Die Arbeit an diesem Artikel beginnt zum Zeitpunkt der zweiten Welle der Corona-Pandemie. Seit gestern gilt in Deutschland ein erneuter »harter« Lockdown. Die Situation ist ernst und gefährlich.
Im Dezember 2020 lag in Sachsen die Sieben-Tage-Inzidenz bezogen auf 100.000 Einwohner:innen bei 407,1, und der Ärztliche Direktor des Oberlausitzer Bergland-Klinikums, Mathias Mengel, sprach in einem Online-Forum von Triage, also einer Abwägung, wer aufgrund knapper Ressourcen behandelt werden kann und wer nicht(1). Seine Aussage alarmierte die Öffentlichkeit – war doch Triage bisher in Deutschland kein alltagsrelevantes, geschweige denn gesetzlich geregeltes Thema gewesen.
Die Infektions- und Todeszahlen steigen kontinuierlich an(2), insbesondere in der Gruppe älterer und geschwächter Menschen(3), die auf die Pflege in Heimen angewiesen sind. Die Arbeit in der Altenpflege muss ununterbrochen weitergehen, aber da alleine in diesem Bereich die Zahl der Beschäftigten im Zeitraum von Anfang April bis Ende Juli 2020 um 3885 zurückgegangen ist(4), wird es immer schwieriger, dieser existentiell notwendigen Aufgabe nachzukommen. Grund für den Personalrückgang ist die schlechte Entlohnung(5), aber auch und vor allem die schlechten Arbeitsbedingungen.
Hinzu kommt die hohe Zahl infizierter Pflegekräfte: Am 17.12.2020 informierte die Oberhessische Presse, dass sich in einem hessischen Altenheim 80 Prozent der Pflege-, Raumpflege- und Küchenkräfte mit Corona infiziert in Quarantäne befanden, so dass die Bewohner:innen teilweise auf sich alleine gestellt im Kot in ihren Betten lagen und nicht versorgt werden konnten. Das Gesundheitsamt versuchte verzweifelt, Menschen zu organisieren, die eine Pflegetätigkeit durchführen können.(6) Schlimmeres kann man sich kaum vorstellen, aber diese Not war vorhersehbar. Ich frage mich: Was muss noch geschehen, damit sich etwas verändert?
Täglich bin ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit unmittelbar mit der Pflegekrise konfrontiert. Von 2012 – 2015 habe ich die Ausbildung zur examinierten Altenpflegefachkraft absolviert und nach meinem Examen Ende 2015 noch ein weiteres Jahr in einem kommunalen Altenheim gearbeitet.
Seit nun 5 Jahren bin ich bei einem ambulanten Pflegedienst angestellt, wo ich sehr zufrieden bin, da hier nicht nur bessere Arbeitszeiten und - bedingungen, sondern auch Wertschätzung und Entfaltungsmöglichkeiten bestehen. Später werde ich die positiven Strukturen und Potenziale meines eigenen Arbeitsplatzes und anderer Organisationen schildern.
Zunächst möchte ich meine Kritik am Pflegesystem und persönliche Überzeugungen äußern. Dadurch sollen die Hintergründe verständlich werden, die meines Erachtens zur Pflegekrise geführt haben und meine Forderung sofortiger politischer Maßnahmen begründen, die an der Wurzel der komplexen Problematik ansetzen. Das Pflegesystem entwickelt sich immer weiter in eine Richtung, die es grundlegend zu ändern und umzukehren gilt.
In einer solch dramatischen Situation wie der Corona-Pandemie wird überdeutlich, dass wir ein Pflegesystem benötigen, das auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz basiert, dem Wohl der Menschen oberste Priorität einräumt, mit Sicherheit eine zuverlässige, ununterbrochene Pflege gewährleistet und nicht zuletzt ausreichend große Zeitfenster ermöglicht, in denen alle notwendigen Hygienemaßnahmen durchgeführt und eingehalten werden können.
