Reaktion aus der Überschreitung dieser Belastungsgrenze wird später die Februarrevolution genannt werden. Nachdem seine Truppen ihn verlassen hatten und die Massen sich gegen ihn verbündet, dankte Tsar Nikolaus gegen Ende Februar 1917 ab.
Nach diesen Ereignissen wurde eine provisorische Regierung gebildet, die von einem Mann namens Alexander Kerenski geführt wurde. Doch war diese Regierung nicht für die Ewigkeit bestimmt. Während der Bildung der provisorischen Regierung bereits hatten Arbeitenden, inspiriert durch sozialistische Theorie, mit der Bildung von direktdemokratischen Organen und Gewerkschaften begonnen. Obwohl diese viele Formen annahmen, werden wir die direktdemokratischen Organe "Fabrikkomitees" nennen und die allgemeinen, repräsentativen Organe "Gewerkschaften". Diese Unterscheidung ist wichtig: Die Fabrikkomitees waren nicht einfach Gewerkschaften. Sie wurden nicht durch eine interne Hierarchie verwaltet und sie versuchten nicht nur, mit den Fabrikbesitzern zu verhandeln; sie versuchten, kollektiv die neuen Fabrikbesitzenden zu werden. Die Fabrikkomitees rissen häufig die Produktionsmittel aus der Hand der Kapitalist*innen und richteten die direkte Arbeitendenkontrolle durch demokratische Mittel ein, wohingegen die Gewerkschaften durch interne Wahlen charakterisiert wurden und als Vermittelnde zwischen Arbeitenden und Fabrikbesitzenden fungierten.
In dieser Periode wurden Mechanismen der direkten Arbeitendenkontrolle so schnell errichtet, dass das Volk eigentlich bereits Strukturen der Gegenmacht gebaut hatten, die die Staatsmacht anzweifeln konnten. Maurice Brinton erklärt dies in seinem Werk Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle:4
Sowjets und Fabrikkomitees entstehen überall in erstaunlicher Anzahl. Ihr Anwachsen kann nur durch die außerordentlich radikalen Aufgaben erklärt werden, denen sich die Arbeitendenklasse gegenübersah. Sowjets und Komitees waren mit den täglichen Sorgen der Arbeitendenklasse viel vertrauter als die Gewerkschaften. Sie eigneten sich deshalb besser zum ausführenden Organ für die Bedürfnisse der Arbeitendenklasse.
Selbst der Historiker E. H. Carr, ein Gelehrter, der in der Vergangenheit eine Affinität für die Bolschewiki bewiesen hat, musste dieser Periode anerkennen, dass "die spontane Neigung der Arbeitenden, Fabrikkomitees zu organisieren und in die Führung der Fabrik einzugreifen, wurde unweigerlich von einer Revolution gefördert, die die Arbeitenden daran glauben ließ, dass die produktive Maschinerie des Landes ihnen gehöre und von ihnen nach ihrem eigenen Belieben und zu ihrem eigenen Vorteil genutzt werden könne."5
Das bedeutet, dass während dieser Periode die Arbeitenden nicht der Überzeugung waren, dass die Organe, die sie bildeten, die revolutionäre Vorhut vorwegnehmen sollten. Stattdessen wollten sie sozialistische Eigentumsverhältnisse direkt umsetzen. Und tatsächlich war dieser Geist der Selbstbestimmung und basisdemokratischen Kontrolle von unten nach oben unverkennbar in der ersten nationalen Konferenz der Fabrikkomitees 1917 laut dessen Erklärung die Fabrikkomitees selbst "alle Vorgaben bezüglich interner Fabrikorganisation vorgeben sollten", einschließlich der "Arbeitsstunden, Gehälter, Personalfragen, Urlaubstage, usw."
Dies wurde eindeutig in der anarchosyndikalistischen Zeitschrift "Golos Truda" widergespiegelt, welche schrieb, dass das Volk "totale Arbeitendenkontrolle, die den Betrieb aller Fabriken umfasst, reelle und nicht fiktive Kontrolle, Kontrolle über Arbeitsplatzregeln, Personalfragen, Arbeitsstunden und Gehälter, und die Vorgänge der Produktion" forderte.
Die Bolschewiki, obwohl sie die Ansicht vertraten, dass Zentralisierung notwendig war, konnten dies nicht öffentlich zeigen, solange die Revolution noch zugange war. Die Fabrikkomitees waren die Kampforganisationen des wirtschaftlichen Aufstandes. Tatsächlich gaben die Bolschewiki eine öffentliche Erklärung, dass die Fabrikkomitees "der Rammbock [seien], der dem Kapitalismus den Todesschlag versetzen würde, Organe des Klassenkampfes, die von der Arbeitendenklasse eigenständig erschaffen wurden."
Unter den Bedingungen der massenhaften Agitation der Arbeitenden und der direkten Kontrolle durch sie fuhren die Bolschewiki einen massiven Wahlerfolg ein, der ihnen die Mehrzahl der Stimmen einbrachte. Im Oktober des selben Jahres wurde die provisorische Regierung gestürzt, ein Ereignis, welches heute die Oktoberrevolution genannt wird.
