Was denken Anarchist:innen über Tierbefreiung?


Zoe Baker
Theorie Tierbefreiung

Vorab:
Immer wieder möchten wir auch geschichtliche Positionen von Anarchist:innen sichtbar machen und veröffentlichen zu diesem Zwecke eine Verschriftlichung und Übersetzung von Zoe Bakers Video “What Do Anarchists Think About Animal Liberation?”.

Ende des 19. Jahrhunderts widmet sich Elisée Reclus bereits der Tierbefreiung und Tierrechten - nachdem wir diesen Einblick in die Vergangenheit veröffentlicht haben, würden wir uns über Einsendung freuen, die hier angerissenen Konzepte weiterführen und eine klassenkämpferische Perspektive auf Tierrechte ergänzen.

Zoe Baker: Was denken Anarchist:innen über Tierbefreiung? Elisée Reclus.

Der Anarchismus strebt eine Gesellschaft an, die frei von Unterdrückung und Herrschaft ist. Diese Werte haben wiederum viele Anarchist:innen dazu veranlasst, Vegetarier:innen und Veganer:innen zu werden oder zumindest für Tierschutz einzutreten. Der russische Anarchist Peter Kropotkin zum Beispiel schreibt, dass "der zivilisierte Mensch ... seine Prinzipien der Solidarität auf die gesamte menschliche Rasse und sogar auf die Tiere ausdehnen wird." (Kropotkin, 1993, 136) Am konsequentesten und umfassendsten wurde diese Ansicht von dem französischen Anarchisten und Geografen Elisée Reclus artikuliert, der bereits 1896 und 1901 gegen die Unterdrückung von Tieren durch den Menschen anschrieb.

Reclus geht davon aus, dass Fleischkonsum gleichzeitig auf Prozessen der Gewalt gegen und auf der Erniedrigung von nicht-menschlichen Tieren beruht. Er schreibt:

Die heutige Domestizierung von Tieren stellt in vielerlei Hinsicht einen moralischen Rückschritt dar, denn wir haben die Tiere nicht verbessert, sondern deformiert und korrumpiert. Obwohl wir durch selektive Züchtung Eigenschaften wie Kraft, Geschicklichkeit, Geruchssinn und Schnelligkeit verbessert haben, bestand unser Hauptanliegen als Fleischesser darin, die vierbeinige Fleisch- und Fettmasse zu vergrößern, um wandelnde Fleischspeicher zu schaffen, die vom Misthaufen zum Schlachthof humpeln. Kann man wirklich sagen, dass das Schwein dem Wildschwein oder das schüchterne Schaf dem mutigen Mufflon überlegen ist? Die große Kunst der Züchter besteht darin, ihre Tiere zu kastrieren und sterile Hybriden zu schaffen. Sie bezwingen Pferde mit Zaumzeug, Peitsche und Sporen und beschweren sich dann, dass die Tiere keine Initiative zeigen. Selbst wenn sie Tiere unter den bestmöglichen Bedingungen domestizieren, verringern sie deren Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und deren Fähigkeit, sich an neue Umgebungen anzupassen, und machen sie zu künstlichen Wesen, die nicht in der Lage sind, spontan in der freien Natur zu leben.

Eine solche Degradierung von Arten ist an sich schon ein großes Übel, aber die zivilisierte Wissenschaft geht noch weiter und versucht, sie auszurotten. Wir haben gesehen, wie viele Vögel von europäischen Jägern in Neuseeland, Australien, Madagaskar und den polaren Archipelen ausgerottet wurden, und wie viele Walrosse und Wale bereits verschwunden sind!