Im Folgenden werde ich die Zustände in der Heimpflege reflektieren und analysieren, und schildern, welche Bedingungen im Pflegesystem schon vor Beginn der Pandemie problematisch waren. Daran schließt sich die Frage an, wie Grundlegendes geändert werden könnte, um nicht nur in der Pandemiesituation zu bestehen, sondern auch generell ein menschenwürdiges Altenpflegesystem zu schaffen – sowohl für Pflegebedürftige als auch für Pflegende. Wie könnte eine Alternative zum bestehenden System aussehen? In welche Eigentums-und Produktionsverhältnisse müsste eine solche Struktur eingebettet sein? Wer wäre Träger:in und Kraft, eine solche Veränderung durchzusetzen?
Ich versuche also Fragen zu konkretisieren, die meines Erachtens in der öffentlichen Debatte häufig nicht ausreichend vertieft oder sogar ignoriert werden. An wesentlichen Punkten gelingt es nicht, über unser bestehendes System hinaus zu denken. Gerade das halte ich aber für notwendig, um wirklich eine radikale – im Sinne von »an die Wurzel gehende«- Veränderung anstoßen, fördern und nachhaltig umsetzen zu können.(7)
Für diejenigen, die keinen direkten Einblick in die Alltagsrealität in den Pflegeheimen haben, schildere ich beispielhaft einen Tag im Pflegeheim, basierend auf meinen Erfahrungen in der Pflege:
Nach der Übergabe, die früh morgens gemeinsam mit dem Personal der Nacht- und der Frühschicht stattfindet, werden die Bewohner:innen vor Beginn des Frühstücks mit Zeitknappheit und unter Stress grundpflegerisch versorgt. Individuelle Bedürfnisse oder die Wahrung der Intimsphäre können wegen des Zeitdrucks nicht immer berücksichtigt werden. Es kommt vor, dass sehr viele Bewohner:innen teilweise gleichzeitig versorgt werden müssen. Das erfordert gutes Organisationsvermögen. Es bleibt wenig Zeit für empathische Pflege und Kommunikation. Den Pflegebedürftigen kann oftmals nicht das Gefühl vermittelt werden, dass individuell auf sie eingegangen wird. Stress und Anspannung herrschen vor.
Zum Frühstück müssen diejenigen in den Speisesaal gebracht werden, die nicht bettlägerig sind. Das Frühstück wird ihnen dann am Tisch serviert. Gleichzeitig müssen aber auch die Bewohner:innen ihr Frühstück erhalten, die bettlägerig sind. Das passiert weiterhin unter Zeitdruck.
Fachkräfte müssen in der knapp bemessenen Zeit Medikamente stellen und verabreichen, Blutzuckermessungen durchführen, Insulin spritzen, Verbände anlegen, Wunden versorgen, Bewohner:innen lagern, Trinkprotokolle führen und die Dokumentation aller Maßnahmen vornehmen. Hinzu kommt die zeitintensive Pflegeplanung für die Patient:innen, die oft nur nebenbei in den stressigen Arbeitstag integriert werden kann. Viele Heime ermöglichen für die Pflegeplanung keine gesonderten Zeitfenster. Das führt zu zusätzlichem Stress. Eine meiner ehemaligen Kolleginnen berichtete mir, dass sie in einem anderen Heim als frisch examinierte Fachkraft in der Frühschicht für mehr als 90 Bewohner:innen Medikamente verabreichen und dokumentieren musste. Für eine Frühstückspause bleibt da keine Zeit. Wenn sie diesbezüglich Kritik an der Heimleitung äußerte, wurde ihr mitgeteilt, dass sie ihre Arbeit besser organisieren müsse.
Nach dem Frühstück nehmen meist die Pflegehelfer:innen Toilettengänge und die damit verbundene Intimpflege von mehreren Bewohner:innen nebeneinander und gleichzeitig vor, um die begrenzte Zeit der Schicht einhalten zu können. Diese Arbeit ist monoton und anstrengend. Zusätzlich lässt dieses Setting wiederum die Wahrung der Intimsphäre der Pflegebedürftigen nicht zu. Ich habe erlebt, dass in nebeneinander liegenden Zimmern die Bewohner:innen – teilweise in Zimmern anderer Bewohner:innen – auf die Toilette gesetzt und dann schnellstmöglich wieder in den Tagesraum gebracht wurden.
