Wenn es um Gewalt, Ungleichheit oder Unterdrückung geht, fordern auch feministische Stimmen häufig mehr Gesetze, schärfere Strafen und mehr Polizei. Der Staat erscheint als Garant von Sicherheit, als letzte Instanz, die Frauen*, queere Personen und andere Marginalisierte schützen soll. Doch diese Logik verkennt, dass der Staat nicht neutral ist, sondern selbst ein zentrales Machtinstrument. Wer sich Befreiung von derselben Struktur erhofft, die Unterordnung organisiert, verwechselt Schutz mit Kontrolle.
Die Vorstellung, das Intime sei per se privat, ist politisch bequem. Sie verschiebt Machtfragen ins Unsichtbare und entzieht sie damit der Kritik.
Für viele FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) ist das, was als privat erklärt wird, kein neutraler Raum. Es trägt die Spuren einer kapitalistischen und patriarchalen Geschichte, in der weiblich gelesene Menschen ökonomisch, emotional und reproduktiv durch Ehe, Mutterschaft, Care-Arbeit und moralische Verpflichtung verfügbar gemacht wurden. Diese Strukturen wirken fort. Sie definieren, wer Sorge leisten soll, wessen Bedürfnisse zählen und wessen Schutz selbstverständlich ist. Sie stabilisieren Eigentumslogiken, verankern Care-Arbeit im Privaten und erhalten das Funktionieren der Lohnarbeit durch gesellschaftliche Reproduktion.
Anarchafeminismus und Beziehungsanarchie greifen diese Kritik auf und aktualisieren sie für die Gegenwart. Denn die Kritik ist historisch längst nicht erledigt. Sie zeigt sich heute in prekären Betreuungs- und Pflegesystemen, in vereinzelnder Reproduktions- und Care-Arbeit, in emotionalen Mehrfachbelastungen und struktureller Gewalt. Herrschaft verlagert sich, sie verschwindet nicht.
Der moderne Staat ist historisch also kein Projekt der Fürsorge, sondern eines der Verwaltung, Disziplinierung und Durchsetzung von Ordnung. Er entstand nicht, um zu befreien, sondern um Herrschaft stabil zu halten – um Eigentum zu schützen, Arbeit zu regulieren, Grenzen zu ziehen und Körper zu kontrollieren.
Dass Frauen heute wählen dürfen, dass Gewalt verfolgt wird, dass es Gleichstellungsgesetze gibt, ist Ergebnis von Kämpfen – nicht von staatlicher Großzügigkeit. Diese Rechte wurden erstritten. Und sie bleiben brüchig. Der gleiche Staat, der Schutz verspricht, kriminalisiert Schwangerschaftsabbrüche, sanktioniert Armut, verwaltet Migration mit Gewalt und hält Gefängnisse als Normalität aufrecht.
Und staatlicher Schutz war schon immer an Bedingungen geknüpft. Wer schutzwürdig ist, entscheidet die Norm. Weiße, bürgerliche Frauen passen besser ins Bild als arme, migrantisierte, queere oder trans Personen. Für viele FLINTA*-Personen bedeutet staatlicher “Schutz“ deshalb nicht Sicherheit, sondern Misstrauen, Überwachung und Ausschluss.
Besonders deutlich wird das in der Frage nach sexualisierter Gewalt. Der reflexhafte Ruf nach härteren Strafen ist verständlich. Doch Strafe produziert Täterbilder, ohne Strukturen zu verändern. Sie verspricht Sicherheit, während sie ihre Ursachen – ökonomische Abhängigkeiten, geschlechtliche Machtverhältnisse, Normen von Männlichkeit, die Gewalt legitimieren – unangetastet lässt.
Strafrecht individualisiert, was strukturell ist, und erzeugt die Illusion, ein Urteil könne Gerechtigkeit herstellen. Für viele Betroffene jedoch bedeutet der Gang durch Polizei, Gerichte und Verfahren erneute Kontrolle, erneuten Verlust von Autonomie und erneute Entmündigung. Der Staat reagiert auf Gewalt mit Gewalt – nur legitimiert.
Schutz entsteht erst durch reale Veränderung der Lebensbedingungen. Nicht durch Gesetzestexte, sondern durch Zugang zu Ressourcen, sicheren Räumen jenseits von Überwachung, solidarischen Strukturen und materieller Unabhängigkeit. Und, tiefer gedacht, durch Widerstand gegen tradierte Rollenbilder und Beziehungsnormen.
Laut einer UN-Studie gab es im Jahr 2024 weltweit um die 85.000 Femizide. Und diese sind nur das sichtbarste Symptom struktureller Gewalt. Das zeigt deutlich, dass der Staat Schutz und Freiheit nicht herstellen kann. Er kann Gewalt benennen, aber nicht verhindern. Er kann Gleichstellung verordnen, ohne Gleichwertigkeit zu ermöglichen. Und vor allem reagiert er, statt an den Ursachen zu arbeiten.
Auch innerhalb anarchistischer Szenen wirken marginalisierende Strukturen teils fort.
