Thesen zur Aktualisierung des klassenbewussten Anarchismus


Simon
Anarchismus Debattenbeitrag Theorie

Vorwort anarchismus.de

Der Text ist in Teilen nur mit einem fortgeschrittenen Verständnis über die anarchistische Theorie zu verstehen, bitte behaltet dies im Hinterkopf beim Lesen. Wir haben den Anspruch als anarchismus.de möglichst für alle verständliche Texte zu veröffentlichen und nur in Ausnahmesituationen Artikel zu publizieren, welche komplexe Sprache und starke Vorkenntnisse brauchen. Für diesen Text von Simon haben wir eine Ausnahme gemacht, da wir ihn für diskussionswürdig halten.

Thesen zur Aktualisierung des klassenbewussten Anarchismus

In meinem Artikel: «Vergesst mich nicht! - Bakunin und der Anarchismus» veröffentlicht auf diesem Blog stellte ich die These auf, dass der klassenbewusste Anarchismus sich über seinen Freiheits- und dem daraus resultierenden Gerechtigkeitsbegriff definieren ließe. Im Anschluss an diesen Gedankengang will ich in diesem Artikel Thesen für einen aktu-alisierten, klassenbewussten Anarchismus aufstellen. Die verschiedenen Disziplinen der Philosophie sollen Werkzeuge zum Verständnis und zur Veränderung der Gesellschaft und unserer Umwelt sein. In Anbetracht der realen Bedeutungslosigkeit der Linken und der anarchistischen Bewegung in Deutschland, sowie den wiederholten Fehlschlägen die soziale Revolution durchzuführen denke ich, dass diese Werkzeuge einer Überarbeitung bedürfen. In der Hoffnung zu einer theoretischen Erneu-erung beizutragen, möchte ich hier einige Thesen zur Diskussion stellen.

Ausgangslage

Bakunin wandte sich einst von der Philosophie ab, da sie seines Erachtens keinen Ausweg aus den Problemen seiner Zeit zeigte und nicht zur Errichtung des Sozialismus beitragen könne. Dennoch verfasste er an seinem Lebensabend den Hauptteil seines theoretisch-philosopischen Werks, der heute für die anarchistische Bewegung von Interesse zu sein scheint. Meiner Meinung nach stoß Bakunin auf ein Problem in der Philosophie, in der Tradition Platons, welches uns bis heute im bürgerlichen Denken -dem Liberalismus- und seinen Sprößlingen, den sozialistischen Denkschulen, verfolgt.

In Platons Staat argumentiert Sokrates für eine Polis regiert von Philosophenkönigen in der alle Bürger für alle Ewigkeit ihre Berufe ausüben und von Geburt an auf diese Tätigkeit ausgebildet werden, um den Versuchungen des «Privaten», also Habgier, Eifersucht usw. nicht zu erliegen. Bei dieser Diskussion über Gerechtigkeit und das gute Leben, kommt Sokrates zum Schluss, dass es gerecht sei, wenn jeder Mensch seinen angeborenen gesellschaftlichen Platz für immer beibehält. Der gesamte Dialog ist durchzogen vom Widerspruch zwischen der Aufgabe eine Polis «vernünftig» zu führen und den immer wieder dazwischenfunkenden «privaten» Versuchungen, die Machtkämpfe und den Untergang der idealen Polis herbeizuführen drohen.

Dies führt mich zu meiner ersten These:

These 1: Politik und Ökonomie sind weder kategorisch noch analytisch zu trennende gesell-schaftliche Sphären.

Der klassenbewusste Anarchismus war die erste sozialistische Denkschule, welche sowohl den Staat als auch das Kapital angriff. Bakunin zufolge müssen wir bei Analyse der Gesellschaft, in der Philosophie, materialistisch und von der Basis der Gesellschaft aus vorgehen, denn das Individuum als ihr Produkt sei außerhalb der Gesellschaft nicht denkbar. Sowohl im Anarchismus, als auch im (orthodoxen wie linkskommunistischen) Marxismus fielen die sozialistischen Denkschulen aber auf die Denkkategorien der Gesellschaft zurück, die sie kritisierten. Als Konsequenz schlage ich vor, von der Basis der ideellen und materiellen Reproduktion der Gesellschaften auszugehen, statt von deren liberalen Denkmodellen der Ökonomie und der Politik.

