Als ich vor einigen Jahren als Jugendlicher begann, mich mit anarchistischer Theorie zu beschäftigen und das erste Mal klassische Schriften des Anarchismus las – zum Beispiel Bakunins "Gott und der Staat" oder Kropotkins "Die Eroberung des Brotes" – konnte ich mit den darin formulierten Ideen oft recht wenig anfangen. Klar, ich fand mich in den Grundwerten wieder und es war ein interessanter Einblick in einen anderen zeitlichen Kontext, aber es fiel mir schwer daraus allgemeine Erkenntnisse über Analyse, Ziele und Strategien des Anarchismus abzuleiten. Ich vermute, dass es vielen jungen und auch älteren Genoss:innen ähnlich geht.
Mindestens genauso unzufrieden ließen mich die oft als Einführung in den Anarchismus empfohlenen Broschüren zurück. Entweder zeichneten sie ein völlig beliebiges, von seiner Historie losgelöstes Bild des Anarchismus oder waren zwar nicht beliebig, aber schlicht zu knapp und oberflächlich, um daraus umfangreichere Erkenntnisse zu ziehen. Es fehlt unserer Bewegung meiner Ansicht nach an Literatur, die die anarchistische Idee und Praxis übersichtlich, mit ausreichend Tiefgang aufbereitet – und die damit Genoss:innen als einfach zugängliche Einführung in die Grundlagen der Bewegung dienen kann.
Seit dem vergangenen Jahr liegt im US-amerikanischen Verlag „AK Press“ ein neues Werk vor, das sich diesen Anforderungen bewusst stellt und ihnen meiner Ansicht nach gerecht wird. Auf gut 250 Seiten stellt die Historikerin (und vielen wohl als Betreiberin des gleichnamigen YouTube-Kanals bekannte) Zoe Baker in "Means and Ends: The revolutionary Practice of Anarchism in Europe and the United States" dar, wie die anarchistische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, auf welchen Ideen und Werten sie fußt, welche Gesellschaft sie anstrebt und wie sie diese erreichen will.
Baker beginnt dabei damit, zunächst den Anarchismus zu definieren, um dann seinen theoretischen Rahmen abzustecken. Von dort aus leitet die zu seinen grundlegenden strategischen Auffassungen über. Diese stellt sie den Vorschlägen des Staatssozialismus – im Wesentlichen Sozialdemokratie und Leninismus – gegenüber und schlüsselt die Kritik der Anarchist:innen an diesen auf. In mehreren Kapiteln beschäftigt sich Baker danach mit den verschiedenen historischen Strömungen des Anarchismus und arbeitet ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.
Aus dem Gesagten wird bereits die größte Stärke des Buchs deutlich: Theorie und Strategie werden nicht getrennt voneinander behandelt, sondern ständig in Bezug zueinander gesetzt. Baker erklärt theoretische Konzepte des Anarchismus, um im späteren Verlauf des Buchs immer wieder erfolgreich nachzuzeichnen, wie sich aus diesen strategische Ansätze von Personen, vor allem aber von Organisationen ergaben. Viele Strategien und Praktiken, die uns heute oft eher wie Schlagworte erscheinen, werden so auf einmal deutlich klarer, weil ihr Ursprung nachvollziehbar wird. Im Zentrum Bakers Auseinandersetzung mit dem Anarchismus steht dabei die "Theorie der Praxis", also die Erkenntnis, dass menschliches Handeln menschliches Bewusstsein prägt und zur Veränderung der Gesellschaft eine revolutionäre Praxis angestrebt werden muss, die nicht nur die Strukturen der Gesellschaft verändert, sondern im Prozess auch die Arbeiter:innen, die diese Praxis anwenden.
Die zweite große Stärke des Buches ergibt sich aus dem umfangreichen Quellensatz, aus dem Baker schöpft. Ihre Erläuterungen kommen mit zahlreichen indirekten und direkten Zitaten einer großen Zahl historischer Personen und Organisationen daher. So wird deutlich, wie sich die Überlegungen Einzelner entwickelten und voneinander unterschieden, wer welche Strömungen prägte und ablehnte. Die oft herangezogene "Ahnenreihe" des Anarchismus wird so aus ihrem stummen Dasein auf schwarz-weiß Fotos herausgeholt und wird Teil der Geschichte der Bewegung – in Idee und Praxis.
Ich habe Bakers Buch aus den genannten Gründen mit großer Freude und viel Erkenntnisgewinn gelesen. Obwohl es wegen seinem Umfang als eine knappe Einführung für noch nicht politisierte Menschen wohl kaum taugt, ist es für jede:n Genoss:in, die sich bisher nicht ausführlich mit den Grundlagen und der Geschichte des Anarchismus befasst hat, eigentlich eine Pflichtlektüre. Nicht nur einfach, weil es schön ist, die Geschichte unserer Bewegung zu kennen, sondern weil viele Auseinandersetzungen, die wir heute in der Bewegung führen, hier historisch eingeordnet werden: Wie verhalten wir uns zu Sozialdemokratie und Leninismus? Kämpfen wir für Reformen oder nicht? Organisieren wir uns in anarchosyndikalistischen Gewerkschaften oder in nicht explizit anarchistischen Gewerkschaften? Organisieren wir uns ausschließlich in Interessenorganisationen oder brauchen wir zusätzlich spezifisch anarchistische Ideenorganisationen? Wer heute Antworten auf diese Fragen finden will, muss die Geschichte unserer Bewegung verstehen. Bakers Buch bietet eine sehr gute Gelegenheit dazu.
Apropos verstehen: Der größte Nachteil an Bakers Buch ist, dass es bisher nur auf Englisch vorliegt. Weil Baker auf relativ leicht verständliche Sprache setzt, sollte eine Lektüre auch mit begrenzten Fremdsprachenkenntnissen möglich sein. Dass das Buch bisher nicht auf Deutsch verlegt wurde, macht es bedauerlicherweise relativ teuer im Kauf. Aktuell ist es für 35 Euro auf Black Mosquito zu bekommen. Diesen Betrag ist das Werk zum Glück durchaus wert, aber es wäre wünschenswert, dass es zeitnah zu einer deutschen Übersetzung und Veröffentlichung kommt – damit noch viel mehr Genoss:innen Zugang zu diesem wichtigen Beitrag anarchistischer Literatur bekommen.