Der Wal ist aus den Gewässern der gemäßigten Klimazone geflohen und wird bald nicht einmal mehr auf den Eisschilden des Arktischen Ozeans zu finden sein. Alle großen Landtiere sind in ähnlicher Weise bedroht. Wir kennen bereits das Schicksal des Auerochsen und des Bisons, und wir können das des Nashorns, des Flusspferds und des Elefanten voraussehen. (Reclus 2013, 134-5)

Diese Misshandlung anderer Tiere ist symptomatisch dafür, wie der Mensch die natürliche Umwelt zerstört, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Reclus schreibt:

Ist das nicht auch die Art und Weise, wie wir uns gegenüber der gesamten Natur verhalten? Lässt man eine Meute von Ingenieuren in einem lieblichen Tal, inmitten von Wiesen und Bäumen oder an den Ufern eines schönen Flusses frei, so wird man bald sehen, was sie damit anzustellen imstande sind. Sie werden alles tun, um ihr eigenes Werk sichtbar zu machen und die Natur unter Schotter- und Kohlehaufen zu verstecken. Sie werden ganz stolz darauf sein, den Himmel mit Schlieren von schmutzig gelblichem oder schwarzem Rauch ihrer Lokomotiven durchzogen zu sehen. (ebd., 158)

Der gewalttätige und lieblose Umgang mit nicht-menschlichen Tieren bildet wiederum die Grundlage für Gewalt gegen Mitmenschen. Reclus fragt, wie die Europäer, die bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China Gräueltaten begangen haben, zu "wilden Bestien mit menschlichen Gesichtern geworden sind, die sich daran erfreuen, Chinesen an ihren Kleidern und Zöpfen zusammenzubinden und sie dann in einen Fluss zu werfen? Wie ist es ihnen möglich, Verwundete zu ermorden und Gefangene zu zwingen, ihre eigenen Gräber zu schaufeln, bevor sie zu erschießen?" (ebd., 158-9). Reclus erklärt:

Aber besteht nicht ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen dem Essen dass diese Henker konsumieren, die sich "Zivilisatoren" nennen, und ihren brutalen Taten? Sie preisen oft blutiges Fleisch als Quelle von Gesundheit, Kraft und Intelligenz. Und ohne Ekel gehen sie in Metzgereien mit glitschigem, rötlichem Pflaster und atmen den übelriechenden Geruch von Blut ein! Wie groß ist der Unterschied zwischen dem toten Kadaver einer Kuh und dem eines Menschen? Ihre abgetrennten Gliedmaßen und Eingeweide, die miteinander vermischt sind, sehen ziemlich ähnlich aus. Die Schlachtung der einen erleichtert die Ermordung der anderen, vor allem, wenn ein Befehl von einem Vorgesetzten ertönt oder wenn man aus der Ferne die Worte seines königlichen Herrn hört: "Zeigt keine Gnade!" (ebd., 159)

Für Reclus besteht ein Zusammenhang zwischen den Schrecken des Krieges (und) Massakern von Vieh und fleischfressenden Festmählern. Die Ernährung der Menschen ist eng mit ihrer Moral verbunden. Blut ruft nach Blut. (ebd., 159)

Die Ermordung von nicht-weißen Menschen durch die Europäer beruhte laut Reclus auf der gleichen Art von Denken, das der Kultur des Fleischessens zugrunde liegt, wie etwa die Vorstellung, dass es falsch ist, Katzen zu töten, aber in Ordnung, Schweine zu töten. Die Moral der weißen Vorherrschaft,

besagt, dass es zwei Gesetze für die Menschheit gibt, ein Gesetz für Menschen mit gelber Hautfarbe und ein anderes Gesetz, das Weißen vorbehalten ist. Offenbar wird es in der Zukunft erlaubt sein, Erstere zu töten oder zu foltern, während es für Letztere immer noch falsch ist, dies zu tun. Aber ist die Moral nicht ebenso flexibel, wenn es um Tiere geht? Indem er die Hunde antreibt, einen Fuchs zu zerfleischen, lernt der Herr, seine Schützen auf die fliehenden Chinesen anzusetzen. Die beiden Arten der Jagd sind Teil ein und desselben "Sports". (ebd., 159)

