Im Mai 2024 veröffentlichte Zoe Baker ein weitreichendes Video mit dem Titel „What is the Proletariat?“ „Was ist das Proletariat?“. Ein Transkript des Videos lässt sich hier finden. Wir haben das Transkript übersetzt. Die ersten drei Kapitel findet Ihr hier, die letzten beiden untenstehend. Anmerkung: Quellenangaben beziehen sich auf die englischen Originaltitel.
Das Wort Proletariat wurde ursprünglich in einer Vielzahl von konkurrierenden und widersprüchlichen Bedeutungen verwendet. Die verschiedenen Autoren der 1830er und 1840er Jahre, die ich zitiert habe, waren historisch äußerst wichtig, sind aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Wenn moderne Menschen im 21. Jahrhundert an das Proletariat denken, denken sie im Allgemeinen an das Proletariat, wie es in den Schriften von Marx und Engels erscheint oder zumindest in den populären Falschdarstellungen zu Marx und Engels. Trotz der zentralen Bedeutung von Klasse in der Gesellschaftsanalyse der beiden ist es erstaunlich schwierig, festzustellen, was sie genau über das Proletariat dachten. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Marx starb, bevor er sein geplantes Kapitel über Klassen für den dritten Band des Kapitals schrieb. Der von ihm begonnene Entwurf enthält nur ein paar Absätze (Marx 1991, 1025-26). Sowohl Marx als auch Engels schrieben viel über Klassen, aber oft ohne die Definition von Schlüsselbegriffen oder einer Art von systematischer Aufschlüsselung der Klassen, die ihre Ideen leicht verständlich machen würde. Erschwerend kommt hinzu, dass sie das Wort „Klasse“ für unterschiedliche Dinge verwendeten. Dies führt dazu, dass selbst Fachleute sich nicht einig sind, wie Marx und Engels den Klassenbegriff verstanden haben (Draper 1978; Heinrich 2004, 91-92; Ollman 1968; McLellan 1980, 177-82).
Angesichts dieser Komplexität soll im Folgenden kurz dargestellt werden, wie Marx und Engels das Proletariat definieren. Es ist nicht möglich, in einer so kurzen Darstellung jede einzelne Quelle und Nuance zu behandeln, aber zumindest ihre Kernpositionen sollen deutlich gemacht werden.
Marx und Engels definierten Klasse im Allgemeinen über die Einkommensquelle einer Person und über ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Wenn sie von Klasse sprachen, konzentrierten sie sich auf die sozialen Beziehungen, innerhalb derer Arbeit verrichtet wurde. Im Februar 1844 veröffentlichte Marx in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift den Beitrag zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie - Einleitung. Diese Zeitschrift trug den Namen Deutsch-Französische Jahrbücher und wurde nur in einer einzigen Ausgabe veröffentlicht (McLellan 1973, 98-99). Sein Aufsatz, der zwischen Ende 1843 und Anfang 1844 geschrieben wurde, ist der erste Text, in dem Marx auf das Proletariat als Träger revolutionärer Veränderungen Bezug nimmt. Obwohl er das Proletariat nicht ausdrücklich definiert, hebt er drei wesentliche Merkmale dieser Klasse hervor. Erstens: „Das Proletariat beginnt erst durch die hereinbrechende industrielle Bewegung für Deutschland zu werden, den nicht die naturwüchsig entstandne, sondern die künstlich produzierte Armut […] bildet das Proletariat“ (Marx 1992b, 256). Zweitens: „Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.“ (ebd.). Drittens: „während der Proletarier schon beginnt, sich im Kampf gegen die Bourgeois zu befinden“ (ebd., 255). Mit anderen Worten: Das Proletariat ist eine neue Klasse, die kein Privateigentum besitzt, im Zuge der Industrialisierung entsteht und in einem antagonistischen Verhältnis zu den Kapitalisten steht, die die über ihr stehende Klasse sind. Marx macht nicht deutlich, wie sich diese neue Klasse von anderen, zu dieser Zeit existierenden Arten von Arbeiter:innen unterscheidet. Es ist jedoch klar, dass Marx den Begriff in einem engeren Sinne verwendet als viele französische Sozialisten. Das hat den offensichtlichen Grund, dass Handwerker und Bauern keine neue Klasse waren, die im Zuge der Industrialisierung entstanden ist.
Marx war anfangs nicht konsequent in dieser Terminologie. Bei anderen Gelegenheiten folgte er dem allgemeinen Sprachgebrauch und bezeichnete jeden Arbeiter als Proletarier, auch Handwerker, die ihre eigenen Produktionsmittel besaßen. Im August 1844 führte er die Bücher von Wilhelm Weitling als Beweis dafür an, dass „das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen Proletariats ist“ (Marx 1992b, 415). Weitling war ein Schneider und Kunsthandwerker (Wittke 1950, 6-9, 20-21). Wenige Monate später bezeichnete Marx in seinem Buch Die heilige Familie von 1845 den Handwerker und Drucker Proudhon als Proletarier. Er schrieb: „Proudhon schreibt nicht nur im Interesse der Proletarier, er ist selbst ein Proletarier, ein ouvrier [Arbeiter]. Sein Werk ist ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats“ (MECW 4, 41). In seinem Buch Die Armut der Philosophie von 1847 erwähnte Marx „das Proletariat der Feudalzeit“ und schien damit seiner Position zu widersprechen, dass das Proletariat eine neue Klasse ist, die mit der industriellen Revolution entstanden ist. Später nahm Marx eine Reihe von Korrekturen an dem Buch vor, von denen eine darin bestand, diese Formulierung durch „die Klasse der Arbeiter der Feudalzeit“ zu ersetzen (MECW 6, 175, 672-3n71).
Etwa zur gleichen Zeit übernahm Engels, der Marx zwar kennengelernt hatte, aber noch nicht sein Freund geworden war (MECW 50, 503), die gleiche enge Definition des Proletariats. Zwischen Oktober und November 1843 schrieb er einen Entwurf mit dem Titel Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. Dieser Aufsatz wurde Marx irgendwann zwischen Ende Dezember und Anfang Januar zugesandt und dann in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht (Carver 2020, 132). In diesem Aufsatz bezog sich Engels auf „die ursprüngliche Trennung des Kapitals von der Arbeit und auf den Höhepunkt dieser Trennung - die Spaltung der Menschheit in Kapitalisten und Arbeiter - eine Spaltung, die täglich immer schärfer wird, und die sich, wie wir sehen werden, zwangsläufig vertiefen muss“ (MECW 3, 430). Engels erwähnt mehrmals das neue Fabriksystem der industriellen Produktion, geht aber nicht näher darauf ein und verspricht stattdessen, es zu einem späteren Zeitpunkt zu behandeln (MECW 3, 420, 424, 442-43). Engels hält sich an dieses Versprechen und verfasst im Februar 1844 einen Aufsatz über die Industrialisierung Englands im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der Aufsatz wurde zwischen August und September von der deutschen Zeitung Vorwärts veröffentlicht, die ihren Sitz in Paris hatte und in deren Redaktion Marx saß. Die Veröffentlichung dieses Aufsatzes fiel mit einem zehntägigen Besuch von Engels in Paris zusammen, bei dem er seine Freundschaft mit Marx festigte und sie vereinbarten, bei künftigen Projekten zusammenzuarbeiten (Carver 2020, 145; Jones 2016, 161).