Männer sprechen von Gleichheit, doch die Arbeit an ihr bleibt selten gleich verteilt. Awareness, Care, Konfliktbegleitung und emotionale Stabilisierung sind weiterhin feminisiert und politisch unteranerkannt – sie landen noch häufig bei FLINTA-Personen. Und allzu oft sind es gebärende Personen, die in linke Räume und Kollektive nicht zurückfinden (können), weil sie die Care-Last im Privaten tragen oder schlicht nicht mitgedacht und ausreichend berücksichtigt werden. Das führt unweigerlich zu Vereinzelung und Ausschluss aus möglichen Schutzstrukturen.
Menschen mit ökonomischen oder sozialen Privilegien können selbst in kollektiven Räumen subtile Macht ausüben – durch Ressourcenverteilung, zeitliche Verfügbarkeit oder symbolisches Kapital.
Kollektivität und Machtkritik müssen daher intersektional gedacht werden. Nicht alle Menschen haben denselben Zugang. Klasse, Rassismus, Behinderung, Neurodivergenz, Geschlecht und Sexualität strukturieren, wie sicher sich Menschen in kollektiven Räumen bewegen können – oder überhaupt.
Eine anarchafeministische Haltung ist daher immer auch eine, die auf emotionale, soziale und materielle Barrieren achtet. Sie politisiert diese Dynamiken. Sie fordert dazu auf, Privilegien zu reflektieren, Verantwortung umzuschichten und emotionale Arbeit nicht als private Fähigkeit, sondern als kollektive Aufgabe zu begreifen.
Eine anarchafeministische Perspektive fragt nicht danach, wie uns der Staat schützt, sondern wie wir miteinander umgehen und Schutz füreinander jenseits staatlicher Gewalt herstellen.
Das bedeutet, wir brauchen kollektive Verantwortung statt Repression, Konfliktbearbeitung statt Bestrafung und solidarische Strukturen statt Institutionenglaube. Und es bedeutet, Sicherheit nicht als Abwesenheit von Regelbruch zu denken, sondern als Anwesenheit von Verlässlichkeit und Beziehung im Alltag fern von Kontrolle.
Feminismus ohne Staat heißt nicht, Gewalt zu verharmlosen. Es heißt, sie ernst genug zu nehmen, um ihre Ursachen anzugehen, Verantwortung nicht auszulagern und Schutz nicht mit Gehorsam zu verwechseln.
In feministischen und anarchistischen Kontexten lautet eine der häufigsten Antworten auf die Frage, wie wir dann mit Gewalt, Konflikten und Grenzverletzungen ohne Polizei, ohne Gerichte und ohne Sanktionen von oben umgehen können, Awareness. Awareness wird oft als Haltung verstanden, achtsam, sensibel und zugewandt zu sein. Als Wertekanon und Einladung zur Rücksichtnahme – nicht als Praxis und politische Aufgabe. Tatsächlich aber ist Awareness eine Form von Arbeit durch emotionale Stabilisierung, Konfliktmoderation, Begleitung von Betroffenen, Aushandlung von Grenzen, Gesprächsführung, schriftliche Konzepte und Reaktionsketten. Das alles passiert nicht von selbst. Es kostet Zeit, Energie und Nerven. Und es ist wie bereits erwähnt ungleich verteilt.
In vielen linken Räumen wird Awareness eingefordert, doch die Verantwortung bleibt häufig an wenigen hängen. Oft sind es FLINTA*-Personen, queere, trans oder neurodivergente Menschen, die auffangen, moderieren, beruhigen und vermitteln. Awareness wird erwartet, aber nicht unbedingt kollektiv getragen. So entsteht ein Paradox. Ausgerechnet in Räumen, die Macht abbauen wollen, verfestigt sich neue Unsichtbarkeit.
Das Problem ist also nicht, dass es Awareness gibt, sondern wie sie organisiert ist. Nämlich allzu oft unsichtbar und ungesichert. Individualisiert statt kollektiv. Moralisch aufgeladen und politisch entlastet.
Wer sich also von Polizei, Justiz und Gesetz emanzipieren will, muss mehr tun, als sie abzulehnen. Er muss Strukturen aufbauen, die tragen.
Feminismus ohne Staat bedeutet, dass Sicherheit nicht delegierbar ist und Awareness organisiert werden muss – kollektiv abgesichert, rotierend getragen, transparent gemacht, ernst genommen, verhandel- und begrenzbar.
In anarchistischen und feministischen Kontexten gibt es oft die Sehnsucht nach dem sicheren Raum und nach Gemeinschaft als Schutz. Nach politischer Übereinstimmung als Garantie für Gewaltfreiheit. Doch Kollektive sind nicht automatisch sicherer als der Staat. Sie sind nur näher. Nähe kann Schutz bedeuten, aber auch mehr Verletzung. Auch in linken Räumen gibt es Macht und das verpflichtet zu Machtkritik.
Das kann unbequem sein, aber Awareness wird erst dann Schutzstruktur, wenn sie verankert ist, getragen wird, verlässlich funktioniert, niemanden aufreibt und nicht von Einzelnen abhängt. Denn solange Awareness als besondere Kompetenz Einzelner gilt, bleibt sie anfällig für Überforderung, für Hierarchien und für Willkür. Kollektivität beginnt dort, wo Verantwortung nicht heroisiert, sondern organisiert wird. Wenn wir keine Institutionen wollen, brauchen wir Strukturen und statt Strafen Prozesse.