„Zwei freie Vögel“. Kreszentia und Erich Mühsam zum Gedächtnis


Jan Rolletschek
Geschichte Gedenken Mühsam

Anmerkung: Dieser Text ist in gekürzter Fassung unter dem Titel „Der geht neben einem, der bleibt da“ zuerst erschienen in: Der Rabe Ralf. Die Berliner Umweltzeitung, Jg. 35, Nr. 240, Juni/Juli 2024, S. 15.(1)

Zwei runde Jahrestage fallen dieses Jahr zusammen, die auch das Leben verwoben hat: Am 10. Juli vor 90 Jahren wurde der Publizist, Anarchist und Antifaschist Erich Mühsam (1878-1934) im KZ Oranienburg ermordet, was in diesem Jahr Anlass ist, Anfang Juli mit einer mehrtägigen Fachtagung an ihn zu erinnern.(2) Und am 28. Juli vor 140 Jahren wurde Kreszentia Mühsam (1884-1962), genannt Zenzl, seine Gefährtin und Mitstreiterin über den Tod hinaus, in dem kleinen niederbayerischen Ort Haslach geboren, wo seit Kurzem eine Gedenktafel an sie erinnert.

Zwar gebürtiger Berliner, war Erich Mühsam in Lübeck aufgewachsen. Wieder nach Berlin gelangte er 1900. Durch einen „enthusiastischen Hinweis“(3) in Hans Lands Zeitschrift „Das Neue Jahrhundert“ wurde er der lebensreformerischen Neuen Gemeinschaft zugeführt, die zu jener Zeit ein Schmelztiegel literarischer, neuromantischer und sozialer Bestrebungen war. In Berlin lernte er den acht Jahre älteren Gustav Landauer kennen, lernte das Zeitungmachen von Albert Weidner, legte sich das Pseudonym „Nolo“ zu und knüpfte Kontakte in die literarische Welt. Doch es hielt ihn nicht in Berlin.

Nach einigen Wanderjahren, die ihn bis nach Paris und Genua führten, ließ er sich 1908 in München nieder, wo er in den Kreisen der Boheme verkehrte und bei einem seiner Vorträge im großen Saal der Schwabinger Brauerei zum ersten Mal Kreszentia Elfinger begegnete.(4) Im Oktober 1913 kommt man sich näher und mit der Heirat am 15. September 1915 schifft Erich Mühsam sich in den „rettenden Hafen“(5) ein, den er in der Beziehung zu Zenzl allmählich erkannt hat.

Während des Krieges, erinnert sich der Schriftsteller Martin Andersen Nexö, hausen die beiden „als zwei freie Vögel“(6) hoch oben in einem Mietshaus, das von revolutionären Künstlern, Arbeitern und Soldaten frequentiert und beständig von Spitzeln umschlichen wird, versucht Erich doch mitten im Krieg, Front gegen diesen zu machen. Gemeinsam beteiligen sie sich an der Novemberrevolution und als die Räterepublik im Frühjahr 1919 von Regierungstruppen niedergeschlagen wird, kommen beide nur knapp mit dem Leben davon. Erich wird zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt. Zenzl geht nicht ins ihr von Nexö angebotene Exil, sondern bleibt in der Nähe ihres Mannes, protestiert gegen die schlechten Haftbedingungen und setzt sich unermüdlich für seine Freilassung und die der übrigen Gefangenen ein.

Gemeinsame Jahre in Berlin

Die gemeinsame Zeit in Berlin beginnt im Dezember 1924 nach Erichs Entlassung. Eine Amnestie vom 20. Dezember, die auf die Befreiung Hitlers zielte, hat auch ihn befreit. Zenzl empfängt Erich in Donauwörth und beide fahren sofort nach Berlin.(7) Ihre Ankunft am Anhalter Bahnhof am Abend des 21. Dezember wird von KPD und Roter Hilfe (RHD) für eine Willkommenskundgebung genutzt. Die „Rote Fahne“ hatte zur Teilnahme aufgerufen, nun strömen Arbeiter aus verschiedenen Richtungen herbei. Die Polizei riegelt den Anhalter Bahnhof ab. Doch zu spät. Viele Arbeiter befinden sich bereits im Gebäude. Als der Zug einfährt, gelingt es einer Gruppe junger Arbeiter, in die Ankunftshalle einzudringen. Man schultert Mühsam und trägt ihn, dem man eine rote Fahne in die Hand gedrückt hat, der jubelnden Menge entgegen. Inzwischen hat die Polizei damit begonnen, die Kundgebung auf dem Askanischen Platz mit äußerster Brutalität auseinanderzutreiben. Sogar ein Maschinengewehr wird demonstrativ in Stellung gebracht, um die aufgelaufene Menge zu zerstreuen.(8)