In dem Aufsatz behauptete Engels, dass die industrielle Revolution zur „Spaltung der Gesellschaft in Eigentumsbesitzer und Nichteigentümer“ führte (MECW 3, 478). Er meinte:
„Das wichtigste Resultat des achtzehnten Jahrhunderts war für England die Schöpfung des Proletariats durch die industrielle Revolution. Die neue Industrie erforderte eine stets fertige Masse von Arbeitern für die zahllosen neuen Zweige der Arbeit, und zwar Arbeiter, wie sie bisher nicht dagewesen waren. Bis 1780 hatte England wenig Proletarier, wie dies notwendig aus der oben dargestellten sozialen Lage der Nation hervorgeht. Die Industrie konzentrierte die Arbeit auf Fabriken und Städte; die Vereinigung der gewerblichen und ackerbauenden Tätigkeit wurde unmöglich gemacht und die neue Arbeiterklasse rein auf ihre Arbeit angewiesen. Die bisherige Ausnahme wurde Regel und breitete sich allmählich auch außerhalb der Städte aus. Die Parzellenkultur des Landes wurde durch die großen Pächter verdrängt und dadurch eine neue Klasse von Ackerbautaglöhnern geschaffen. Die Städte verdreifachten und vervierfachten ihre Bevölkerung, und fast all dieser Zuwuchs bestand aus bloßen Arbeitern. Die Ausdehnung des Bergbaues erforderte ebenfalls eine große Zahl neuer Arbeiter, und auch diese lebten bloß von ihrem Taglohn.“ (MECW 3, 487).
Engels präzisiert wie Marx, dass das Proletariat eine neue Klasse ist, die kein Privateigentum besitzt und während der industriellen Revolution entstanden ist. Darüber hinaus stellt er klar, dass das Proletariat in diesem Sinne ausschließlich davon lebt, dass es seine Arbeitskraft an einen Kapitalisten verkauft und dafür einen Lohn erhält. Er stellt fest, dass es Handwerker gab, die ihre eigenen Produktionsmittel besaßen, betrachtete sie aber eindeutig als etwas anderes als das Proletariat (MECW 3, 477-78, 482-83). Die zentralen Punkte dieses Aufsatzes wurden von Engels im Eröffnungskapitel seines Buches Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 wiederholt (Engels 1993, 15-30).
Im Jahr 1847 schrieb Engels eine sehr klare und prägnante Darstellung dessen, was das Proletariat ist. Er behauptete, dass sich im Kapitalismus zwei Hauptklassen entwickeln. Dies waren die „Bourgeoisie“, die „fast ausschließlich im Besitz aller Subsistenzmittel und der Rohstoffe und Instrumente (Maschinen, Fabriken usw.) ist, die für die Produktion dieser Subsistenzmittel benötigt werden“, und „die Klasse der völlig Eigentumslosen, die daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an die Bourgeoisie zu verkaufen, um im Austausch die notwendigen Subsistenzmittel zu erhalten. Diese Klasse wird die Klasse der Proletarier oder das Proletariat genannt“ (MECW 6, 342-43).
Er definierte das Proletariat als „diejenige Gesellschaftsklasse, die ihren Lebensunterhalt vollständig und ausschließlich aus dem Verkauf ihrer Arbeitskraft und nicht aus dem Gewinn irgendeines Kapitals bestreitet“ (ebd., 341). An anderer Stelle stellt er fest, dass „der Proletarier“ darüber hinaus „mit Produktionsmitteln arbeitet, die einem anderen gehören“ (ebd., 100). Diese Klasse unterscheidet sich von anderen, zuvor existierenden Arbeiterklassen wie Handwerksgesellen und ländlichen Hausangestellten, die mit einem Spinnrad und einem Handwebstuhl, die ihnen selbst gehörten, Stoffe herstellten. Engels schrieb: „Der Manufakturarbeiter des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts hatte fast überall noch ein Produktionsinstrument in seinem Besitz, seinen Webstuhl, die Spinnräder für seine Familie, ein kleines Feld, das er in Nebenstunden bebaute. Der Proletarier hat das alles nicht. . . Der Manufakturarbeiter wird durch die große Industrie aus seinen patriarchalischen Verhältnissen herausgerissen, verliert den Besitz, den er noch hatte, und wird dadurch selbst erst Proletarier.“ (ebd., 344-45).
Marx und Engels wiederholten diese Definition des Proletariats in verkürzter Form im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 (Marx und Engels 1996, 7). Warum haben Marx und Engels diese enge Definition des Proletariats genutzt? Bei Engels scheinen seine Lebenserfahrungen ein entscheidender Faktor zu sein. Im November 1842 zog er nach Manchester, um als Angestellter im Büro des väterlichen Unternehmens zu arbeiten, das Baumwollspinnereien besaß, in denen besitzlose Lohnarbeiter beschäftigt waren. Während seines Aufenthalts in England wird Engels Zeuge der Auswirkungen der Industrialisierung auf die Gesellschaft, der Notlage der Fabrikarbeiter und des Kampfes der Chartistenbewegung für das allgemeine Männerwahlrecht. Gleichzeitig lernte er Sozialisten kennen und begann über die politische Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte Englands zu lesen (Carver 2020, 123-32, 140-41). Historiker haben verschiedene Inspirationsquellen für Marx vorgeschlagen, aber es gibt nicht genügend Belege, um hier eine endgültige Antwort zu geben. Es ist wahrscheinlich, dass Marx das Wort während der Treffen kommunistischer Handwerker hörte, an denen er im Sommer 1844 teilnahm, als er in Paris lebte (MECW 3, 355). Eine der häufigsten Vermutungen ist, dass Marx das Buch Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs von Lorenz von Stein aus dem Jahr 1842 gelesen hat. Es ist nicht bekannt, wann Marx dieses Buch zum ersten Mal gelesen hat. Wahrscheinlich wusste er schon bald nach der Veröffentlichung von der Existenz des Buches, da es von jemand anderem in einer Zeitung, für die er schrieb, der Rheinischen Zeitung, rezensiert wurde. Er erwähnt das Buch erstmals namentlich im Buch Die Heilige Familie, das zwischen September und November 1844 geschrieben wurde (Rubel und Manale 1975, 24; MECW 4, 134).
Eine weitere wahrscheinliche Quelle der Inspiration für Marx ist Sismondi. Marx bezieht sich ausdrücklich auf ihn in seinen Pariser Notizbüchern von 1844 (Marx 1992b, 306, 339) und in Die Heilige Familie (MECW 4, 33). Marx zitiert Sismondi mit den Worten: „Man beachte wohl, nicht gegen die Maschinen, nicht gegen die fortschreitende Gesittung oder gegen die Erfindungen richten sich meine Einwendungen, sondern gegen die heutige Organisation der Gesellschaft, eine Organisation, die, während sie den Arbeitenden jedes anderen Eigentums beraubt als seiner Arme, ihm nicht die geringste Gewähr gibt gegen einen Wettbewerb, gegen den tollen Handel, der stets zu seinem Nachteil ausschlägt und dessen Opfer er naturgemäß werden muß.“ (MECW 4, 272).
Im Laufe der Zeit wurde Marx' Definition des Proletariats immer präziser. Dies ging einher mit der Behauptung, dass das Proletariat erstmals im 16. Jahrhundert und damit vor der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts in England entstand (Marx 1990, 877-88, 905-907). Im Kapital Band 1 beschrieb er das Proletariat als die Klasse, die,
(i) ihre Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt verkauft. Die Arbeitskraft eines Menschen ist die geistige und körperliche Fähigkeit, die er ausübt, wenn er etwas produziert. Mit anderen Worten, seine Fähigkeit zu arbeiten.
(ii) aus rechtlich freien Personen besteht, die ihre Arbeitskraft verkaufen können, an wen sie wollen. Sie sind keine Sklaven oder Leibeigenen und somit Eigentümer ihrer eigenen Arbeitskraft und nicht das Eigentum eines anderen. Darüber hinaus dürfen sie nicht an Zunftvorschriften gebunden sein, die ihre Arbeitsmöglichkeiten und den Auftraggeber stark einschränken.
(iii) ihre Arbeitskraft für einen begrenzten und definitiven Zeitraum verkauft. Wenn eine Person ihre Arbeitskraft ein für alle Mal verkauft, dann verkauft sie sich selbst und wird dadurch zu einem Sklaven, der eine Ware ist, die jemand anderem gehört, und nicht zu einer Person, die eine Ware verkauft, die ihr gehört.