Bewohner:innen, die bettlägerig sind, müssen im Verlauf des Vormittags regelmäßig gelagert werden, und Schutzhosenwechsel werden durchgeführt. Vor dem Mittagessen werden oft noch die Betten frisch bezogen. Kürzel sind im Leistungsnachweis einzutragen, denn in der Pflege gilt nur das als getan, was dokumentiert worden ist – eine zeitaufwändige Tätigkeit, für die nicht genügend Zeit in der Schicht eingeplant ist.
Dann wird das Mittagessen verabreicht. In der Eile ist es nicht möglich, in Ruhe mehreren bettlägerigen Bewohner:innen Hilfe beim Essen zu leisten und Essen anzureichen. Das ist vor allem bei Menschen mit einer Schluckstörung fatal, bei deren Versorgung unbedingt Ruhe und Geduld notwendig ist, um Aspirationen zu vermeiden. Der Genuss am Essen bleibt den hilfebedürftigen Bewohner:innen verwehrt.
Nach der Mittagsübergabe beginnt die Spätschicht meist mit noch knapperer Personalbesetzung als die Frühschicht. Nach dem Kaffeetrinken der Bewohner:innen, erneutem Lagern, Medikamente verabreichen und stellen, Intimpflege und Schutzhosenwechsel wird meist ab 17 Uhr das Abendbrot gereicht. Danach, meistens schon ab 18 Uhr, werden die Bewohner:innen zu Bett gebracht, beziehungsweise wird ihnen diesbezügliche Hilfestellung ermöglicht.
Da es aufgrund der knappen Zeit schwierig ist, auf individuelle Zeitbedürfnisse einzugehen, liegen schließlich die meisten Bewohner:innen schon vor 19.30 Uhr im Bett, damit die Spätschicht meist gegen 20.00 Uhr beendet werden und die Übergabe an das Personal der Nachtschicht pünktlich erfolgen kann. Es gibt in der Heimpflege sicherlich einzelne Bewohner:innen, die noch selbstständiger und körperlich fitter sind und später schlafen gehen können, sofern sie ein Einzelzimmer haben. Sie sind in der Heimpflege auf den Pflegestationen aber meist eine kleine Minderheit.
Die Nachtschicht dauert meistens von 20 Uhr bis 6 Uhr am nächsten Morgen und ist oftmals personell noch sparsamer besetzt. Die wenigen Pflegekräfte in der Nachtschicht haben oft sehr viele Patient:innen zu versorgen bzw. neben Lagerungen auch Toilettengänge oder Schutzhosenwechsel durchzuführen. Dabei müssen sie alles gleichzeitig im Blick behalten, was hohe Konzentration und Verantwortung bedeutet.
Wenn in einer Schicht ein Notfall auftritt, zum Beispiel durch einen Sturz oder Schlaganfall, dann entsteht umgehend ein Pflegechaos. Ich hatte einmal in einer Spätschicht, in der wir mit zwei Pflegekräften für 40 Bewohner:innen zuständig waren, zwei Notfälle gleichzeitig. In beiden Fällen musste ich den Notarzt rufen. Die Pflegehelfer:in musste währenddessen alleine sämtliche Bewohner:innen ins Bett bringen, da ich als Fachkraft für die Kommunikation mit den Notärzten zuständig war.
Es gibt natürlich in den meisten Heimen tagsüber und an Feiertagen ein Kultur-oder Freizeitangebot von Ehrenamtlichen oder sozialen Diensten, zusätzlich oft auch Ergotherapie, insbesondere für demente Bewohner:innen. Dies bringt etwas Abwechslung in den Alltag. Je nach Niveau und Qualität des entsprechenden Heimes ist dieses Kultur- und Beschäftigungsprogramm besser oder schlechter ausgeprägt.
Zunehmend werden Bemühungen unternommen, auf verschiedene religiöse Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, sofern dies gewünscht wird, und zwar nicht nur für christliche Menschen, sondern auch zum Beispiel für gläubige Moslems, was ich sehr begrüße.