Um Formen des Sektierertums wie Nationalismus oder Rassismus zu überwinden, müssen die Menschen lernen, sich gegenseitig als Teil einer internationalen Menschheitsfamilie zu sehen. Wie Reclus schreibt, "muss jedes Individuum in der Lage sein, jeden seiner Mitmenschen in völliger Brüderlichkeit anzusprechen". (ebd., 231) Ebenso sollten die Menschen lernen, nichtmenschliche Tiere als Teil einer Großfamilie zu betrachten, die aus allen Lebewesen besteht. Wir sollten begreifen, dass das, was wir als "Fleisch auf Füßen" zu betrachten gelernt haben, in Wirklichkeit "liebt wie wir" und "fühlt wie wir". Für Vegetarier:innen gehe es darum,

die Bande der Zuneigung und Freundlichkeit zu erkennen, die den Menschen mit den Tieren verbindet. Das Pferd und die Kuh, das Wildkaninchen und die Katze, das Reh und der Hase - sie sind für uns als Freunde wertvoller als als Fleisch. Wir möchen sie entweder als geachtete Arbeitskollegen oder einfach als Gefährten zu haben, um Freude am Leben und Lieben (mit uns zu teilen). (Ebd., 160)

Oder wie Reclus an anderer Stelle sagt, streben Vegetarier:innen danach, andere Tiere "weder zu unseren Dienern noch zu unseren Maschinen zu machen, sondern vielmehr zu unseren wahren Gefährten”. (ebd., 136) Andere Tiere als Freunde und nicht als Nahrungsmittel zu betrachten, ist so lediglich eine Erweiterung dessen, was Menschen bereits mit ihren Lieblingstieren tun. Reclus schreibt:

So wie es heute viele Fleischfresser gibt, die sich weigern, das Fleisch des edlen Gefährten des Menschen, des Pferdes, oder das der verwöhnten Gäste in unseren Häusern, des Hundes und der Katze, zu essen, so ist es uns auch zuwider, das Blut des Ochsen zu trinken, eines Tieres, dessen Arbeit uns mit Brot versorgt. Wir wollen nicht mehr das Blöken der Schafe, das Brüllen der Kühe oder das Grunzen und die durchdringenden Schreie der Schweine hören, wenn sie zum Schlachthof geführt werden. (ebd., 161)

Der Prozess, andere Tiere als Freunde zu behandeln, beruht darauf, dass wir die natürliche Umgebung, die wir mit allen anderen Lebensformen teilen, entwickeln, anstatt sie zu zerstören. Reclus schreibt, dass wir "den Teil der Erde, der uns zukommt, so entwickeln müssen, dass er so angenehm wie möglich ist, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Tiere in unserem Haushalt." (ebd., 160) An anderer Stelle schreibt Reclus:

Die Kontinente, die Meere und die Atmosphäre, die uns umgibt, zu entwickeln; "unseren Garten" auf der Erde zu kultivieren; die Umwelt neu zu ordnen und zu regulieren, jedes einzelne pflanzliche, tierische und menschliche Leben zu fördern; sich unserer menschlichen Solidarität voll bewusst zu werden, indem wir einen Körper mit dem Planeten selbst bilden; und einen umfassenden Blick auf unsere Ursprünge, unsere Gegenwart, unser unmittelbares Ziel und unser fernes Ideal zu werfen - das ist Fortschritt. (ebd., 233)

Bibliographie:

Video:

zum Weiterlesen:

Zoe Baker

Ich bin eine Transfrau (sie/ihr), die über die Theorie und Geschichte des Anarchismus, Feminismus und Marxismus spricht. Autorin von "Means and Ends: The Revolutionary Practice of Anarchism in Europe and the United States". Ich habe zur Geschichte des Anarchismus promoviert.

Empfohlene Lektürelisten und Skripte meiner Videos finden sich in meinem Blog.

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