Währenddessen formierten interne gegnerische Kräfte, die schließlich die Weiße Armee genannt werden würden, und der Russische Bürgerkrieg war kurz davor, zu beginnen. Ebenso grollten die Vorbeben bolschewistischer Sabotage der Arbeitendenkontrolle und der Unterdrückung von Dissens. Kurz nach der Revolution, während des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses, war ein bolschewistischer Sprecher bereits dabei, die Arbeitenden der Partei gefügig zu machen:
In diesen Tagen werden neue Gesetze zur Lage der Arbeitendenklasse erlassen werden. Eins der wichtigsten wird die Arbeitendenkontrolle der Produktion und die Wiedereinführung normaler Zustände in der Industrie regeln. Streiks und Massenaktionen schaden in Petersburg. Wir bitten euch, alle Streiks für ökonomische und politische Forderungen abzubrechen, die Arbeit wieder aufzunehmen und in disziplinierter Weise auszuführen... Jede*r an seinem Platz. Die beste Art, die Sowjetregierung im Augenblick zu unterstützen, besteht darin, die Arbeit fortzusetzen.
Und tatsächlich: Die UdSSR existierte lediglich einen Monat bevor Lenins Verordnungsentwürfe erlassen wurden, dunkle Vorzeichen der schließlichen Auflösung der Fabrikkomitees und damit jeder Hoffnung für den russischen Sozialismus. Auch wenn es so scheint, als ob Lenins erste Verordnung die Errungenschaften der Fabrikkomitees von vor der Oktoberrevolution verfestigte, beinhaltete diese ein tödliches Gift, nämlich, dass "die Entscheidungen der gewählten Vertretenden der Arbeitenden und Angestellten für Eigentümer*innen der Produktionsmittel bindend sind, dass sie aber von Gewerkschaftskongressen außer Kraft gesetzt werden könnten." Des weiteren wurde verordnet, dass "in allen Unternehmen von staatlicher Bedeutung die Delegierten in ihrer Ausübung der Arbeitendenkontrolle gegenüber dem Staat für die Erhaltung der Disziplin und Erhaltung der Eigentumsverhältnisse rechenschaftspflichtig sind."
Was aber galt als "Unternehmen von staatlicher Bedeutung"? Es waren "alle Betriebe, die Güter für die Verteidigung des Landes oder die lebenswichtige Güter für die Massen herstellen oder mit diesen verbunden sind." Wenn diese äußerst weiten Bedingungen erfüllt waren, konnte jede*r Delegierte, die*der durch die Arbeitenden eingesetzt wurde, von den Bolschewiki abgesetzt werden, wodurch die Verwaltung durch die Arbeitenden komplett durch die Staatsmaschinerie untergraben wurde. Es mag so scheinen, als sei es durchaus utilitaristisch gewesen, in Betracht auf eine mögliche Reaktion. Allerdings ist klar erkennbar, dass dies bewusst mit der Intention durchgeführt wurde, die Arbeitendenkontrolle aufzulösen und dadurch die sehr kurze Existenz der sozialistischen Wirtschaftsweise in Russland zu sabotieren. Losowksi, ein bolschewistischer Gewerkschaftler machte deutlich, dass
"die unteren Kontrollorgane ihre Aktivität innerhalb der Grenzen halten sollten, die vom zukünftigen Gesamtrussischen Arbeitendenkontrollrat gesetzt werden. Das müssen wir laut und deutlich sagen, damit die Arbeitenden nicht auf die Idee kommen, dass ihnen die Betriebe gehören."
Aber die Fabrikkomitees hatten nicht vor, kampflos unterzugehen. Unmittelbar nach der Revolution versuchten sie, eine eigene nationale Organisation zu gründen, die die direktdemokratischen Arbeitendenorganisationen als rechtmäßigen Verwaltenden der Wirtschaft etablieren sollte. Hierauf folgte ein Vorbote des Antisozialismus: Die Bolschewiki versuchten zum ersten Mal, die Gewerkschaften gegen die Fabrikkomitees aufzuhetzen. Die Gewerkschaften, welche hierarchischer waren und dadurch einfacher zu unterwandern, wurden im Laufe der Zeit zum beliebtesten Arbeitendenorgan der Bolschewiki. Also riefen sie die Gewerkschaften dazu auf, die Fabrikkomitees zu denunzieren und deren volle Unterwerfung gegenüber der bolschewistischen Partei zu fordern. Die Gewerkschaften gehorchten, so wie sie es in den nächsten Jahren häufiger würden: Sie gingen einen Pakt mit dem Teufel ein, welchen sie schlussendlich bereuen würden.
Im folgenden Jahr veröffentlichte Lenin einen Artikel, in dem er die künftigen Ziele der Bolschewiki darlegte. In diesem erklärte er eine Notwendigkeit, die "Arbeitsdisziplin [zu] erhöhen", was in seinen Augen eine Nachahmung der us-amerikanischen kapitalistischen Form der Arbeit namens "Taylorismus" bedeutete. Tatsächlich sagte er explizit:
... wir müssen die Frage aufwerfen, was vom Taylorismus als wissenschaftlich und progressiv übernommen werden kann... die Sowjetrepublik muß unter allen Umständen alles Verwertbare im Bereich der Wissenschaft und Technologie ausnutzen... wir müssen in Rußland das Studium und die Lehre des Taylorismus propagieren.