In den nächsten Wochen ist Erich Mühsam fortwährend von Funktionären der KPD und der RHD umgeben. Mit ihnen tritt er in kurzer Folge in zahlreichen Veranstaltungen auf. Zenzl erinnert sich, mit ihrem Mann hierfür „ungefähr ein halbes Jahr in alle deutschen Städte“(9) gereist zu sein. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist nun der Einsatz für die Mithäftlinge und politischen Gefangenen, deren noch über 7.000 inhaftiert geblieben sind.

Doch bereits während einer von der anarchistischen Freien Jugend einberufenen „Massenkundgebung zugunsten der politischen Gefangenen“ am 28. Dezember, der ersten größeren Veranstaltung, bei der auch Mühsam spricht, treten die Differenzen zwischen der KPD und den anarchistischen Organisationen deutlich hervor. Als der anarchistische Redner Ernst Friedrich auf die in der Sowjetunion verfolgten und inhaftierten Anarchist:innen und Sozialrevolutionär:innen zu sprechen kommt, schallen ihm aus dem Publikum Schlussrufe entgegen.(10) Um die Plattform der RHD für seine Unterstützungsarbeit nutzen zu können, geht Mühsam auf den „fragwürdigen Kompromiss“(11) ein, in öffentlichen Veranstaltungen der RHD das Schicksal seiner Gesinnungsgenoss:innen in der Sowjetunion nicht zu berühren. Als er diesen Kompromiss 1927 aufkündigt, wird von seiner „agitatorischen Mitwirkung keinerlei Gebrauch mehr gemacht“(12). Mühsam wirkt auch weiterhin für die Gefangenen, jedoch nunmehr – was in der Forschung „bislang kaum gewürdigt [wurde]“(13) – hauptsächlich im Rahmen der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). Doch erst im Januar 1929, als jeder Anschein der Überparteilichkeit verflogen ist, tritt er aus der RHD aus.(14)

Auch was die Bildung einer Einheitsfront gegen den erstarkenden Nationalsozialismus anbelangt, lässt Erich Mühsam keine Gelegenheit aus, sich zu Wort zu melden. Bereits im Januar 1929 warnt er zudem vor der Vorbereitung eines faschistischen Staatsstreichs(15); immer wieder weist er auf die sich häufenden Anzeichen hin, dass „die Staatsmaschinerie in Deutschland dem Faschismus überliefert werden soll“(16) und malt die Errichtung einer faschistischen Diktatur an die Wand – „wenn die Auflösung aller Arbeiterkoalitionen von irgendeinem Hitler, Frick oder anderem Biest verhängt wird, wenn die standrechtlichen Erschießungen, die Pogrome, Plünderungen, Massenverhaftungen das Recht in Deutschland darstellen“(17). Noch am 21. Juli 1932 ruft er in einem von Berliner Arbeitern verbreiteten Flugblatt zum Generalstreik auf. Die Gewerkschaften indes vertrösten das Proletariat auf die bevorstehende Reichstagswahl – bei der die NSDAP, zehn Tage später, stärkste Kraft werden wird. „Dadurch verlor die Republik ihre letzte Chance“, erinnert sich der Anarchist Augustin Souchy, „und dem Nationalsozialismus wurde der Weg frei gemacht.“(18)