(iv) keine Produktionsmittel (Rohstoffe, Produktionsmittel usw.) besitzt, so dass sie nicht überleben kann, indem sie ihre eigenen Waren herstellt und diese auf dem Markt verkauft. Die Mitglieder dieser Klasse haben nichts zu verkaufen außer ihrer Arbeitskraft, und das ist es, was sie zwingt, einen Käufer für ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu suchen.
(v) ihre Arbeitskraft an einen Kapitalisten verkauft, der Eigentümer der Produktionsmittel ist, dafür wird ein Lohn erhalten. Mit diesem Lohn kauft der Arbeiter dann die lebensnotwendigen Dinge wie Nahrung, Miete, Kleidung usw. und reproduziert damit sich und seine Arbeitskraft (Marx 1990, 270-80, 874-76, 1025-31)[1].
Die enge Definition des Proletariats von Marx und Engels wird weithin missverstanden. Es müssen drei Punkte klargestellt werden. Erstens waren sie nicht der Meinung, dass Proletarier und Kapitalisten die einzigen Klassen sind, die im real existierenden Kapitalismus existieren. Dieses Missverständnis rührt von einem Satz im Kommunistischen Manifest her. Hier steht, dass „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (Marx und Engels 1996, 2). In diesem Satz haben Marx und Engels darauf geachtet, den Ausdruck „große Klassen“ und nicht „nur Klassen“ zu verwenden. Eine Gesellschaft kann zwei „große Klassen“ haben, aber auch mehrere kleinere Klassen, die nicht so bedeutend sind. Die Tatsache, dass Marx dies dachte, wird im Kapital Band 3 deutlich. Er erklärt:
„Die Eigentümer von bloßer Arbeitskraft, die Eigentümer von Kapital und die Grundeigentümer, deren jeweilige Einkommenquellen Arbeitslohn, Profit und Grundrente sind, also Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer, bilden die drei großen Klassen der modernen, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhenden Gesellschaft. In England ist unstreitig die moderne Gesellschaft, in ihrer ökonomischen Gliederung, am weitesten, klassischsten entwickelt. Dennoch tritt diese Klassengliederung selbst hier nicht rein hervor. Mittel- und Übergangsstufen vertuschen auch hier (obgleich auf dem Lande unvergleichlich weniger als in den Städten) überall die Grenzbestimmungen. Indes ist dies für unsere Betrachtung gleichgültig. Man hat gesehn, daß es die beständige Tendenz und das Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise ist, die Produktionsmittel mehr und mehr von der Arbeit zu scheiden und die zersplitterten Produktionsmittel mehr und mehr in große Gruppen zu konzentrieren, also die Arbeit in Lohnarbeit und die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln“ (Marx 1991, 1025).
Marx unterschied zwischen dem Kapitalismus in seiner „reinen Form“, der drei große Klassen hat, und real existierenden kapitalistischen Gesellschaften wie England, die weit mehr Klassen enthalten. Dies war keine einmalige Erscheinung. In den frühen 1860er Jahren schrieb er in seinen ökonomischen Manuskripten:
„Hier brauchen wir nur die Formen zu betrachten, die das Kapital in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung durchläuft. Die realen Bedingungen, unter denen der eigentliche Produktionsprozess abläuft, werden also nicht analysiert... Wir untersuchen weder die Konkurrenz der Kapitale, noch das Kreditsystem, noch die tatsächliche Zusammensetzung der Gesellschaft, die keineswegs nur aus zwei Klassen besteht, den Arbeitern und den industriellen Kapitalisten“ (MECW 32, 124).
Marx unterschied also zwischen dem Modell, das zur Analyse der Wirklichkeit konstruiert wird, und der Wirklichkeit selbst. Dieses Modell ist eine Vereinfachung, die sich auf bestimmte Schlüsselmerkmale der Realität konzentriert und gleichzeitig andere Aspekte außer Acht lässt. Dies ist ein notwendiger Aspekt der Sozialwissenschaft, denn die Realität ist ein äußerst komplexer Prozess, der sich ständig verändert. Es ist nicht möglich, über alles gleichzeitig zu schreiben, und kein einzelner Mensch kann alles über die reale Welt lernen. Ein Modell ist in dem Maße gut oder nützlich, wie es der Realität, die es beschreibt, entspricht und zu deren Erklärung herangezogen werden kann. Marx nannte diese Methode der Forschung Abstraktion (Marx 1990, 90, 102). Er änderte die Kategorien, die er zum Verständnis der Wirklichkeit verwendete, jeweils in Bezug auf das Abstraktionsniveau, in dem sein Modell spielte. Im Kapital, Band 3, behauptete er, dass es ihm darum gehe, „die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen ihren idealen Durchschnitt“ zu erklären, und dass er deshalb nicht auf die Besonderheiten der „tatsächlichen Bewegung der Konkurrenz“ auf dem „Weltmarkt“ eingehen werde (Marx 1991, 969-70. Für weitere Informationen über Marx' Methode siehe Raekstads Videoserie über den dialektischen Materialismus).
Marx erkannte bei zahlreichen Gelegenheiten an, dass die Realität weitaus komplexer ist als das einfache Modell der zwei oder drei großen Klassen, das er zur Analyse der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer reinen oder durchschnittlichen Form konstruierte. Im Kommunistischen Manifest erwähnten Marx und Engels „die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern“ (Marx und Engels 1996, 8). Später sprachen sie von „dem kleinen Industriellen, dem kleinen Kaufmann, dem Handwerker, dem Bauern“ im Präsens (ebd., 10). Marx und Engels sagten voraus, dass im Laufe der Zeit ein immer größerer Prozentsatz dieser Klassen durch wirtschaftliche Kräfte gezwungen sein würde, Proletarier zu werden. Diese Vorhersage ist nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass diese Klassen in den tatsächlichen kapitalistischen Gesellschaften nicht existieren. Sie behaupteten darüber hinaus:
„In den Ländern, wo sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, hat sich eine neue Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie schwebt und als ergänzender Teil der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem sich bildet, deren Mitglieder aber beständig durch die Konkurrenz ins Proletariat hinabgeschleudert werden, ja selbst mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt herannahen sehen, wo sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich verschwinden und im Handel, in der Manufaktur, in der Agrikultur durch Arbeitsaufseher und Domestiken ersetzt werden“ (ebd., 22).
Selbst Jahrzehnte später waren Marx und Engels nicht der Ansicht, dass die vollständige Proletarisierung der Arbeiterschaft stattgefunden hatte. Im Ersten Band des Kapitals beschrieb Marx die kapitalistische Gesellschaft, wie sie in den 1860er Jahren in England bestand. Dabei stellte er fest, dass es nach wie vor häusliche Lohnarbeiter gibt, die ihre eigenen Produktionsmittel, z. B. eine Nähmaschine, besitzen und bei einem Kapitalisten angestellt sind, der sie mit den erforderlichen Rohstoffen versorgt (Marx 1990, 599-604). Er behauptete auch, dass es laut der Volkszählung von 1861 in England und Wales mehr Dienstboten gab als Beschäftigte in Textilfabriken und Bergwerken zusammengenommen. Diese Bediensteten, bei denen es sich größtenteils um Frauen handelte, wurden zwar technisch gesehen entlohnt, doch wurde ihnen dieser Lohn direkt von denjenigen gezahlt, die ihre Dienste in Anspruch nahmen. Sie unterschieden sich daher von Lohnarbeitern, die von einem Kapitalisten als Teil eines gewinnbringenden Unternehmens eingestellt wurden (ebd., 574-75). 1870 schrieb Engels, dass das städtische Proletariat „noch weit davon entfernt ist“ die Mehrheit des deutschen Volkes zu sein und neben „dem Kleinbürgertum, dem Lumpenproletariat der Städte, den Kleinbauern und den Landarbeitern“ existiert, die zum „Agrarproletariat“ gehören (MECW 21, 98, 100).