Ein vielversprechender Ansatz für die Erweiterung des klassischen Anarchismus ist Cornelius Castoriadis Ansatz, welchen er in Gesellschaft als imaginäre Institution entwirft. Die dort entwickelte sogenannte Magmalogik, aber vor allem seine Arbeit zur gesellschaftlichen Schöpfung bietet sich an, um in Anknüpfung an den klassenbewussten Anarchismus eine Gesellschaftsphilosophie zu entwickeln, welche eine holistische Kritik und Praxis ermöglicht. Aufgabe dieser Philosophie muss es sein, ihre Reproduktion, aber auch Herrschaft und Macht, in allen Facetten ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit zu analysieren und Auswege aus den Sackgassen des modernen Denkens zu weisen, anstatt sich auf die Extrempositionen des liberalen Denkens zurückzuziehen.

These 2: Eine Theoriebildung auf Basis der historischen anarchistischen Grundlagen ist notwendig.

Als ideologische Grundpfeiler eines klassenbewussten Anarchismus sollten diejenigen Prinzipen dienen, die in Bakunins Prinzipien und Organisation einer Internationalen Revolutionär-Sozialistischen Geheimgesellschaft umrissen werden, da diese Voraussetzungen liefern von denen aus wir weitere Überlegungen anstellen können. Wie ich bereits argumentierte, beziehe ich mich dabei auf die folgenden Umrisse eines anarchistischen Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriffes:

«3. Die Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handungen keine andere Bewilligung zu suchen, als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen zu ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst ihnen selbst gegenüber, dann gegenüber der Gesellschaft der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zustimmung dazu geben ihr anzugehören.

4. Es ist nicht wahr, dass die Freiheit eines Individuums durch die Freiheit aller anderen begrenzt wird. Der Mensch ist nur in dem Grade wirklich frei, in welche seine von dem freien Gewissen aller andern frei anerkannte und von ihm wie ein Spiegel zurückstrahlende Freiheit in der Freiheit der andern Bestätigung und Ausdehnung ins Unendliche hin findet. Der Mensch ist nur unter in gleicher Weise freien Menschen, wirklich frei und da er nur in seiner Eigenschaft als Mensch frei ist, ist die Knechtschaft eines einzigen Menschen auf der Erde, als Verletzung des Prinzips der Menschheit selbst, eine Negierung der Freiheit aller.

5. Die Freiheit eines Jeden kann also nur in der Gleichheit Aller verwirklicht werden. Die Verwirklichung der Freiheit in der rechtlichen und tatsächlichen Gleichheit ist die Gerechtigkeit. «

Nur auf Basis der kollektiven Freiheit kann gemäß dieser Umrisse die Freiheit Aller erlangt werden. Allerdings entstanden die Prinzipien in einer anderen Zeit und müssen basierend auf unseren heutigen Erfahrungen und Bedürfnissen erweitert werden.

These 3: Der Anarchismus ist kommunistisch.

In Bakunins Prinzipien und Organisation einer Internationalen Revolutionär-Sozialistischen Geheimgesellschaft wird die Gleichheit Aller als die Voraussetzung der Freiheit Aller konstatiert. Zunächst im Kollektivistischen Anarchismus und in dessen Weiterentwicklung, dem kommunistischen Anarchismus, wurde dieser Gedanke fortgeführt.

Aber auch unsere heutige Situation erfordert den Kommunismus, soll die soziale Revolution nicht auf Kosten von Milliarden Menschenleben gehen. Die schiere Anzahl der Menschen auf diesem Planeten, sowie der ökologischen Katastrophe vor der wir im Angesicht von Jahrhunderten naturverachtender kapitalistischer Produktion stehen erfordern dies. Die Gesellschaften müssen sich materiell reproduzieren können, um den Schaden den der Kapitalismus im Ökosystem Erde angerichtet hat zu beheben. Die Ressourcen, die heute im Kapitalismus für Profitmaximierung verschwendet werden, müssen in einer libertär-kommunistischen Gesellschaft gleich verteilt werden, um die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, die Arbeit die zur individuellen und kollektiven Reproduktion aufgewandt wird zu minimieren und eine neues Selbstverständnis und eine neue Haltung der nicht-menschlichen Natur gegenüber zu entwickeln. Die Menschen werden das Ökosystem der Erde stets weiter zerstören, solange sie sich den Sachzwängen des Reiches der Notwendigkeit ausgesetzt sehen.