Erichs Leidensweg

Die Situation für die Mühsams wird nun immer bedrohlicher. Goebbels selbst hetzt im Dezember 1932 gegen Erich als gegen einen der sogenannten „Geiselmörder“ von München. Eine Lüge, welche dieser mit der Bemerkung quittiert, dass dies „die Vorbereitung für [s]eine Ermordung“(19) sei. Daraufhin, draußen schneit es schon, schlagen die Nazis ihnen die Scheiben ein. Zenzl ist krank. Die finanzielle Lage der beiden ist äußerst prekär. Trotzdem bringen sie „zwei oder drei Flüchtlinge“(20) bei sich durch. Ihre eigene Flucht aber verzögert sich, obwohl sie fast täglich Todesdrohungen erhalten.(21)

Schließlich wird die Flucht nach Prag für den 26. Februar geplant, doch die Abreise wegen noch ausstehender Honorare um ein paar Tage verschoben.(22) Als in der Nacht zum 28. Februar der Reichstag brennt, wird Erich Mühsam aus dem Bett heraus verhaftet und sein „Leidensweg“ durch die Haftanstalten des NS-Staates beginnt.(23)

Im KZ lässt Goebbels sein Foto mit der Aufschrift „Der Geiselmörder Mühsam“ unter den Wachmannschaften von SA und SS verteilen(24), was die ohnehin eskalierende Brutalität gegen den Juden und politischen Gegner auf die Spitze treibt. Fast täglich wird er auf die furchtbarste Art gemartert. Man verprügelt und demütigt ihn, brennt ein Hakenkreuz in seinen Bart, lässt ihn sein eigenes Grab ausheben und simuliert seine Hinrichtung; man dreht ihm beide Daumen aus, lässt ihn Schmutzwasser auflecken und den Abort mit den bloßen Händen ausheben, quält ihn auf jede nur erdenkliche Weise. Erfindungsreich in Grausamkeiten versuchen die SS-Mannschaften einmal, einen großen Menschenaffen auf ihn zu hetzen. „In seiner Todesangst aber“, so berichtete Zenzl später über diesen Vorfall, „klammerte sich der Affe an Mühsam, suchte Schutz bei ihm und küßte ihn. Mein Mann sagte später wörtlich zu mir: ‚Ich wußte gar nicht, daß Affen so liebenswürdig sein können.‘ Weil der Affe den menschlichen Bestien nicht zu Willen war, wurde er vor den Augen Mühsams gequält und schließlich erschossen.“(25) Die Misshandlungen, denen Erich ausgesetzt ist, sind schwer zu fassen, noch schwerer, dass er dennoch standhaft bleibt. Als man ihn und drei Mithäftlinge an die Wand stellt, auf sie anlegt und sie auffordert, das Horst-Wessel-Lied zu singen, singen sie die „Internationale“.

Am 2. Februar 1934 wird Erich Mühsam ins KZ Oranienburg verlegt. Nach dem „Röhmputsch“ am 30. Juni werden auch hier die SA-Mannschaften durch solche der SS ersetzt. Erich weiß, dass es nun dem Ende zugeht. Als man ihn beinahe zu Tode gequält hat, legt man ihm nahe, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Andernfalls würde man nachhelfen. Er lehnt ab. In der Nacht auf den 10. Juli 1934 wird Erich Mühsam im KZ Oranienburg ermordet und sein Selbstmord stümperhaft fingiert.

Zenzls Leidensweg

Als Erich Mühsam am 16. Juli 1934 auf dem Waldfriedhof Dahlem bestattet wird, ist Zenzl nicht unter den wenigen Trauergästen. Eine amerikanische Journalistin hat sie gewarnt, die Gestapo wolle sie direkt nach der Beisetzung ebenfalls verhaften. Zur selben Stunde, da man ihren Mann in die Erde senkt, flieht sie nach Prag. Sie ist jetzt fast 50 Jahre alt. An Erichs Leichnam hatte sie sich geschworen, der Welt über die Nazigräuel die Augen zu öffnen. Zudem kämpft sie nun für die Rettung und Veröffentlichung seines Werks.(26) Beides gibt ihr jetzt die Kraft, weiterzuleben.(27)