Ein solches System beinhaltete die strenge Reglementierung der Produktivität der Arbeitenden, starke Regulierungen und die Einrichtung eines Büros, um die Produktivität der Arbeitenden bestimmen zu können. Durch die Einrichtung eines Systems, das buchstäblich der Unternehmensführungsphilosophie des Kapitalismus entgegengesprungen und von einer brutalen Unterwerfung der Arbeitenden begleitet war, entstand ein System des Staatskapitalismus wie aus dem Bilderbuch. Lenin sagte ohne Vorbehalt, dass:
heute die Revolution im Interesse des Sozialismus [verlangt], dass die Massen fraglos dem Willen der Leitenden des Produktionsprozesses gehorchen.
Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs wurde weiteren Industriezweigen, wie dem Bergbau, das Hüttenwesen, der Textilfertigung, Elektroindustrie, Forstwirtschaft, dem Tabakanbau, der Harzbrennerei, Glasbläserei, Tonbrennerei, Gerberei, und Zementindustrie, allen dampfbetriebenen Mühlen, lokalen Versorgungsunternehmen und privaten Eisenbahnen, die Notwendigkeit zur "bedingungslosen Unterwerfung attestiert. Anschließend wurden sie aus der Kontrolle der Arbeitenden entrissen. In diesem Prozess wurden alle Industrien den Händen der Arbeitenden entrissen und innerhalb eines Jahres wurden die Arbeitenden zu wenig mehr als militärischen Dienenden verwandelt. Alles wurde zu einer Versorgungskette für die Front, nicht durch ihre eigene Entscheidung, sondern durch ein Verlangen des zentralen Apparats.
Obwohl es vielleicht verlockend scheinen mag, in Anbetracht des Druckes des Krieges zu behaupten, dass dies notwendig war, um die Weiße Armee zu bekämpfen, zeigt Maurice Brinton auf:
Während dieser Periode gab es einen deutlichen Rückgang der Produktionsziffern. Die Gründe dafür sind an anderem Ort ausführlich beschrieben. Dies wurde von Parteisprechenden oft den häretischen Theorien der Anarcho-Syndikalist*innen in die Schuhe geschoben.
Zwar mag es stimmen, dass die Bestrebungen des Volkes Ähnlichkeit zu anarchosyndikalistischen Ideen hatten, jedoch hatten die Anarchosyndikalist*innen als Fraktion nur noch wenig formelle Macht zu diesem Zeitpunkt. Die Bolschewiki hatten die Macht der Fabrikkomitees gebrochen und die anarchistische Presse wurde zugleich zerlegt. Der anarchistische Teil Russlands wurde gewaltsam in die Bedeutungslosigkeit getrieben. Die Syndikalist*innen, welche stark an der Organisierung der Fabrikkomitees beteiligt waren, die die russische Revolution vor 1917 führten, mussten sich nun in Gruppen wie der Arbeitendenopposition oder den Sozialrevolutionären flüchten oder sich entscheiden, als parteilose Arbeitende zu agitieren, wobei sie aber ständig der Unterdrückung durch die Tscheka ausgeliefert waren.
Dass die bolschewistische Zentralisierung und die rasche brutale Unterdrückung der Arbeitendenkontrolle nach der Revolution zu einem Verlust von Enthusiasmus unter den arbeitenden Massen geführt haben könnte und dass dieser Enthusiasmusverlust zu einem Produktionsverlust führen könnte war keine Idee, auf die der Staat kommen konnte. Stattdessen mussten die Arbeitenden und deren Verlangen nach Kontrolle zu einer Häresie verdreht werden. Zu jedem Zeitpunkt, an dem breite Unterstützung für sozialistische Maßnahmen stieg, wurde diese "anarchistisch", "syndikalistisch" oder "konterrevolutionär" genannt, um dadurch ihre Unterdrückung zu rechtfertigen. Aber der Sozialismus, für dessen Errichtung die russischen Arbeitenden kämpften, war einer, der den Arbeitenden die Freiheit gab, über ihre Arbeit eigens zu entscheiden, weshalb sie deren Aussetzung nur zeitweise tolerierten. So ein proletarisches Bewusstsein, mit seinen praktischen Verbindungen zu syndikalistischer Ideologie, stellte eine existenzielle Bedrohung für das Staatsmonopol dar und musste deshalb zu jedem Preis vernichtet werden.
Am 25. August 1918, bei der Ersten Allrussischen Konferenz der Anarchosyndikalist*innen nahmen sie kein Blatt vor den Mund: Die Bolschewiki hätten "die Arbeitendenklasse durch die Verhinderung von Arbeitendenkontrolle und durch die Einführung der Arbeitsdisziplin und die Anstellung bürgerlicher Ingenieur\innen und Techniker\innen verraten. Wenn die Fabrikkomitees durch tote Organisationen, nämlich Gewerkschaften, ersetzt werden und Erlasse und Papiere an die Stelle der industriellen Demokratie treten, erzeugt die bolschewistische Führung das Ungeheuer des Staatskapitalismus, das irrtümlicherweise als Sozialismus bezeichnet wird."