Marx und Engels geben nie eine systematische Definition des Kleinbürgertums. Es scheint aus kleinen Kaufleuten, Ladenbesitzern, Handwerksmeistern und selbständigen Handwerkern zu bestehen. Diese selbständigen Handwerker besitzen ihre eigenen Produktionsmittel und nutzen sie zur Herstellung von Waren oder Dienstleistungen, die sie auf dem Markt verkaufen. Sie beschäftigen keinen anderen als Lohnarbeiter (MECW 6, 79-80, 343; MECW 26, 500; MECW 34, 470-71). Im Kapital Band 3 definierte Marx „kleinbäuerliche und kleinbürgerliche Produktion“ als „alle Formen, in denen der Produzent noch als Eigentümer seiner Produktionsmittel auftritt. In der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ist der Arbeiter nicht Eigentümer seiner Produktionsbedingungen, des Ackers, den er bewirtschaftet, des Rohstoffs, den er verarbeitet usw.“ (Marx 1991, 731). In seinen ökonomischen Manuskripten aus den 1860er Jahren beschreibt Marx solche selbständigen Bauern und Handwerker als in einer vorkapitalistische Produktionsweise lebend, die durch kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse verändert wird. Das Ergebnis ist, dass die selbständigen Produzenten metaphorisch in zwei Hälften geteilt werden: Sie leben als Kapitalisten, die sich selbst als Lohnarbeiter beschäftigen (MECW 34, 141-42). Diese Analyse ist eindeutig von Adam Smith entlehnt.
Marx war der Ansicht, dass diese Art der Vermittlung zwischen verschiedenen Produktionsverhältnissen dann auftritt, wenn „eine bestimmte Produktionsweise vorherrscht, obwohl noch nicht alle Produktionsverhältnisse ihr unterworfen sind“ (ebd., 141. Siehe auch ebd., 428). Er scheint die gleiche Auffassung von der Sklaverei in real existierenden kapitalistischen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten gehabt zu haben. In den Grundrissen schrieb Marx, dass „die Sklaverei an einzelnen Punkten innerhalb des bürgerlichen Produktionssystems möglich ist, ... weil sie an anderen Punkten nicht existiert; und als Anomalie gegenüber dem bürgerlichen System selbst erscheint“ (Marx 1993, 464). Dieser Punkt wird später in den Manuskripten wiederholt. Er stellte fest, dass „die Tatsache, dass wir jetzt die Plantagenbesitzer in Amerika nicht nur Kapitalisten nennen, sondern dass sie Kapitalisten sind, auf ihrer Existenz als Anomalie innerhalb eines auf freier Arbeit beruhenden Weltmarkts beruht“ (ebd., 513. Siehe auch Marx 1990, 345).
Die zweite Klarstellung ist, dass Marx und Engels nicht der Meinung waren, dass nur die industriellen, eigentumslosen Lohnarbeiter Proletarier sind. Engels ist sich darüber im Klaren, dass zum Proletariat auch die eigentumslosen landwirtschaftlichen Lohnarbeiter gehören. Im Februar 1845 behauptet Engels in Bezug auf Deutschland:
„Unser Proletariat ist zahlreich und muß es sein, wie wir bei der oberflächlichsten Betrachtung unserer sozialen Lage einsehen müssen. Daß in den Industriebezirken ein zahlreiches Proletariat sein muß, liegt in der Natur der Sache. Die Industrie kann nicht ohne eine große Anzahl von Arbeitern existieren, die ihr gänzlich zu Gebote stehen, nur für sie arbeiten und auf jeden anderen Erwerb verzichten, die industrielle Beschäftigung macht bei dem Bestehen der Konkurrenz jede andere Beschäftigung unmöglich. Daher finden wir in allen Industriedistrikten ein Proletariat, das zu zahlreich, zu augenscheinlich ist, als daß es geleugnet werden könnte. - In den Ackerbaudistrikten dagegen soll kein Proletariat existieren, wie von vielen Seiten her behauptet wird. Aber ist dies möglich? In den Gegenden, wo großer Grundbesitz vorherrscht, ist ein solches Proletariat notwendig, die großen Wirtschaften haben Knechte und Mägde nötig, können nicht ohne Proletarier existieren. In den Gegenden, wo der Grundbesitz parzelliert ist, läßt sich das Aufkommen einer besitzlosen Klasse ebenfalls nicht vermeiden; man teilt die Güter bis zu einem gewissen Grade, und dann hört das Teilen auf; und da dann nur einer aus der Familie das Gut übernehmen kann, so müssen die anderen wohl Proletarier, besitzlose Arbeiter werden. Dabei geht das Teilen denn gewöhnlich solange voran, bis das Gut zu klein ist, um eine Familie ernähren zu können, und es bildet sich eine Klasse von Leuten, die wie die kleine Mittelklasse der Städte, einen Übergang aus der besitzenden in die besitzlose Klasse bildet, durch ihren Besitz von anderer Beschäftigung zurückgehalten und doch nicht befähigt ist, von ihm zu leben. Auch unter dieser Klasse herrscht großes Elend“ (MECW 4, 256-57).
Engels wiederholte den gleichen Punkt in Die Lage der arbeitenden Klasse in England, wo ein ganzes Kapitel dem so genannten „landwirtschaftliche Proletariat“ gewidmet ist (Engels 1993, 267-69). Er erklärte:
„Die ersten Proletarier gehörten der Industrie an und wurden direkt durch sie erzeugt; die industriellen Arbeiter, diejenigen, die sich mit der Verarbeitung von Rohstoffen beschäftigen, werden also zunächst unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Erzeugung des industriellen Materials, der Roh- und Brennstoffe selbst, wurde erst infolge des industriellen Umschwungs bedeutend und konnte so ein neues Proletariat hervorbringen: die Arbeiter in den Kohlengruben und Metallbergwerken. In dritter Instanz wirkte die Industrie auf den Ackerbau und in vierter auf Irland zurück, und demgemäß ist auch den dahin gehörenden Fraktionen des Proletariats ihre Stelle anzuweisen.“ (Engels 1993, 32).
Marx stimmte in dieser Frage mit Engels überein. Irgendwann zwischen April 1874 und Januar 1875 bezog er sich auf die Situation, in der ein bäuerlicher Eigentümer zu einem Proletarier wird. Er schrieb: „Der kapitalistische Pachtbauer hat die Bauern verdrängt, so dass der eigentliche Bauer ebenso ein Proletarier, ein Lohnarbeiter, ist wie der städtische Arbeiter“ (MECW 24, 518). Marx und Engels vertraten die Ansicht, dass das Industrieproletariat das größte revolutionäre Potenzial besaß, was aber nicht bedeutete, dass es die einzigen Mitglieder des Proletariats waren (MECW 5, 73-74; MECW 46, 153-54).
Die dritte Klarstellung besteht darin, dass Marx und Engels nicht der Meinung waren, dass nur Arbeiter, die direkt eine physische Sache sammeln oder produzieren, wie Bergarbeiter und Fließbandarbeiter, Proletarier sind. Sie waren sich bewusst, dass es auch andere Arten von besitzlosen Lohnarbeitern gibt. Marx betonte die Tatsache, dass die Kombination von Massenproduktion und kapitalistischer Arbeitsteilung zu einer Vielzahl von eigentumslosen Lohnarbeitern führt, die eine Schlüsselrolle bei der Produktion einer bestimmten Sache spielen, aber keine direkten Produzenten sind. Er schrieb:
„Mit der Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise wo viele Arbeiter an der Produktion derselben Ware zusammenarbeiten, muss natürlich das Verhältnis, worin ihre Arbeit unmittelbar zum Gegenstand der Produktion steht, sehr verschieden sein. Z.B. die ... Handlanger in einer Fabrik haben nichts direkt mit der Bearbeitung des Rohstoffs zu tun. Die Arbeiter, die die Aufseher der direkt mit dieser Bearbeitung zu tun Habenden bilden, stehen einen Schritt weiter ab; der Ingenieur hat wieder ein andres Verhältnis und arbeitet hauptsächlich mit seinem Kopfe etc. Aber das Ganze dieser Arbeiter, die Arbeitsvermögen von verschiednem Werte besitzen, ... produzieren das Resultat...; und alle zusammen, als Werkstatt, sind die lebendige Produktionsmaschine dieser Produkte“ (MECW 34, 144).