Nachdem es ihr gelingt, Erichs Nachlass, getarnt als Diplomatengepäck, nach Prag bringen zu lassen, widmet sie sich seiner Herausgabe. In einem Brief teilt sie dem Freund und Lektor Alexander Berkman mit, man hätte ihr geraten, mit den „Unpolitischen Erinnerungen“ zu beginnen, die Erich nach seiner Entlassung aus der Festungshaft im „Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung“ veröffentlicht hatte. „Des Weiteren denke ich, dass es zeitgemäß wäre, die politischen Abhandlungen gegen den wachsenden Faschismus in den letzten Heften des ‚Fanal‘ auszugsweise als kleine Broschüre […] herauszugeben.“(28)

Anfang 1935 erscheint im Verlag der Roten Hilfe, der sich inzwischen seinerseits im Exil befindet, ihre aufsehenerregende Broschüre über den „Leidensweg Erich Mühsams“. Infolge dieser Veröffentlichung wird sie ausgebürgert. Dazu selbst hätte sie geschwiegen; weil der Innenminister Wilhelm Frick ihre Schilderungen jedoch als „Lügenmärchen“ bezeichnet, wiederholt sie ihre Anklage und fordert ihn öffentlich heraus, sie zu widerlegen, wobei man sein „Schweigen als lautes Schuldbekenntnis buchen“(29) werde.

Als Zenzl in Prag keine Aussichten mehr sieht, lässt sie sich durch Versprechungen u. a. von Wilhelm Pieck, die Werke ihres Mannes in der Sowjetunion zu veröffentlichen, nach Moskau locken.(30) Besonders Rudolf Rocker hatte sie eindringlich vor diesem Schritt gewarnt. In der SU ist man auch keinesfalls an der Veröffentlichung der Werke Erich Mühsams interessiert, sondern will diese, im Gegenteil, gerade verhindern. Insbesondere in den Tagebüchern vermutet man wahrscheinlich Kritik am Kadavergehorsam in der KPD und ihrer Rolle während der bayerischen Rätezeit. Nach einer sechs Wochen währenden Phase seiner KPD-Mitgliedschaft im Herbst 1919, in der Mühsam „den Parteigeist von innen heraus zu bekämpfen“(31) sich anschickte, um das revolutionäre Proletariat zu einen, hatte er „diese Methode [für] einwandfrei widerlegt“(32) erklärt. Nie wieder wollte er: „den Versuch machen, die splendid isolation durch Unterschlupf in einen Schafsstall zu überwinden.“(33) Auch ist man vermutlich daran interessiert, seiner Tagebücher und der verbliebenen Briefschaften habhaft zu werden, um sie in den bald beginnenden Schauprozessen gegen in Ungnade gefallene Parteigenossen zu verwerten.(34)

Zenzl wird in verschiedene Projekte involviert und mit Versprechungen hingehalten. Schließlich fasst sie den „folgenschweren Entschluss“(35), ihren Aufenthalt in Moskau zu verlängern und sich Erichs Nachlass zuschicken zu lassen. Nachdem dieser eingetroffen ist, wird sie in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1936 das erste Mal verhaftet. Wilhelm Pieck, der diesen Schritt ausdrücklich begrüßt, denunziert sie daraufhin als „ein[en] Mittelpunkt für die trotzkistischen Verbindungen“(36) in Prag. Nachdem sich internationaler Protest erhebt und sich verschiedene, auch bekannte Persönlichkeiten für sie verwenden(37), wird Zenzl am 9. Oktober zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt, bleibt jedoch unter strenger Beobachtung und ist deshalb nahezu völlig isoliert. Rudolf Rocker und der Bürgerrechtler Roger Baldwin setzen sich für sie ein; eine Ausreise zu ihrer Schwester in die USA ist geplant.(38) Was dazu führt, dass sie Mitte November 1938 erneut verhaftet wird.(39) Durch eine Aussage Herbert Wehners wiederum mit Trotzkist:innen in Verbindung gebracht, wird sie nun monatelang gefoltert und verhört, ohne sich jedoch ein Geständnis abpressen zu lassen. Am 11. September 1939 wird sie gleichwohl zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt und tritt eine Odyssee durch das sowjetische Lagersystem an. Von der Haft gezeichnet, krank, völlig mittellos und ohne Pass spuckt dieses sie am 16. November 1946 wieder aus. Sie irrt einige Monate herum, verbringt etliche Wochen bettelnd im Bahnhof von Nowosibirsk, gelangt im März 1947 nach Moskau und wird schließlich von der Roten Hilfe mit dem Nötigsten versorgt.