Andere Anarchist*innen waren gemäßigter in ihrer Auffassung. Brinton bezieht sich auf einen Artikel aus der anarchosyndikalistischen Zeitung Wolnij Golos Truda, welche gegründet wurde, nachdem Golos Truda zuvor im Jahr gewaltvoll verboten wurde. In dieser Analyse hieß es:
Lenin und seine Anhänge\rinnen waren nicht unbedingt kaltblütige Zyniker*innen, die, mit machiavellistischer Schläue die neue Klassenstruktur ausgetüftelt hatten, um ihre eigene Machtlust zu befriedigen. Sie wollten durchaus gegen das menschliche Leiden kämpfen... Aber die Trennung der Gesellschaft in Verwaltende und Arbeitenden folgte der Zentralisation der Entscheidungsgewalt auf dem Fuß. Es konnte gar nicht anders sein… Sobald die Funktionen des Managements und der Arbeit erst einmal getrennt waren (während erstere einer Minderheit von ‚Expert\innen' anvertraut wurden und letztere den ungeschulten Massen), waren alle Vorbedingungen für Gleichheit und Menschenwürde zerstört.
Es brachte allerdings nichts, dass sie diesen beschwichtigenden Ton anschlugen. Wolnij Golos Truda wurde nach fünf Ausgaben von der Tscheka verboten. Selbst einige Anarchist*innen nannten sie "anarcho-bürokratische Judasse", dafür, dass sie die Bolschewiki kritisierten. Solche Kritiken wirken jedoch unglaubwürdig, denn ab dem Herbst wurde der Nationale Sowjet vollends in den Staat absorbiert. Er traf sich nicht mehr und der letzte direkte Mechanismus der Kontrolle für die Fabrikkomitees war ging damit verloren.
Was den Arbeitenden, die das russische Maschinerie zu steuern versuchten, blieb, waren die Gewerkschaften. Aber auch sie waren wenig mehr als ein Schatten ihrer selbst. Große Zahlen von Delegierten, die durch die Arbeitenden bestimmt waren, wurden bereits durch die Bolschewiki aberkannt. Brinton erzählt von einer Veranstaltung, bei der der bolschewistische Politiker Wjatscheslaw Molotow eine Analyse der Zusammensetzung der Anwesenden unternimmt:
Von 400 waren über 10% frühere Arbeitgebende oder Vertreter*innen der Arbeitgebenden, 9% Techniker*innen, 38% Vertreter*innen der einzelnen bürokratischen Abteilungen (inklusive Wesenka)... die übrigen 43% Arbeitenden oder Vertreter*innen von Arbeitendenorganisationen inklusive Gewerkschaften. Die Leitung der Industrie war in der Hand derer, die „kein Verhältnis zu den proletarischen Elementen der Industrie hatten." Die „Glawki" konnten keinesfalls als Instrument proletarischer Diktatur angesehen werden. Diejenigen, die die Politik leiteten, waren Vertreter*innen der Unternehmenden, Techniker*innen und Spezialist*innen. „Es läßt sich nicht leugnen, daß der sowjetische Bürokrat der früheren Jahre ein*e Anhänger*in der bürgerlichen Intelligenz oder Beamt*innenklasse war und viel Traditionen der alten russischen Bürokratie weiterschleppte."
Es war nicht allein Molotow, der dies bemerkte. Brinton erzählt von anderen Quellen, die diese Fakten bestätigen:
Ein Delegierter des Kongresses behauptete zum Beispiel, daß „obwohl es in den meisten Bezirken Niederlassungen der Gewerkschaften gab, diese nicht gewählt oder ratifiziert waren; wo Wahlen durchgeführt worden waren, aber das Ergebnis nicht den Wünschen des Zentralrats oder seiner lokalen Vertreter entsprach, waren die Wahlen schnell annulliert worden und die gewählten Vertreter*innen durch andere ersetzt, die den Bedürfnissen der Verwaltung besser entsprachen."
Perkin, ein anderer Delegierter, wehrte sich gegen neue Verfügungen, die verlangten, daß die Vertreter*innen, die von Arbeitendenorganisationen in das Kommissariat für Arbeit entsandt wurden, durch das Kommissariat bestätigt werden mußten. „Wenn wir auf einer Gewerkschaftsversammlung jemanden zur*m Kommissar*in wählen — d. h. wenn die Arbeitendenklasse in diesem Fall ihren Willen äußern darf — sollte man annehmen, daß diese Person dann auch unsere Interessen im Kommissariat vertreten darf und unser*e Kommissar*in sein kann. Aber nein. Obwohl wir unseren Willen geäußert haben — den Willen der Arbeitendenklasse — muß die*der von uns gewählte Kommissar*in immer noch durch die Autoritäten bestätigt werden... Das Proletariat darf sich zum Hanswurst machen. Es darf zwar Vertreter wählen, aber die Staatsmacht behandelt unsere Vertreter, wie es ihr gefällt."