Marx bezog sich darüber hinaus auf Proletarier, die nicht an der Produktion von materiellen Dingen beteiligt sind. Im Kapital Band 2 schrieb er: „Es gibt aber selbständige Industriezweige, wo das Produkt des Produktionsprozesses kein neues gegenständliches Produkt, keine Ware ist. Ökonomisch wichtig davon ist nur die Kommunikationsindustrie, sei sie eigentliche Transportindustrie für Waren und Menschen, sei sie Übertragung bloß von Mitteilungen, Briefen, Telegrammen etc“ (Marx 1992a, 134). Er erkannte die Existenz von „Arbeitern, die in der Transportindustrie beschäftigt sind“ an (ebd., 135. Siehe auch MECW 34, 145-46). An anderer Stelle erwähnte er zahlreiche Arten von Arbeitern, die Profite für Kapitalisten erwirtschaften, indem sie Dienstleistungen erbringen oder Erlebnisse für zahlende Kunden schaffen. Dazu gehörten Kellner, Sänger, Schauspieler, Lehrer an Privatschulen und sogar Clowns (MECW 31, 13, 15, 21-22; MECW 34, 139-40, 143-44, 448).
In diesen Passagen betonte Marx die Tatsache, dass zwei Menschen die gleiche Art von Arbeit verrichten können, aber aufgrund der unterschiedlichen sozialen Beziehungen, innerhalb derer sie diese Arbeit verrichten, verschiedenen Klassen angehören. Er schrieb: „Diese Definitionen leiten sich also nicht von den materiellen Eigenschaften der Arbeit ab (weder von der Natur ihres Produkts noch vom besonderen Charakter der Arbeit als konkreter Arbeit), sondern von der bestimmten gesellschaftlichen Form, den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, innerhalb derer die Arbeit realisiert wird“ (MECW 31, 13).
Ein besitzloser Schneider, der in einer Kleiderfabrik Anzüge für einen Kapitalisten anfertigt, ist ein Proletarier. Ein selbständiger Schneider, der von einem Kunden direkt mit der Anfertigung eines Anzugs beauftragt wird, ist ein selbständiger Arbeitnehmer. Dies gilt auch dann, wenn der Kunde, der den Anzug bezahlt, zufällig ein Kapitalist ist. Eine Person kann einer Gruppe von Kindern in jeder Gesellschaft mit Schrift das Lesen beibringen. Dieser Lehrer wird erst dann zum Proletarier, wenn er „gegen Lohn in einer Anstalt zusammen mit anderen arbeitet und sein eigenes Wissen benutzt, um das Geld des Unternehmers zu vermehren, dem die wissensvermittelnde Anstalt gehört“ (Marx 1990, 1044). Ein solcher Lehrer „schuftet sich zu Tode, um den Eigentümer der Schule zu bereichern. Dass dieser sein Kapital in einer Lehrfabrik und nicht in einer Wurstfabrik angelegt hat, macht für das Verhältnis keinen Unterschied“ (ebd., 644).
Marx' und Engels' enge Definition des Proletariats wurde nicht sofort populär. Die breitere Standardkonzeption war weiterhin weit verbreitet. So schrieb Blanqui 1852 in einem Brief, dass es in Frankreich „zweiunddreißig Millionen Proletarier ohne Eigentum oder mit sehr wenig Eigentum gab, die nur von dem Produkt ihrer Hände lebten“ (zitiert in Spitzer 1957, 101).
Ein Grund dafür, dass sich das enge Konzept des Proletariats nicht durchsetzte, liegt darin, dass Marx und Engels erst Jahrzehnte später einflussreich waren und viel gelesen wurden. Marx' polemische Kritik an Proudhon, Das Elend der Philosophie, wurde 1847 in einer Auflage von nur 800 Exemplaren gedruckt und fand nur wenig Beachtung (McLellan 1973, 165-66). Auch das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 hatte bei seiner Erstveröffentlichung nur eine kleine Leserschaft und geriet weitgehend in Vergessenheit, bis es 1872 mit einem neuen Vorwort neu aufgelegt wurde. Die Originalausgabe von 1848 wurde anonym veröffentlicht, und nur Personen, die mit den inneren Abläufen des Kommunistischen Bundes vertraut waren, wussten, wer es geschrieben hatte (Carver 2015, 67-74; Steenson 1991a, 49, 112-13). Die enge Definition des Proletariats von Marx und Engels wurde nicht plötzlich nach der Veröffentlichung von Marx' Hauptwerk Das Kapital: Eine Kritik der politischen Ökonomie von 1867 bekannt. Das Kapital war nämlich kein Bestseller. Die erste deutsche Ausgabe hatte eine Auflage von 1.000 Exemplaren und war bis 1871 nicht ausverkauft. Die zweite Auflage von 1872 hatte eine Auflage von 3.000 Exemplaren und hielt sich bis 1883 (Steenson 1991a, 52).
Gelegentlich wird behauptet, Marx sei 1871 mit der Veröffentlichung seiner Analyse der Pariser Kommune, Der Bürgerkrieg in Frankreich, berühmt geworden, die sich innerhalb weniger Monate mindestens mehrere tausend Mal verkaufte (Heinrich 2019, 333; McLellan 1973, 400; MECW 22, 666). Es stimmt zwar, dass das Pamphlet eine viel größere Leserschaft hatte als Marx' frühere Veröffentlichungen, aber es erschien als offizielle Publikation der Internationalen Arbeiterassoziation und war von allen Mitgliedern des Generalrats unterzeichnet, nicht nur von Marx. Die Folge war, dass die Menschen Marx lasen, ohne zu wissen, dass sie ihn lasen (Steenson 1991a, 113; MECW 22, 309, 355).
Marx und Engels gewannen zunehmend an Einfluss, da wichtige Mitglieder der entstehenden sozialistischen Bewegungen und Parteien ihre Ideen über die Presse verbreiteten und neue Ausgaben ihrer alten Werke, einschließlich des Kommunistischen Manifests, druckten. Dies geschah zuerst in Deutschland und Österreich in den 1860er Jahren. Ab den 1880er Jahren waren sie in den europäischen sozialistischen Bewegungen weithin bekannt (Steenson 1991a, 49-52, 115-21, 161, 165-66, 169-70, 220, 224). Ein wichtiger Grund für diesen wachsenden Einfluss waren Engels' verschiedene Versuche, seine und Marx' Ideen zu popularisieren, wie mit Anti-Dühring, 1877-1878, und Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 1880. Es folgten weitere einflussreiche Zusammenfassungen, wie Kaul Kautskys Karl Marx' Ökonomische Lehren, 1887 (Steenson 1991b, 33-35, 66).
Dieser Einfluss gipfelte darin, dass eine Reihe sozialistischer Parteien im späten 19. Jahrhundert marxistische oder zumindest vom Marxismus beeinflusste Programme verabschiedeten. Im Jahr 1891 verabschiedete die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) das Erfurter Programm, das hauptsächlich von Kautsky, Eduard Bernstein und August Bebel verfasst wurde. Alle drei waren Weggefährten von Marx und Engels. Kautsky erhielt sogar von Engels selbst eine Rückmeldung zu dem Entwurf (ebd., 98-99). Das Programm begann mit der engen Definition des Proletariats von Marx und Engels:
„Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden.“ (SPD 1891, 297).
Vor der russischen Revolution war die SPD die größte sozialistische politische Partei der Welt. Im Jahr 1890 zählte sie rund 290 000 Mitglieder und hatte bei den Wahlen im selben Jahr 1,4 Millionen Stimmen und 35 Mandate errungen (Steenson 1991a, 72).