Ihre Bemühungen um eine Rückkehr in die Sowjetische Besatzungszone werden jedoch von der SED-Führung hintertrieben(40), die zugleich damit beginnt, das Gedächtnis ihres Mannes zu vereinnahmen. Als auch ihre Aufenthaltsgenehmigung für Moskau ausläuft, gelingt es ihr, in einem Kinderheim im nordöstlich von Moskau gelegenen Iwanowo unterzukommen. Im Februar 1949 wird sie zum dritten Mal verhaftet und überlebt unter fürchterlichen Bedingungen in der „speziellen Verbannung“(41) bei Nowosibirsk. Erst knapp eineinhalb Jahre nach Stalins Tod darf Zenzl im Juli 1954 nach Iwanowo zurückkehren. Im März 1955 erhält sie endlich einen deutschen Pass und kommt am 27. Juni 1955 in Ost-Berlin an. Über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion gebietet man ihr zu schweigen.

Die letzte Etappe

Umgehend bemüht Zenzl sich um Fotokopien von Erichs Nachlass, der im Maxim-Gorki-Institut aufbewahrt wird. Diese werden größerenteils auch tatsächlich übersandt, jedoch nicht an sie, sondern an das ZK der SED. Die frühe DDR kann Erich Mühsam nur als ‚Opfer des Faschismus‘ brauchen. Immerhin die „Unpolitischen Erinnerungen“ konnten bereits 1949 erscheinen. Der Kulturminister Johannes R. Becher legt Zenzl alle möglichen Steine in den Weg. Dennoch erreicht sie, dass zu Beginn des Jahres 1958 eine kleine Auswahl von Erichs Gedichten veröffentlicht wird. „Die Auflage war außerordentlich niedrig.“(42) Eine umfassende Würdigung seines Werks sollte Zenzl nicht mehr erleben. Aber die wirtschaftliche Not ist nun vorüber und sie ist nicht mehr derart isoliert: „Ganz besonders herzlich kümmern sich Helene Weigel und Bert Brecht um mich.“(43) Sie ist von alten Freunden umgeben und kann eine Wohnung in der Binzstr. 17 in Pankow beziehen(44), wo seit dem 20. März 2024 eine neue Gedenktafel an sie erinnert.

Eine ähnliche Tafel, die auf Betreiben des „AG Spurensuche“ bereits 2015 eingeweiht worden war, wurde immer wieder mit schwarzbrauner Farbe beschmiert und 2022 schließlich entwendet. „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, hat William Faulkner 1951 geschrieben. „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd“(45), fügte Christa Wolf später hinzu. Der Sieg über den Faschismus steht heute wieder in Frage.

Zenzl und Erich Mühsam sind ihren Weg gemeinsam gegangen: „Erich war imstande, mein Leben auszufüllen – weit über den Tod hinaus“, schrieb Zenzl 1937 in einem Brief. „Ich weiß, dass der Mensch nicht einfach stirbt, keiner. Jeder hinterlässt einen leichten Schatten. Aber Erich, der steht neben einem, der geht neben einem, der bleibt da.“(46) Gut so, wir werden ihn brauchen.

Anmerkungen:

(1)Für zahlreiche Hinweise danke ich Jolly sowie Rita Steininger, die mir auch Teile ihres jüngst erschienenen Buches vorab zur Lektüre überlassen hat. Vgl.: Dies., „Weil ich den Menschen spüre, den ich suche“. Zenzl und Erich Mühsam, Donat-Verlag, Bremen 2024.

(2)Die Tagung „Erich Mühsam in Oranienburg“ findet vom 4. bis 7. Juli 2024 in Oranienburg statt; sie wird von vielen weiteren Veranstaltungen und einer Ausstellung gerahmt. Vgl. online hier

(3)Erich Mühsam, Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen, Volk und Buch Verlag, Leipzig 1949, S. 34.