These 4: Das Rätesystem ist die logische Selbstverwaltungsform einer anarchistischen Gesellschaft.

In der deutschsprachigen Linken existiert eine lebendige Plenumskultur und eine studentische linke Szene. In meiner Erfahrung in den aktivistischen Kontexten war diese Form des Aktivismus verbunden mit einem enormen Zeitaufwand der berufstätige Menschen ausschließt, blindem und orientierungslosem Aktionismus, informellen Hierarchien und einer Praxis die konsumierbare Events produzierte. Die Ideale der Dezentralisation der Macht, der Selbstermächtigung und des «JedeR kann alles» mündeten, in meiner Erfahrung, oft in der Orientierungslosigkeit ganzer Politgruppen bei Verlust eines zentralen Mitglieds, Unzuverlässigkeit und Handlungsunfähigkeit in kritischen Momenten, sprich in dem genauen Gegenteil von dem, was sie hervorbringen sollten.

Das Rätemodell erscheint hingegen als genuin proletarische Schöpfung in jeder sozialen Revolution, angefangen bei der Pariser Kommune, über die russische Revolution zur Spanischen, dann wieder in den 68er Revolten, sowie den gegen das Joch der Sowjetunion revoltierenden Ostblockstaaten und der Revolution im Iran.

Dies geschieht nicht ohne Grund. Gekoppelt an das imperative Mandat, ermöglichen die Räte den Menschen eine Partizipation im gesellschaftlichen Entscheidungsprozess in selbstbestimmtem Maß und verteilen die Macht möglichst gleich unter allen Menschen. Das Prinzip der Delegation ermöglicht Transparenz über die gesellschaftliche Entscheidungsfindung von unten und ermöglichen eine Anpassung des föderierten Rätesystems an die gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse. Im Gegensatz zu der oben kritisierten «Plenar» -demokratischen Organisationsform ermöglichen die selbst gegeben Strukturen nachvollziehbare gesellschaftliche Entscheidungsfindungs- und Koordinationsprozesse; eine Voraussetzung der Umwandlung der kapitalistischen (Re-)Produktion hin zu einer kommunistischen. Im Falle von zeitkritischen Entscheidungen können Delegierte mit Vertrauensvorschuss eigenmächtig handeln, sind aber der Vollversammlung rechenschaftspflichtig. Somit ist durch die Struktur eine Konzentration der Macht in einem Kollektiv sichtbar, konfrontierbar und reversibel. Die Räte sind somit ein Werkzeug zur Selbstermächtigung und der Autonomie.

These 5: Der historische Abschied von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt ist nicht haltbar.

Das Jahr 2020 sah den größten Streik in der Menschheitsgeschichte. Während der Coronapandemie vertiefte sich die Spaltung zwischen Arm und Reich in noch größerem Ausmaß als zuvor. In Frankreich wird der politische (General-)Streik im Kampf um das Renteneintrittsalter angewandt und in Großbritannien wird vom Generalstreik gesprochen. Die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse sind also immer noch aktuell. Die ArbeiterInnenklasse muss nicht nur als das revolutionäre Subjekt der sozialen Revolution aufgefasst werden, weil es in ihrer Macht steht die kapitalistische (Re-)Produktion zum Stillstand zu bringen und diese zu übernehmen, sondern weil wir alle direkt oder indirekt lohnabhängig sind.

Das Internet transformiert unsere Arbeitswelt und die Aufteilung der produktiven und reproduktiven Tätigkeiten. Mit dem Home Office erlebt die Heimarbeit eine Wiedergeburt, der Online-Handel dehnt sich aus und prekarisiert zunehmend Menschen durch seine Verdrängung des Einzelhandels - und die Lieferdienste überführen reproduktive Tätigkeiten zunehmend in Dienstleistungen, also in Warenform. Die angepriesene Digital-isierung erschafft keine Gesellschaft in der die Produktion vollständig automatisiert ist und die Menschen nicht mehr arbeiten müssen, sondern eine dystopische Realität der gläsernern ArbeiterInnen, deren jeder Schritt überwacht und sanktioniert wird. Union-Busting gehört in der Welt der Tech-Giganten und Start-Up-Kapitalisten zur "Best-Practice".