Das Wachstum der Sozialdemokratie verbreitete das Konzept des Proletariats von Marx und Engels, aber es führte nicht dazu, dass es von allen Sozialisten allgemein übernommen wurde. Bei mehreren Gelegenheiten verwendeten anarchistische Sozialisten weiterhin die weit gefasste Definition des Proletariats als Sammelbegriff für alle Arbeiter oder Lohnarbeiter. Dies ging einher mit dem Bewusstsein, dass die Arbeiterklasse kein Monolith ist und in verschiedene Unterkategorien unterteilt werden kann, wie z. B. handwerkliche Lohnarbeiter, besitzlose Lohnarbeiter, Bauern, Facharbeiter, ungelernte Arbeiter usw. Um einige Beispiele zu nennen: 1873 schrieb der russische Anarchist Michael Bakunin: „In Italien gibt es ein riesiges Proletariat, das mit einem außerordentlichen Maß an einheimischer Intelligenz ausgestattet, aber größtenteils ungebildet und völlig mittellos ist. Es besteht aus 2 oder 3 Millionen städtischen Fabrikarbeitern und Kleinhandwerkern und etwa 20 Millionen landlosen Bauern“ (Bakunin 1990, 7). 1926 behauptete die Gruppe der russischen Anarchisten im Ausland, die kapitalistische Gesellschaft sei in „zwei sehr unterschiedliche Lager gespalten . . das Proletariat (im weitesten Sinne des Wortes) und die Bourgeoisie“. Das so verstandene Proletariat umfasste „die städtische Arbeiterklasse“ und „die Bauernmassen“ (Dielo Truda 1926, 195, 199). Andere Anarchisten verwendeten die Begriffe „Proletariat“ oder „Arbeiterklasse“ in einem engeren Sinne. Rudolf Rocker behauptete 1938, dass während der industriellen Revolution „eine neue soziale Klasse geboren wurde, die in der Geschichte keine Vorläufer hatte: das moderne Industrieproletariat“. Diese Klasse besaß im Gegensatz zu den Handwerksgesellen und -meistern kein „Handwerkszeug“ und „verfügte über nichts anderes als über die Arbeitskraft ihrer Hände“ (Rocker 2004, 24-25). Rockers Darstellung entspricht der von Marx und Engels, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass er sich ausdrücklich sowohl auf „Das Kapital“ von Marx als auch auf „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von Engels bezieht (ebd., 21).
In diesem Aufsatz ging es darum, die Kategorien zu erklären, die Sozialisten historisch entwickelt haben, um die im Kapitalismus existierenden Wirtschaftsklassen zu verstehen. Im neunzehnten Jahrhundert gab es drei konkurrierende Auffassungen vom Proletariat. Der Begriff wurde verwendet, um entweder (a) alle Arbeiter, einschließlich der Selbstständigen, (b) alle Lohnarbeiter oder (c) alle Lohnarbeiter, die keine Produktionsmittel besitzen, zu bezeichnen. Die letzte und engste Auffassung wurde von Marx und Engels vertreten und war ursprünglich weder populär noch weit verbreitet. Heute ist sie die vorherrschende Auffassung des Proletariats im sozialistischen Diskurs geworden. Das so verstandene Proletariat wird nur immer größer. Laut Immanuel Ness „schrumpfte die Industrieproduktion im globalen Norden von 1980 bis 2007, während die Produktion im Süden zunahm und die globale Produktion insgesamt von 1,9 Milliarden auf 3,1 Milliarden Arbeiter anstieg - weit mehr arbeitende Menschen als je zuvor in der Geschichte des Kapitalismus“ (Ness 2016, 9, 14). Darüber hinaus haben Marx und Engels nie behauptet, dass das Proletariat nur aus Industriearbeitern besteht. Eigentumslose Lohnarbeiter, die bei Starbucks oder in der Videospielentwicklung beschäftigt sind, sind genauso Proletarier wie diejenigen, die in Bergwerken und Fabriken arbeiten. Was eine Person zum Proletarier macht, ist nicht die Art der Arbeit, die sie verrichtet, wie das Ausheben eines Grabens oder das Erstellen einer Powerpoint-Präsentation, sondern die sozialen Beziehungen, in denen sie arbeitet (Raekstad 2022, 216).
Um das Proletariat als real existierende Klasse zu verstehen, darf man sich nicht allein darauf verlassen, was tote Männer mit langen Bärten darüber geschrieben haben. Es ist notwendig, alte Theoretiker nicht nur zu lesen, sondern ihre Theorien auch an der Realität zu testen. Wenn ein Modell nicht der Realität entspricht oder sie nicht erklären kann, dann sollten wir neue und bessere Modelle schaffen. Die Realität ist immer komplizierter als die Modelle, die wir konstruieren, um sie zu verstehen. Der Fehler ist, die Realität zu ignorieren, weil sie nicht mit unserem Modell übereinstimmt. Obwohl sich Klassen auf gesellschaftlicher Ebene klar voneinander abgrenzen lassen, werden die Grenzen zwischen den Klassen unschärfer, je näher wir sie betrachten. Im 19. Jahrhundert konnte eine Person gleichzeitig Selbstständiger und Lohnarbeiter sein. Ein Landwirt konnte eine Saison lang ein bäuerlicher Eigentümer sein und eine andere Saison lang ein städtischer besitzloser Lohnarbeiter. Eine Person konnte ihre Jugend damit verbringen, in der Stadt für einen Lohn zu arbeiten und sich dann aufs Land zurückziehen, wenn sie durch den Tod des Vaters ein kleines Stück Land erbte. Mit anderen Worten: Menschen können gleichzeitig mehreren Klassen angehören und regelmäßig oder dauerhaft zwischen den Klassen wechseln. Trotzdem können natürlich Verallgemeinerungen gemacht werden, aber sie sollten mit Vorsicht und Bedacht erfolgen.
Die Leser könnten annehmen, dass es eine starre, klare Unterscheidung zwischen Arbeitssklaven, die Baumwolle pflücken, und rechtlich freien Lohnarbeiter:innen, die in einer Baumwollspinnerei arbeiten, gibt. Dabei würde man außer Acht lassen, dass es üblich war, dass Sklaven Lohnarbeit verrichteten (Linden 2008, 23). Der Arbeitshistoriker Marcel van der Linden liefert dafür ein äußerst interessantes Beispiel. Simon Gray war ein Sklave im Süden der Vereinigten Staaten. Er arbeitete von 1845 bis 1862 als leitender Bootsmann der Holzfällergesellschaft von Natchez. Seine Mannschaft bestand aus zehn bis zwanzig Männern. Sie bestand sowohl aus schwarzen Sklaven als auch aus weißen, rechtlich freien Lohnarbeitern. Einige der Sklaven gehörten dem Unternehmen. Andere Sklaven wurden über ihren Besitzer als Lohnarbeiter angeheuert. Dazu gehörte auch Gray selbst. Darüber hinaus beschäftigte er die weißen Arbeiter, lieh ihnen Geld, zahlte manchmal ihren Lohn und übernahm eine Vielzahl von Managementaufgaben. Linden beschreibt dies als „einen Sklaven, der als Manager fungierte, freie Lohnarbeiter, die von einem Sklaven beschäftigt wurden, und andere Sklaven, die einem Arbeitgeber gehorchen mussten, der selbst ein Sklave war!“ (Linden 2008, 26).
Darüber hinaus stützten sich die frühen Fabriken in England auf eine Form der Arbeit, die man als staatlich erzwungene Kinderknechtschaft bezeichnen könnte. Die Regierung machte arme und verwaiste Kinder unfreiwillig zu Lehrlingen der Fabrikbesitzer. Der Fabrikbesitzer hatte die volle rechtliche Autorität über das Kind, und es war illegal, wenn das Kind weglief. Diese Kinder waren kein Eigentum, aber sie waren streng genommen auch keine rechtlich freien Lohnarbeiter. Aufgrund der staatlichen Gewalt konnten sie sich nicht aussuchen, für wen sie arbeiteten oder ob sie überhaupt arbeiteten. Während der Arbeit wurden diese Kinder, zumindest an einigen Arbeitsplätzen, von Aufsehern geschlagen, um sie während langer Schichten wach und bei der Arbeit zu halten (Freeman 2018, 24-25). Marx war sich dessen bewusst und schrieb im Ersten Band des Kapital, dass der Aufstieg der „Fabrikproduktion“ auf „Kinderraub und Kindersklaverei“ beruhte (Marx 1990, 922).