(4)Vgl. Steininger 2014, S. 42 f., 48 und Erich Mühsam, Tagebücher, Einträge vom 2. Dezember 1911 und vom 8. Oktober 1914. Online unter: www.muehsam-tagebuch.de.

(5)Ebd., Eintrag vom 3. Mai 1915.

(6)Martin Andersen Nexö, Kultur und Barbarei, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 193. Vgl. Uschi Otten, „Was wir besitzen, kann nie verlorengehen“. Die Lebensgeschichte Zenzl Mühsam[s], in: Andreas W. Hohmann (Hrsg.), Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen: Die Bakuninhütte und ihr soziokultureller Hintergrund (Tagungsband), Verlag Edition AV, Lich / Hessen 2015, S. 79-90, hier S. 80 f.

(7)Zenzl war bereits ein Jahr zuvor nach Berlin-Charlottenburg verzogen, wo die Rote Hilfe ihr eine Stelle angeboten hatte. Nachdem sie sich 1921 u. a. in der Hungerhilfe für Sowjetrussland engagiert hatte, hatte Jelena Stassowa sie 1921 zum 1. Kongress der Roten Hilfe nach Berlin eingeladen.

(8)Vgl. den Polizeibericht in: Chris Hirte, Erich Mühsam. „Ihr seht mich nicht feige“, Verlag Neues Leben, Berlin 1985, S. 350 f. und weitere Berichte aus „Die Rote Fahne“, Nr. 189 vom 23. Dezember 1924, 1. Beilage, zit. in: Gustav Landauer Initiative (Hrsg.), Erich Mühsam – Notizbücher, Bd. 1: 1926-1928, 2. korr. Aufl., Berlin 2023, S. 6.

(9)Kreszentia Mühsam, Der Leidensweg Erich Mühsams, Harald-Kater-Verlag, Berlin 1994 [1935], S. 21.

(10)Die Veranstaltung wurde auch von kommunistischer Seite angekündigt („Die Rote Fahne“, Nr. 192 vom 27. Dezember 1924), was die Anwesenheit der Schreier im Publikum hinreichend erklärt. Vgl. Gustav Landauer Initiative 2023, Bd. 1, S. 12.

(11)Ebd.

(12)Erich Mühsam, Absage an die Rote Hilfe, in: Fanal. Anarchistische Monatsschrift, Jg. 3, Nr. 5, Februar 1929, S. 119-120, hier S. 120. In anderen Zusammenhängen, in anarchistischen Veranstaltungen und im „Fanal“ hat Mühsam jedoch auch schon zuvor kein Blatt vor den Mund genommen, vgl. etwa ders., Amnestie – auch in Russland, in: Fanal. Anarchistische Monatsschrift, Jg. 1, Nr. 3, Dezember 1926, S. 43-45.

(13)Gustav Landauer Initiative 2023, Bd. 1, S. 15.

(14)Einladungen in die Sowjetunion, so erinnert sich Zenzl, habe er stets mit der Aussage abgelehnt: „Bitte laßt meine Kameraden aus dem Gefängnis, dann komme ich.“ Wohl Eingedenk seines Empfangs am Anhalter Bahnhof habe er dann hinzugefügt: „Und wenn ich einmal kommen sollte, dann bitte keinen Empfang, denn irgendwo bin ich Mensch und bestechlich. Wenn mich Tausende von Arbeitern begeistert am Moskauer Bahnhof empfangen, mich in reiner und echter Freude in die Luft schmeißen, dann bin ich bestochen. Vor begeisterten Proletariern kann ich nicht standhalten.“ Krenzentia Mühsam, Brief an Emma Goldman vom 11. Februar 1935, in: Zenzl Mühsam. Eine Auswahl aus ihren Briefen. Hrsgg. von Chris Hirte und Uschi Otten. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 9, Lübeck 1995, S. 66 f., hier S. 66.

(15)Erich Mühsam, Der Faschismus im Anmarsch, in: Fanal. Anarchistische Monatsschrift, Jg. 3, Nr. 4, Januar 1929, S. 88-90.

(16)Fanal, 2. Rundbrief, November 1931, zit. nach: Hug 1974, S. 103.