Und solange der Kapitalismus besteht wird das immer so sein, denn nur unsere Arbeitskraft erschafft Wert und unser Lohn realisiert ihn auf dem Markt. Der anarchistische Kampf für die Befreiung aller beinhaltet immer die Befreiung von der Lohnarbeit. Als solches muss der Revolutionäre Syndikalismus immer ein Teil der revolutionären Strategie und Taktik der anarchistischen Bewegung bilden.

These 6: Der Anarchismus muss für unsere Zeit und Bedürfnisse aktualisiert werden

Als der klassenbewusste Anarchismus entwickelt wurde kannte die Welt keine Weltkriege, keine Atomwaffen, keinen Urban Sprawl, keine Überwachungssysteme die jeden Schritt global nachvollziehen können und jeden Gesprächsfetzen aufzeichnen können, keine Datenbanken, die alle Informationen über uns enthalten. Unsere VorgängerInnen konnten sich über das Ausmaß der ökologischen und sozialen Verheerung keine Vorstellung machen und auch nicht über die Art und Weise in der Kapitalismus die Technologie und Wissenschaften vereinnahmen würde. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Kropotkins anarchistischen Kommunismus, die semiautarke Dorfgemeinschaft, existieren nicht mehr. Was bleibt ist die ArbeiterInnenklasse.

Sie kannten auch nicht die vampirhafte Fähigkeit des Kapitalismus sich durch jeden Widerstand selbst zu erneuern und auch die fatalsten Krisen zu überstehen. Durch einen Prozess der Institutionalisierung und Inkorporation erneuert sich der Kapitalismus durch die Widerstände denen er begegnet. So geschehen mit der SPD und ihrem gewerkschaftlichen Arm dem (A)DGB, der Anti-AKW-Bewegung mit ihrem parlamentarischen Arm, den Grünen. Beide stehen heute auf Seiten des Kapitals. Viele Linke arbeiten in NGOs oder in sozialen Berufen und werden so zu Flickschustern des Kapitals. Ein klassenbewusster Anarchismus muss Antworten auf die heutigen Fragen liefern können. Wir müssen verstehen, wie Bewegungen und ihre Errungenschaften vereinnahmt werden können, um so die soziale Revolution stetig vorantreiben zu können, ohne die Bedürfnisse des Kapitals zu erfüllen. Wir müssen aber auch die Grundrisse einer anarchistischen Gesellschaft legen. Dies muss meines Erachtens im Rahmen der hier geäußerten Thesen stattfinden.

These 7: Die soziale Revolution muss eine totale Revolution sein

Das Konzept der sozialen Revolution umschreibt die vollständige Neuschöpfung der Gesellschaft und ihrer materiellen und ideellen Institutionen. Die soziale Revolution muss folglich eine Gesellschaftsform vollkommen neuen Typs hervorbringen. Eine anarchistische Gesellschaft, die vollkommen autonom ist, also ihre Institutionen beständig ihren Bedürfnissen und Wünschen anpasst. Daher muss sich die soziale Revolution durch jede Ebene und jede Institution der Geselschaft ziehen. Wir werden unsere materielle Produktion und Reproduktion, Technologie und Wissenschaften auf Grundlage einer neuen Erkenntnistheorie überarbeiten und unsere Gesellschaften in Einklang mit dem Ökosystem bringen müssen.

Abschließendes...

Dies ist lediglich ein Thesenpapier. Diese Thesen beruhen auf meiner Lektüre des klassischen klassenbewussten Anarchismus mit Schwerpunkt auf Bakunins und Malatestas Werken, Bookchins sozialer Ökologie, eine anarchistische Aneignung der Marx'schen Theorie, des Rätekommunismus und des Operaismus sowie einer Aneignung der Theorie von Cornelius Castoriadis. Diese Kombination scheint mir adäquat für eine Aktualisierung der anarcho-syndikalistischen und -kommunistischen Theorie.

Simon

Simon begann sich 2018 in Solidarität zum kurdischen Befreiungskampf zu politisieren und sich intensiv mit dem libertären Kommunalismus und klassischen Anarchismus auseinanderzusetzen. Seit 2021 ist bei der FAU organisiert und in der neugegründeten Aschaffenburger Sektion der FAU Frankfurt aktiv.

Er lebt in Aschaffenburg und interessiert sich für anarchosyndikalistische Theorie & Praxis. Theoretische Schwerpunkte bilden der klassische Anarchismus im Anschluss an Bakunin und das Denken von Cornelius Castoriadis.

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