Die Unterscheidung zwischen Lohnarbeitern, die Produktionsmittel besitzen, und eigentumslosen Lohnarbeitern war im 19. Jahrhundert wichtig, um den Niedergang des Handwebstuhls und den Aufstieg der Fabrik in England zu erklären. Aber die Realität war immer komplizierter, als diese Unterscheidung es erscheinen ließ. Auch Fabrikarbeiter konnten Eigentümer von Produktionsmitteln sein. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler August Sartorius von Waltershausen besuchte die Vereinigten Staaten in den 1880er Jahren. Er beobachtete Folgendes:
„Im Gegensatz zu ihren europäischen Kollegen besitzen die amerikanischen Fabrikarbeiter in der Regel ihr eigenes Werkzeug. Das auf der anderen Seite des Atlantiks angewandte System ist sicherlich vorzuziehen, denn es bedeutet, wie Studnitz feststellte, dass die amerikanischen Arbeiter ihre Werkzeuge nach ihren eigenen Bedürfnissen auswählen, während die europäischen Arbeiter gezwungen sind, sich an die Werkzeuge anzupassen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden. Werkzeuge machen oft einen beträchtlichen Teil des Vermögens eines Arbeiters aus“ (Waltershausen 1998, 216, zitiert nach Linden 2008, 25).
In der modernen Welt ist es in bestimmten Berufen immer noch üblich, dass Lohnarbeiter ihr eigenes Werkzeug besitzen, z. B. Mechaniker und Köche. Einige Unternehmen verfolgen eine Politik des „Bring your own device“, bei der die Mitarbeiter ihren eigenen Computer und ihr Smartphone für die Arbeit nutzen. Als Marx schrieb, wurden selbstständige Bauern und Handwerker in Proletarier verwandelt. Heute versuchen die Unternehmen, die Arbeitsgesetze zu umgehen, indem sie Proletarier in selbstständige, unabhängige Auftragnehmer verwandeln, die ihre eigenen Produktionsmittel besitzen, aber keine Arbeitsplatzsicherheit haben und keinen Anspruch auf Mindestlohn haben. Der Soziologe Bartosz Mika hat die moderne Gig-Economy als digitales Putting-out-System bezeichnet. Während der Industrialisierung versorgten Handelskapitalisten heimische Handwerker mit Rohstoffen. Jetzt bieten Plattform-Apps wie Uber, Deliveroo und Taskrabbit Dienstleistern Zugang zu Kunden. Beide Formen der Arbeit zeichnen sich durch dezentralisierte Arbeitskräfte aus, die pro erledigte Aufgabe bezahlt werden, ihre Arbeit isoliert von anderen Arbeitnehmern verrichten und von einem zentralen Knotenpunkt für Arbeit abhängig sind (Mika 2020).
Der Kapitalismus hat darüber hinaus zahlreiche weitere Plattformen geschaffen, die die Selbstständigkeit erleichtern, wie soziale Medien, ebay, etsy, patreon und onlyfans. Niedrige Löhne und steigende Lebenshaltungskosten führen jedoch dazu, dass zahlreiche Proletarier:innen diese Plattformen nicht als Haupteinkommensquelle nutzen, sondern als Ergänzung zu den unzureichenden Löhnen, die sie von den herrschenden Klassen erhalten. Darüber hinaus sind diese Selbstständigen eine Einnahmequelle für die Websites, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen, sei es direkt durch Gebühren und Werbung oder indirekt durch die Produktion von Inhalten, die das Fortbestehen der Website sichern. Auf den meisten Websites sind die Nutzer, ob content crreator oder Zuschauer:in selbst ein Produkt, dessen persönliche Daten an Werbende verkauft werden. In Asien werden einige content creator sogar in Influencer-Fabriken konzentriert, wo sie stundenlang in kleinen Kabinen livestreamen, um ihre Zuschauer zu Spenden und Einkäufen in Echtzeit zu bewegen.
Ein großer Teil des Einkommens der Influencer wird dann zwischen der Streaming-Plattform, die sie nutzen, und dem Unternehmen aufgeteilt, dem die Influencer-Fabrik gehört und das ihre Marke und ihr Verhalten mikromanaged.
Als Marx schrieb, war es im Allgemeinen richtig zu sagen, dass das Proletariat seine Arbeitskraft an die Kapitalistenklasse verkaufe, die die Produktionsmittel in Privatbesitz hatte. Heute arbeitet ein erheblicher Teil der eigentumslosen Lohnarbeiter für den Staat. Einige dieser Berufe lassen sich treffend als Personen beschreiben, die für einen Staatskapitalisten arbeiten, z. B. für ein gewinnorientiertes Energie- oder Transportunternehmen, an dem der Staat die Mehrheit der Anteile besitzt. Im Jahr 1878 argumentierte Engels richtig, dass das Staatseigentum den kapitalistischen Charakter der Produktivkräfte nicht aufhebt :
„Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben“ (MECW 25, 266).
Diese Analyse gilt nicht für Sektoren, die keinen Gewinn erwirtschaften und durch ein staatlich zugewiesenes Budget aufrechterhalten werden, insbesondere staatlich geführte Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssysteme.
Auch die Arbeitsteilung ist im Kapitalismus komplexer geworden. Im Kapital Band 1 wies Marx darauf hin, dass viele Kapitalisten „die Funktion unmittelbarer und fortwährender Beaufsichtigung der einzelnen Arbeiter und Arbeitergruppen selbst wieder ab an eine besondere Sorte von Lohnarbeitern geben. Wie eine Armee militärischer Offiziere bedarf, bedarf eine unter dem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (... Manager) und Unteroffiziere (Meister, Vorarbeiter ...), die während des Arbeitsprozesses im Namen des Kapitals kommandieren. Die Arbeit der Oberaufsicht befestigt sich zu ihrer ausschließlichen Funktion.“ (Marx 1990, 450). Die Zahl der Manager, Planer und Aufseher, die Lohnarbeiter sind und die Macht haben, den Arbeitsprozess zu lenken und zu kontrollieren, hat seit den 1860er Jahren erheblich zugenommen. Dies hat mehrere moderne Sozialisten wie Michael Albert und Robin Hahnel dazu veranlasst, diese Art von Lohnarbeitern einer eigenen Kategorie zuzurechnen, die als Koordinatorenklasse bezeichnet wird (Albert und Hahnel 1981, 84, 140-41). Sie sind keine Kapitalisten, üben aber Autorität über das Proletariat aus. Tom Wetzel nennt dies die bürokratische Kontrollklasse (Wetzel 2022, 11-12). In diesem Modell wird die Klasse nicht nur dadurch bestimmt, ob eine Person die Produktionsmittel besitzt oder nicht. Sie wird auch durch ihre Rolle im Arbeitsprozess und ihre Entscheidungsbefugnisse bestimmt.