Solch eine Wirtschaftsordnung, wie sie hier beschrieben wurde, hat keine Ähnlichkeit mit einem Sozialismus. Und tatsächlich, entgegen dem, was diejenigen unkritischen Lobredner*innen der UdSSR behaupten, machte Lenin keine solche Behauptung geltend. In seiner Schrift Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats schrieb er:
Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte. Aber auf einmal kann man die Klassen nicht abschaffen. Und die Klassen sind geblieben und werden während der Epoche der Diktatur des Proletariats bestehen bleiben. Die Diktatur wird unnötig werden, wenn die Klassen verschwinden werden. Sie werden nicht ohne die Diktatur des Proletariats verschwinden6
Doch selbst dieses Eingeständnis war reine Propaganda. Was Lenin und die Bolschewiki aufgebaut hatten ähnelte keineswegs der Diktatur des Proletariats von Marx, über die wir in Teil 1 sprachen. Stattdessen sehen wir, wie sich Bakunins schlimmste Befürchtungen bewahrheiten. Die UdSSR war nun "ein Barackenregime für das Proletariat, wo eine standardisierte Masse von Arbeitenden zum Paukenschlag aufwachen, schlafen und arbeiten würden."
Die roten Fahnen, der überhebliche Lob für marxistische Theorie und alle weiteren Zugeständnisse waren bloße Ästhetik. Arbeitendenkontrolle verkam zu einer propagandistischen Fiktion, eine Versprechung, die nicht nur unerfüllt blieb sondern von den Bolschewiki verraten wurde. Lenins spätere Anmerkungen, dass "syndikalistische Abweichungen die Diktatur des Proletariats stürzen" würden kann nur so interpretiert werden, dass "das Verlangen der Arbeitenden die Produktionsmittel zu kontrollieren [...] die Abschaffung des Staates" erfordert. Es ist unglücklich, dass nicht größere Teile der Gesellschaft dies realisierten.
Malatesta, welcher von Spanien aus die Geschehnisse verfolgte, konnte ebenfalls erkennen, was 1919 passierte, als er schreibt:
Was wir sehen ist die Diktatur einer Partei, oder vielmehr, der Führenden einer Partei: Eine tatsächliche Diktatur, mit ihren Verordnungen, ihren Strafen, ihren Lakai*innen und vor allem, ihren Streitkräften, die momentan zur Verteidigung der Revolution gegen ihre äußeren Feinde genutzt wird, morgen aber, um den Willen des Diktators den Arbeitenden aufzuzwingen, der Revolution eine Bremse aufzulegen, die Interessen einer aufkommenden privilegierten Klasse gegen die Massen zu verteidigen.7
Er konnte nicht gewusst haben, wie richtig er lag, zwar nicht "morgen", wie er schrieb, sondern in genau jenem Moment, in dem er diese Aussage traf. Und, obwohl diejenigen, die diese bolschewistische Konterrevolution verteidigen wollen, behaupten, dass dies notwendig war um eine Militärdisziplin zu kultivieren, mit der die Weiße Armee besiegt werden könne, war der Bürgerkrieg 1920 eigentlich schon vorbei. Tatsächlich verblieb von der Weißen Armee oder anderen Kriegsteilnehmern nur noch wenig Widerstand.
Und dennoch, wie Brinton vom Treffen des Gesamtrussischen Zentralrats der Gewerkschaften erzählt:
[Drängten] sowohl Trotzki wie Lenin auf Militarisierung der Arbeit. Nur 2 der mehr als 60 bolschewistischen Gewerkschaftsführer*innen unterstützen sie. „Noch nie hatten Trotzki oder Lenin eine derart peinliche Niederlage erleiden müssen."
Und von Trotzki heißt es:
„Man kann die Arbeitendenklassen nicht länger in ganz Rußland umherwandern lassen. [...] Sie müssen gezielt eingesetzt werden, überwacht wie Soldat*innen. Der Arbeitszwang nimmt in der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus seine schärfsten Formen an. Arbeitsdeserteur*innen sollten in Strafbataillone oder Konzentrationslager gesteckt werden."
Und später im Jahr, als die Arbeitenden von dieser Behandlung verärgert waren, sagte er, dass:
„Militarisierung der Arbeit... die unvermeidliche Voraussetzung für die Organisation unserer Arbeitskraft ist... Stimmt es denn, daß Zwangsarbeit immer unproduktiv ist?... Dies ist ein jämmerliches liberales Vorurteil: auch die Sklaverei war produktiv... Zu ihrer Zeit war die Zwangs-Sklavenarbeit progressiv... Arbeit, obligatorisch fürs ganze Land und für jeden einzelnen Arbeitenden ist die Grundlage des Sozialismus."
Obwohl es geläufig ist, Trotzki als irgendwie einzigartig tyrannisch zu verachten, sagte er nichts, was die meisten Bolschewiki nicht auch selbst glaubten und Tag für Tag umsetzten. Trotzki sprach bloß in einem weniger propagandistischen Ton als der Rest und versteckte seine Intentionen hinter weniger Täuschung. Dadurch, dass er dies tat, bewahrheitete er Bakunins andere Vorhersage, dass der Zentralismus "die kommerzielle, industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion zentralisieren [wird], und die Massen dann in zwei Armeen teilen, eine industrielle und eine landwirtschaftliche, unter dem Befehl staatlicher Ingenieure, die die neue privilegierte wissenschaftliche und politische Klasse bilden werden."