(17)Erich Mühsam, Aktive Abwehr. In: Die Weltbühne, Jg. 27, Nr. 50 vom 15. Dezember 1931, S. 880 f., hier S. 880; wieder in: Erich Mühsam, „War einmal ein Revoluzzer“. Verstreute Schriften 1917-1932, Hrsgg. von Peter Teichert, Edition Esprit Libertaire Nr. 8, Verlag Die freie Gesellschaft, Hannover/Marburg 1985, S. 86 f.

(18)Augustin Souchy, Erich Mühsam. Ritter der Freiheit (Typoskript 81 S.), hier S. 55, zit. nach: Hug 1974, S. 63. Die Flugblatt-Aktion scheint nur durch Souchy überliefert zu sein.

(19)Kreszentia Mühsam, Erich Mühsams Vermächtnis: Rettet die Opfer des Faschismus!, in: Aufruf, Jg. 4, Nr. 21 vom 1. August 1934, S. 544-546, hier S. 544, zit. nach: Hug 1974, S. 74.

(20)Rudolf Wittenberg, Erinnerung, in: Die neue Weltbühne, Jg. 3, Nr. 29 vom 19. Juli 1934, S. 909-911, hier S. 910, zit. nach: Hug 1974, S. 62.

(21)Rudolf Rocker, Der Leidensweg von Zensl Mühsam, Verlag: Die freie Gesellschaft, Frankfurt am Main 1949, S. 2; K. Mühsam 1994 [1935], S. 24.

(22)„Für eine Reise ins Ausland fehlte es an Geld. Mühsam gab sich alle Mühe, das Geld aufzutreiben. Aber erst am Montag, den 27. Februar 1933, konnten wir soviel zusammenbringen, daß wenigstens mein Mann sich eine Fahrkarte nach Prag beschaffte. Er wollte am 28. in der Frühe abfahren.“ (ebd.); K. Mühsam, Brief an Mollie Flechiné vom 14. September 1934, in: Dies. 1995, S. 58-60, hier S. 59.

(23)Vgl. ebd. und K. Mühsam 1994 [1935], S. 24. Die Stationen sind: am 28. Februar Polizeipräsidium Alexanderplatz und Gefängnis Lehrter Straße, am 31. März zurück ins Polizeipräsidium, am 6. April Verlegung ins KZ Sonnenburg, am 1. Juni zurück ins Polizeipräsidium, am 7. Juni Verlegung ins Gefängnis Plötzensee, am 8. September ins KZ Brandenburg und am 2. Februar 1934 ins KZ Oranienburg.

(24)K. Mühsam 1934, S. 544, zit. nach Hug 1974, S. 74; vgl. auch: K. Mühsam 1994 [1935], S. 46. Zenzl Mühsams „Leidensweg“-Broschüre ist auch die hauptsächliche Quelle der folgenden Schilderungen, ferner: K. Mühsam 1995 und Rocker 1949, S. 3-11.

(25)K. Mühsam 1994 [1935], S. 37 f.

(26)Dessen Entstehung hatte sie während der gesamten Dauer ihrer Beziehung bereitwillig unterstützt. In einem sicheren Sinn war es also auch das ihre. „[I]ch will nun einmal für irgend jemanden arbeiten, der dauernde Werte schafft. […] Nie wird mir die Arbeit zur Last, wenn ich weiß, wie glücklich ich mit meiner Kochkunst den Dichter […] mache, ich weiß, ich trage dann einen Teil seiner Stimmung, wenn ich es mit Freude und Stolz mache.“ K. Mühsam, Brief an Erich Mühsam vom 23. April 1920, in: Dies. 1994, S. 50 f., hier S. 50. In Zenzls Briefen finden sich zahlreiche ähnliche Äußerungen.

(27)Vgl. etwa die Briefe an Milly Witkop-Rocker, Rudolf Rocker und Emma Goldman vom Herbst 1935, in: K. Mühsam 1995, S. 62 ff.