Eine Analyse der Klasse im 21. Jahrhundert kann nicht einfach die Analyse aus dem 19. Jahrhundert wiederholen, als ob die Welt genau dieselbe wäre wie damals. Wir müssen unsere eigenen Ideen als Antwort auf die wirtschaftlichen Realitäten, mit denen wir konfrontiert sind, entwickeln. Zwar hat sich seit dem 19. Jahrhundert vieles geändert, nicht aber die grundlegende Struktur der kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus ist immer noch eine Klassengesellschaft, die auf der Spaltung zwischen Kapitalisten und Lohnarbeiter:innen, Herrschenden und Beherrschten, Ausbeutern und Ausgebeuteten beruht. Im späten 19. Jahrhundert vertraten anarchistisch-sozialistische Arbeiter:innen die Ansicht, dass das Proletariat sich selbst abschaffen soll, indem es die herrschenden Klassen stürzt, ihr Privateigentum enteignet und den Staat zerschlägt. Aus den Ruinen der alten Welt würde das Proletariat zusammen mit allen anderen Arbeiter:innen eine staatenlose, klassenlose und geldlose Gesellschaft errichten, in der die Produktionsmittel und der Grund und Boden in Gemeineigentum stehen und die Gesellschaft durch freiwillige Arbeits- und Gemeindeverbände selbst verwaltet wird. In einer solchen Gesellschaft wären die Menschen keine Kapitalisten oder Proletarier mehr. Sie wären menschliche Wesen, die in der Produktion und im Konsum tätig sind. Die Arbeiter:innen nannten diese Gesellschaft die freie Assoziation der freien Produzenten (Baker 2023, 28, 79-91). Die gleiche Sprache wurde von Marx und Engels verwendet. Sie schrieben 1844, dass „das Proletariat ... nur siegen kann, wenn es sich selbst abschafft“ (MECW 4, 36). Obwohl sie mit den Anarchist:innen in Bezug auf die revolutionäre Strategie nicht übereinstimmten, teilten sie die Vision einer zukünftigen Gesellschaft, in der, um Engels 1884 zu zitieren, die Produktion durch die „freie und gleiche Assoziation der Produzenten“ organisiert wird (MECW 26, 272). Mehr als ein Jahrhundert später gilt nach wie vor, dass die allgemeine menschliche Emanzipation die Selbstabschaffung des Proletariats erfordert.
Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich das Proletariat als Klasse zusammenschließen, seine eigenen Organisationen bilden und direkte Aktionen durchführen. Eine der wirksamsten Arten direkter Aktion, an denen sich die Arbeiter:innen beteiligen können, sind Streiks. Der Grund dafür ist, dass der Kapitalismus die Arbeitskraft der Arbeiter:innen benötigt. Wenn niemand arbeitet, kommt das Geschäft zum Stillstand und die Kapitalisten können keinen Gewinn erzielen. Dies übt äußeren Druck auf die Kapitalisten aus und gibt ihnen einen starken Anreiz, den Forderungen der Arbeiter:innen nachzugeben. Die wesentliche Rolle der Arbeiter:innen in der Produktion beinhaltet somit sowohl Unterdrückung als auch kollektive Macht, die Welt zu verändern. Das soll nicht heißen, dass Streiks am Arbeitsplatz die einzige Form direkter Aktionen sind, an denen sich die Arbeiter:innen beteiligen sollten, oder dass sie sich nur am Ort der Produktion organisieren ließen. Andere Formen der direkten Aktion und Organisation sind notwendig, wie Mietstreiks, ziviler Ungehorsam, Demonstrationen, Lesegruppen, Universitätsbesetzungen usw.
Sozialer Wandel und die Entwicklung einer wirksamen Massenbewegung erfordern sowohl die Organisierung am Arbeitsplatz als auch in der Gemeinschaft. Um ein Beispiel zu nennen: Die Emanzipation der Frauen kann durch die Bildung von Gruppen, die das Bewusstsein für Emanzipation stärken, durch Cis-Männer, die ihren Teil der Hausarbeit übernehmen, durch „reclaim the night marches“, durch Netzwerke, die Menschen helfen, illegale Abtreibungen zu bekommen, und durch die Organisierung am Arbeitsplatz gegen sexuelle Belästigung gefördert werden. Es geht nur darum, dass die Fähigkeit, über den kollektiven Arbeitsstreik einen Klassenkampf zu führen, eine wichtige Machtausübung ist, die das Proletariat aufgrund seiner Position innerhalb der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft hat. Diese Macht haben die Arbeiter:innen in der Vergangenheit genutzt, um bessere Löhne, sicherere Arbeitsbedingungen und kürzere Arbeitszeiten zu erreichen. Wir können dasselbe tun und uns an kollektiven direkten Aktionen beteiligen, um unser Leben kurzfristig zu verbessern und langfristig auf eine wirklich freie Gesellschaft hinzuarbeiten.
Kapitalismus und Staat sind natürlich nicht die einzigen unterdrückerischen Strukturen. Wir leben in einer Gesellschaft, die patriarchalisch, rassistisch, queerphob und ableistisch ist. Infolgedessen ist die Arbeiterklasse kein formloser Klacks. Sie ist entlang von Geschlecht, Rasse, Sexualität und Behinderung gespalten. Diese Spaltungen sind nicht nur das Produkt der herrschenden Klasse, die die Arbeiterklasse spaltet. Sie werden von der Arbeiterklasse selbst aktiv aufrechterhalten, indem verschiedene Menschen aus der Arbeiterklasse einander unterdrücken, z. B. Männer aus der Arbeiterklasse, die Frauen aus der Arbeiterklasse missbrauchen, oder weiße Arbeiter:innen, die schwarze Arbeiter:innen als minderwertig betrachten. Die Arbeiter:innen können sich nicht innerhalb einer Organisation zusammenschließen, geschweige denn als Klasse, wenn eine Gruppe von ihnen von einer anderen Gruppe unterdrückt wird. Ein solches Verhalten führt dazu, dass Arbeiter:innen in den Organisationen, die vorgeben, für ihre Emanzipation zu kämpfen, verletzt und ausgeschlossen werden. Wenn wir eine Gesellschaft schaffen wollen, in der alle frei sind, dann müssen wir Organisationen aufbauen, die gegen alle Formen der Unterdrückung gleichzeitig kämpfen. Wir dürfen keinerlei unterdrückerisches Verhalten dulden und müssen gleichzeitig anderen dabei helfen, ihre Sozialisierung in unterdrückerischen Strukturen zu verlernen, so dass sie zu Menschen werden, die in der Lage sind, in allen Aspekten ihres Lebens horizontal mit anderen zusammenzuarbeiten. Das Proletariat muss sich als Klasse vereinigen, aber es muss eine Einheit bilden, die durch alle Unterschiede innerhalb der Klasse bereichert wird. Wir müssen einen intersektionalen Klassenkampf führen.
Ein ernsthaftes Hindernis für die Bildung einer Massenbewegung der Arbeiterklasse besteht darin, dass eine große Zahl von Lohnarbeiter:innen sich nicht als derselben Klasse zugehörig betrachtet. Einige glauben zum Beispiel, dass der Kapitalismus eine Leistungsgesellschaft ist, und verehren die Vorstandsvorsitzenden als Held:innen und Innovatoren. Sie haben die Vorstellung verinnerlicht, dass auch sie ein erfolgreicher Unternehmer werden können, wenn sie den richtigen Drive haben. Sie sind keine Proletarier, sondern wartende Kapitalisten, die zufällig vorübergehend für jemand anderen arbeiten. Die Arbeiter:innen müssen diesen Denkmustern entgegenwirken, indem sie sich bewusst dafür entscheiden, das Klassenbewusstsein durch Worte und Taten zu verbreiten. Die Entstehung des ersten selbsternannten modernen Proletariats im Frankreich der 1830er Jahre war nicht allein auf unpersönliche wirtschaftliche Veränderungen der Gesellschaft zurückzuführen. Ein entscheidender Faktor war, dass die Arbeiter:innen selbst, die zuvor in einander feindlich gesinnte Berufe und Organisationen aufgeteilt waren, sich nun als eine eigene Klasse mit gemeinsamen Klasseninteressen sahen. Das Proletariat des 19. Jahrhunderts wurde sowohl durch die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft als auch durch die Arbeiter:innen selbst geschaffen. 1847 schrieb Marx, dass:
„Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.“ (MECW 6, 211).
Das Proletariat des 21. Jahrhunderts muss dasselbe tun. Wir müssen uns von einer Klasse zu einer Klasse für uns selbst entwickeln.
Eine vollständige Bibliografie findet sich hier.
Übersetzt von Anna