Im März 1921 war der Bürgerkrieg zwar vorbei, doch die staatskapitalistische Wirtschaftsordnung hatte sich nicht geändert. Nach mehreren Jahren sogenannten "Kriegskommunismus" begannen die Arbeitenden die im Namen der Zentralisierung dargebrachten Opfer zu erkennen und sich weitreichend zu agitieren. Der Unterdrückung der Oppositionsparteien müde, begannen sie sich als eine nichtparteiliche Bewegung zu organisieren und eine Rückkehr zu den Idealen der Revolution zu fordern.
Dies wäre nun der richtige Zeitpunkt für diejenigen, die versuchen, die bolschewistische Abschaffung der Arbeitendenkontrolle als durch die "materiellen Bedingungen" erforderlich darzustellen, diese wieder aufzubauen. In der Tat, wenn dies eine "Diktatur des Proletariats" gewesen wäre, wäre dies der Zeitpunkt, an dem der Staat versucht hätte, sich selbst aufzulösen. Auf dem Zehnten Parteikongress fand aber das genaue Gegenteil statt. Stattdessen schlug Lenin das Verbot aller politischen Parteien und damit die endgültige Festigung aller politischen Macht im Staat vor. Die außerparteiliche Arbeitendenbewegung war die letzte Bedrohung, die zerstört werden musste. Massenfestnahmen und Unterdrückung folgten.
Aber selbst dadurch ließ sich die Motivation der Arbeitenden, ihre Revolution zurückzuerobern, nicht brechen: In Petersburg, angespornt von den extrem langen Arbeitstagen, ungeheizten Wohnungen, Essensknappheit, der Ungerechtigkeit zwischen Rationen für Arbeitenden und Parteibürokrat*innen, den Entscheidungen des Zehnten Kongresses und einer kompletten Abwesenheit von Entlohnung durch die Bolschewiki, begannen Arbeitenden Massenstreiks und Proteste. Sie waren es satt, wie leere Automaten behandelt zu werden, besonders wenn sie wenig materiellen Vorteil dadurch erlangten, dafür geschuftet zu haben, die Weiße Armee zu besiegen. Die Streikenden veröffentlichten folgende Erklärung:
Eine vollständige Änderung der Regierungspolitik ist notwendig. Zu zuallererst brauchen die Arbeitenden und Bäuer*innen Freiheit. Sie wollen nicht nach den Dekreten der Bolschewiki leben, sie wollen selbst über sich verfügen.
Genossen, bewahrt revolutionäre Ordnung! Verlangt entschieden und auf organisierte Weise:
Freilassung aller verhafteten Sozialist*innen und parteilosen Arbeitenden.
Abschaffung des Kriegsrechts; Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für alle Arbeitenden.
Freie Wahl von Werkstatt- und Fabrikkomitees (sawkomi) und von Arbeitendengesellschafts- und Sowjetvertreter*innen.8
Alexander Berkman, der während dieser Entwicklungen immer noch in Russland war, berichtet davon, dass die Arbeitenden in Massen von den Bolschewiki festgenommen wurden und dass jene Gewerkschaften, die noch radikal genug waren, an den Protesten teilzunehmen, durch die Regierung aufgelöst wurden. Währenddessen wuchsen in Kronstadt, einem wichtigen Flottenstützpunkt, die Konflikte. Diese Kronstadt-Matros*innen waren keine Randerscheinung, sie trugen fundamental zum Erfolg der Bolschewiki zu Beginn der Revolution bei und wurden von Trotzki selbst der "Stolz und Ruhm der Russischen Revolution" genannt. Aber nachdem sie eine Delegation geschickt hatten, um einen Überblick davon zu erhalten, was bei den Streiken vor sich ging, veröffentlichten sie selbst eine Liste von Forderungen in Solidarität mit den Streikenden. Berkman erzählt die Stimmung wie folgt nach:
Nervöse Spannung in der Stadt. Die Streiks werden fortgeführt; Arbeitsunruhen haben erneut in Moskau stattgefunden. Eine Welle der Entrüstung schwappt durch das Land. Es wird von Bäuer*innenaufständen in Tambov, Siberien, der Ukraine und dem Kaukasus berichtet. Das Land ist nahe der Verzweiflung. Es wurde insgeheim gehofft, dass die Kommunist*innen mit dem Ende des Bürgerkriegs die Militärdiktatur mildern würden. Die Regierung hat ihre Absicht des wirtschaftlichen Wiederaufbaus angekündigt, und die Leute waren bereit, zu kooperieren. Sie sehnten sich nach der Erleichterung der schweren Lasten, der Abschaffung der kriegsbedingten Einschränkungen, und der Einführung von elementaren Freiheiten.
Die Fronten sind aufgelöst, aber die alte Politik dauert an, und die Militarisierung der Arbeit verhindert die industrielle Wiederbelebung. Die Kommunistische Partei wird öffentlich bezichtigt, eher an der Erhaltung ihrer eigenen Macht interessiert zu sein, als daran, die Revolution zu erhalten.