(28)K. Mühsam, Brief an Alexander Berkman vom 25. September 1934, in: IISG Amsterdam, Alexander Berkman Papers 50, Bl. 145 f., hier Bl. 146. Der Rat zu den „Unpolitischen Erinnerungen“ kam wohl von Rudolf Rocker. Vgl.: Ders. 1949, S. 24. Wie auch an anderer Stelle (K. Mühsam 1995, S. 57) erwähnt sie Rocker in diesem Brief an Berkman als testamentarisch bestimmten Mitherausgeber des Nachlasses. Das „Fanal“ wurde von der Anarchistischen Bibliothek Wien digitalisiert: www.a-bibliothek.org/bestand/digitalisierte-zeitschriften.

(29)Kreszentia Mühsam, Offener Brief an Minister Frick [1935], in: Wolfgang Teichmann (Hrsg.), Färbt ein weißes Blütenblatt sich rot. Erich Mühsam. Zeugnisse und Selbstzeugnisse, Buchverlag Der Morgen, Berlin 1978, S. 250-253, hier S. 251.

(30)Zum Schicksal von Zenzl Mühsam in der Sowjetunion vgl. insbes. Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburger Edition, Hamburg 2001 und Rocker 1949, S. 14 ff.

(31)E. Mühsam, Tagebücher, Eintrag vom 14. Oktober 1919.

(32)Erich Mühsam, Erklärung, in: Der freie Arbeiter, Jg. 12, Nr. 22 vom November/Dezember 1919, S. 4. Vgl.: Ders., Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Philippe Kellermann, UNRAST Verlag, Münster 2015. 

(33)E. Mühsam, Tagebücher, Eintrag vom 26. November 1919.

(34)Vgl. Steininger 2024, S. 209 f.

(35)Ebd., S. 211.

(36)Zit. in: Müller 2001, S. 274.

(37)Sogar Thomas Mann versucht, ihre Freilassung zu bewirken. Vgl. Steininger 2024, S. 212 u. Otten 2015, S. 85.

(38)Rocker 1949, S. 22 ff.

(39)Müller 2001, S. 384.

(40)Ebd., S. 408 f.

(41)Ebd., S. 402.

(42)„Da aber jetzt der größte deutsche Dichter der Neuzeit vor kurzem seinen Sessel im Olymp […] eingenommen hat, munkelt man, daß eine zweite Auflage herauskommen soll.“ K. Mühsam, Brief an Fritz Picard vom 28. Januar 1959, in: Dies. 1995, S. 83 f., hier S. 84. Der mit Zenzl befreundete Buchhändler Picard hatte geklagt, dass die Bücher Mühsams nicht greifbar seien. Der „größte deutsche Dichter“ Johannes R. Becher war am 11. Oktober 1958 verstorben.

(43)K. Mühsam, Brief an Hans und Minna Mühsam sowie Charlotte und Leo Landau vom 16. Januar 1956, in: Dies. 1994, S. 81 f., hier S. 82.

(44)Jedoch ist sie nicht nur von Freunden umgeben. Unter Ausnutzung ihrer Hilfsbereitschaft (angebl. „Zimmersuche für gute Genossen“) installiert man Anfang 1960 eine Stasi-Filiale in ihrer Wohnung. Um sie einzuschüchtern und zu kontrollieren, nötigt das Ministerium für Staatssicherheit die schwerkranke 76jährige Frau zur „zur Verfügungstellung eines Zimmers […] zur Durchführung dienstlicher Aufgaben und zur Übernachtung eines Genossen“ (Verpflichtungserklärung zit. in: Müller 2001, S. 426). Auswirkungen dieser „neuerlichen stalinistischen Umstellung“ (Otten 2015, S. 89) sind seelische Depressionen und eine weitere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.

(45)Christa Wolf, Kindheitsmuster, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1978, S. 9.

(46)Kreszentia Mühsam an Charlotte Landau-Mühsam, Brief vom Oktober 1937, in: Erich Mühsam, Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch, hrsgg. von Markus Liske und Manja Präkels, Verbrecher Verlag, Berlin 2014, S. 322.

Jan Rolletschek

Jan Rolletschek ist Kulturwissenschaftler. Er lebt in Berlin und ist u.a. in der Gustav Landauer Initiative (gustav-landauer.org) organisiert.

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