Ein offizielles Manifest erschien heute. Es ist unterzeichnet von Lenin und Trotzki und verkündet Kronstadt schuldig der Meuterei. Die Forderungen der Matros*innen nach freien Sowjets wird als "konterrevolutionäre Verschwörung gegen die proletarische Republik" abgetan. Mitglieder der Kommunistischen Partei werden in die Mühlen und Fabriken beordert, um dort die "Arbeitenden für die Unterstützung der Regierung gegen die Verräter*innen" zu begeistern. Kronstadt soll niedergeschlagen werden.9
Im Briefwechsel äußerte Kronstadt: "Wir wollen kein Blutvergießen. Kein*e einzige*r Kommunist*in wurde von uns verletzt". Die Bolschewiki jedoch scherten sich nicht darum. Ein solcher Affront hatte sie Rot sehen lassen. Trotzki ließ eine Stellungnahme veröffentlichen, die besagte:
[Die Arbeitenden] haben gefährliche Slogans verbreitet. Sie haben aus dem demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht. Sie haben das Recht der Arbeitenden, ihre Vertreter*innen zu wählen, über die Partei gestellt. Als ob die Partei nicht zur Ausübung ihrer Diktatur berechtigt wäre, selbst wenn diese Diktatur den augenblicklichen Launen der Arbeitendenopposition widerspricht!
Am 7. März schrieb Berkman: "Aus der Ferne jenseits des Newksi10 erreicht Grollen meine Ohren. Es tönt erneut, stärker und näher, als ob es mir entgegen rollt. Mit einem Male erkenne ich, dass Artillerie gefeuert wird. Es ist 18 Uhr. Kronstadt wurde angegriffen!"
"Tage des Leids und der Bombardierung. Mein Herz ist taub vor Verzweiflung; etwas ist in mir gestorben. Die Menschen auf der Straße laufen gebückt mit Trauer, unsicher. Niemand traut sich mehr, zu sprechen. Das Donnern der Geschütze zerreißt die Luft."
Zehn Tage später schreibt er: "Kronstadt ist heute gefallen. Tausende Matros*innen und Arbeitende liegen tot in den Straßen. Standrechtliche Erschießungen von Gefangenen und Geiseln fahren fort."
Am 18. März merkt Berkman die Ironie dessen an, dass "die Sieger den Jahrestag der Kommune von 1871 [zelebrieren]. Trotzki und Sinowjew denunzieren Thiers und Gallifet für die Ermordung der Pariser Rebell*innen..."
Nachdem die Bolschewiki die Streiks niedergemetzelt hatten, fuhren sie damit fort, die Kronstädter Matros*innen zu diffamieren, indem sie allen, die an Massendemonstrationen teilnahmen, als Teil einer Verschwörung darstellten, die versucht haben soll, die Regierung zu putschen. Wieder einmal wird der Anarchismus mit den revolutionären Forderungen des Sozialismus verknüpft wenn Lenin die Arbeitendenrevolten "kleinbürgerlich", "syndikalistisch", "anarchistisch" und "in Teilen verursacht durch den Eintritt von Elementen in die Partei, welche nicht gänzlich das kommunistische Weltbild verinnerlicht haben" nennt.
Doch die Realität des Ganzen holte de Leute ein. Während der Jahre 1921–22 erfuhr Russland die erste von zwei großen Spitzen in der Selbstmordrate unter Kommunist*innen in Russland. M. Reisner schrieb 1922:
Es trifft die revolutionären Romantiker*innen am härtsten. Die Vision eines nahen Goldenen Zeitalters verblasste für sie. Ihre Herzen brannten aus [...]. Und traurige Geschichten verbreiten sich. Hier ging eine*r die*der Kriegsheld*innen heim und erschoss sich. Sie*Er konnte die gemeinen Streitereien nicht länger aushalten. Ein Tropfen, und das Fass lief über.11
1923 hatte selbst Lenin verstanden, dass der Traum des Sozialismus in Russland gestorben war und dass die bürokratische Beherrschung der Arbeitenden schuld daran war. Maurice Meisner erzählt in einem Werk, welches wir uns ausführlich im nächsten Teil anschauen werden:
Weniger als fünf Jahre nach der Russischen Revolution grübelte Lenin darüber, wieso die neue sowjetische Ordnung so bürokratisch und unterdrückend geworden war. Auf seinem Sterbebett kam er zu dem Schluss, dass er die Wiederbelebung der alten zaristischen Bürokratie miterlebt hatte, welcher die Bolschewiki "bloß einen sowjetischen Anstrich" gegeben hatten. Lenins größten Ängste wurden bald verwirklicht mit der massiven Bürokratisierung des sowjetischen Staats und der Gesellschaft unter Stalin und dem entfesseln dessen, was Isaac Deutscher eine "annähernd durchgängige Orgie bürokratischer Gewalt" nannte3
Während derselben Sterbebett-Reflektionen sagte Lenin, dass er "schuldig vor den Arbeitenden Russlands" dafür sei, dass er sie nicht früher vor der rücksichtslosen Konzentration der Macht gewarnt hatte. Es hätte natürlich aber keinen Unterschied gemacht, ob er es ihnen gesagt hätte oder nicht. Sobald die ersten Dekrete von Lenin erlassen wurden, welche dem Staat erlaubten, alles zu verstaatlichen, was als "wichtig" für den Staat erklärt werden könnte, hatte er selbst die Zerstörung der Revolution vorbereitet. Es ist den gemarterten Arbeitenden ein schwacher Trost, dass er diese Fehler bereute.
In den folgenden Jahren hielt die Unterdrückung nicht nur an, sondern sie verschlimmerte sich. Die Wirtschaftsordnung würde niemals zum unausgereiften Sozialismus von 1917 zurückkehren. Im Gegenteil: Die Bolschewiki würden die erste Reihe an Fünf-Jahres Marktexperimenten durchführen und damit sogar die fragwürdige revolutionäre Staatszentralisierung opfern und einen langsamen Verfall zurück zu traditionellen kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beginnen. Und tatsächlich war die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik so entmutigend, dass sich die Selbstmordrate zwischen 1924–26 auf das doppelte Niveau der Selbstmorde nach Kronstadt anhob; siebenmal so hoch wie der Durchschnitt von Parteimitgliedern und 15-mal so hoch wie für Mitglieder der Roten Armee.
Es ist schwer, die russischen Revolutionäre für diese Hoffnungslosigkeit verantwortlich zu machen. Alle Optionen, die Führung der UdSSR dazu zu bringen, die Ansprüche der Arbeitenden und ihre Versprechungen als Avantgarde zu erfüllen, waren gescheitert. Während die Arbeitenden kläglich gelitten und tapfer gekämpft hatten, um die Revolution zu schützen, hatten die Bolschewiki ihre Träume des Sozialismus mit Füßen getreten und zerquetscht und rücksichtslos den Fortschritt Richtung Arbeitendenkontrolle rückgängig gemacht. Der Staat, ein von Natur aus zentralisiertes Gebilde, wurde von der leninistischen Verfälschung marxistischer Rhetorik noch weiter zentralisiert und die Geburt eines revolutionären Sozialismus in Russland im Keim erstickt.
Und dies blieb nicht auf Russland alleine beschränkt. Die UdSSR fuhr während ihres Fortbestehens fort, die Anarchist*innen, welche während des Spanischen Bürgerkrieges Sozialismus eingeführt hatten, zu sabotieren, in die Freien Territorien der Ukraine einzufallen, wiederholt die Zerstörung des Marktsozialismus in Jugoslawien zu versuchen, und zu versuchen so ziemlich jeden anderen Ort, in dem tatsächliche Arbeitendenkontrolle umgesetzt wurde, zu untergraben. Der sowjetische Staat konnte nur unbedingte Unterwürfigkeit tolerieren und steht damit an zweiter Stelle nach den USA wenn es darum geht, Arbeitendenbewegungen während des 20. Jahrhunderts zu sabotieren.
Doch selbst nach all dem könnte jemand der Versuchung verfallen, sich vorzustellen, was sein könnte, wenn die Ideologie der Anführenden des zentralen Apparats eine solche sei, die tatsächlich versucht, Bürokratie abzuschaffen? Was wenn wir einige anarchistische Kritiken des Staates übernähmen, diesen aber nicht gänzlich über Bord werfen? Im nächsten Teil werden wir uns das revolutionäre China anschauen, um diese Fragen zu beantworten. Wir werden sehen, dass selbst mit dem angeblich antibürokratischen und unorthodoxen Ansatz Mao Zedongs keine noch so große Menge von Zugeständnissen den Inhärenten Gegensatz zwischen Arbeitenden und Staat aufzulösen vermag. Es ist nicht eine Frage, welcher Anführenden auf dem Sitz der Macht sitzt. Es ist die zentralisierte Macht selbst, welche der Feind der proletarischen Revolution ist.
Im Original "statist". Anm. d. Übers. ↩
Im Original: "vanguard party". Anm. d. Übers. ↩
Meisner, Maurice: Mao's China and After https://libcom.org/article/maos-china-and-after-history-peoples-republic-maurice-meisner. Eigene Übersetzung. ↩ ↩
Maurice Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle. Hieraus stammen die meisten der folgenden Zitate (Anm. d. Übers.). https://anarchistischebibliothek.org/library/maurice-brinton-die-bolschewiki-und-die-arbeiterkontrolle. Bisher generisch maskuline Übersetzungen wurden entsprechend ge. bzw. entgendert. ↩
E.H. Carr: The Bolshevik Revolution, Vol. II S. 69. Eigene Übersetzung. ↩
V.I. Lenin: Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats. https://sozialistischeklassiker2punkt0.de/sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/1919/wladimir-i-lenin-oekonomie-und-politik-in-der-epoche-der-diktatur-des-proletariats.html. Bisher generisch maskuline Übersetzungen wurden entsprechend ge. bzw. entgendert. ↩
Errico Malatesta: On the Dictatorship of the Proletariat. https://www.marxists.org/archive/malatesta/1919/a-prophetic-letter.html. Eigene Übersetzung. ↩
Alexander Berkmann: Die Kronstadt Rebellion. https://anarchistischebibliothek.org/library/alexander-berkman-die-kronstadt-rebellion. Bisher generisch maskuline Übersetzungen wurden entsprechend ge. bzw. entgendert. ↩
Alexander Berkmann: The Bolshevik Myth, Chapter 38: Kronstadt. https://www.marxists.org/reference/archive/berkman/1925/bolshevik-myth/chapter-38.html. Eigene Übersetzung. ↩
Eine zentrale Straße in St. Petersburg. ↩
Pirani, Simon: The Russian Revolution in Retreat. https://libcom.org/article/russian-revolution-retreat-1920-24-soviet-workers-and-new-communist-elite-simon-pirani. Eigene Übersetzung. ↩