Als ich 2012 die Ausbildung zur Altenpflegefachkraft begann, gelangte ich rasch zu der Überzeugung, dass die Pflege in Heimen und auch in vielen Pflegediensten defizitär organisiert ist. In der Öffentlichkeit wird oft betont, wie gut das deutsche Altenpflegesystem im europäischen Vergleich abschneide.(8) Diese Ansicht kann ich basierend auf meinen eigenen Erfahrungen nicht bestätigen und werde nun einzelne Aspekte beleuchten, die meine Auffassung untermauern:
Trotz der im Rahmen des SGB XI geregelten sozialen Pflegeversicherung besteht keine Gerechtigkeit. Oftmals hängt es vom sozialen Status der Bewohner:innen ab, in welcher Art von Altenheim sie wohnen können.
Ein erster politischer Exkurs dazu:
Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, die laut Karl Marx richtigerweise immer noch eine Klassengesellschaft ist(9), in der also die Mehrheit der Menschen als Klasse der Lohnabhängigen über nichts anderes als ihre Arbeitskraft verfügt, die sie gegen Lohn an die Minderheit der Produktionsmittelbesitzenden und Kapitaleigner:innen, als Klasse der Kapitaleigner:innen/Kapitalist:innen, verkaufen müssen, um Miete und Lebenshaltungskosten zahlen zu können.
Die Kapitaleigner:innen eignen sich also das Arbeitsergebnis als Profit an und konkurrieren mit anderen Kapitaleigner:innen, um weiterhin mehr Profit erzielen und immer weiteres Wachstum erreichen zu können.
Die Differenz zwischen dem Wert der von der Arbeitskraft geschaffenen Waren und dem Wert der Arbeitskraft ist es, die den Kapitalist:innen als Mehrwert bzw. Profit zufällt. Aus diesem Profit finanzieren Kapitalist:innen die Investitionen, die die Effizienz ihrer Produktion steigern und damit ihr Überleben in der Konkurrenz sichern. Lohnabhängige konkurrieren miteinander um die besten Jobs oder die besten Mietwohnungen.
In Folge gibt es gesamtgesellschaftlich wenige Reiche, die einer Mehrheit von Nicht-Wohlhabenden gegenüberstehen, global betrachtet sind die Armutsverhältnisse noch schlimmer.
Hinzu zu diesen Gegensätzen kommt der patriarchale Charakter der Klassengesellschaft, in dem Frauen oftmals unbezahlte Reproduktionsaufgaben, also Care- und Sorgearbeit, qua geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen und Sozialisation zugewiesen werden. Dadurch können sich oftmals die dann als männlich gelesenen Lohnabhängigen »reproduzieren lassen«, um wieder fit zu sein für die tägliche Ausbeutung durch Lohnarbeit.
Dieses Verhältnis hat sich der Kapitalismus zunutze gemacht. Frauen werden darüber hinaus in Lohnarbeitsverhältnissen immer noch schlechter bezahlt und finden schwerer Jobs als Männer, haben es generell schwerer, in der Arbeitshierarchie aufzusteigen.
Während einer Hospitation vor meiner Ausbildung habe ich einen Nachmittag lang auf einer Station gearbeitet, auf der hauptsächlich alkoholabhängige Sozialhilfeempfänger:innen versorgt wurden. Sie bewohnten dort Drei-Bettzimmer mit dementsprechend reduzierter Privatsphäre.
Eine meiner Kolleginnen hingegen absolvierte ihre Ausbildung zur Altenpflegerin in einem der »gehobenen« und teuren Heime, in denen Einzelzimmer mit »gehobener« Ausstattung, »anspruchsvolles Ambiente« und »hochwertige Mahlzeiten« die Regel sind. Es muss zudem erwähnt werden, dass wohlhabende Menschen natürlich auch viel eher die Möglichkeit haben, sich zuhause von privat angestellten Pflegekräften pflegen zu lassen. In qualitativ »gehobenen« Pflegeheimen sind die Arbeitsbedingungen für die dort angestellten Pflegekräfte aber nicht unbedingt besser. Das wurde mir deutlich, als mir meine Kollegin erzählte, wie erschreckend viele Überstunden sie in der dreijährigen Ausbildung im »gehobenen« Heim geleistet hat, ohne dass diese mit freier Zeit oder durch Auszahlung ausgeglichen worden wären. Zudem herrschten autoritäre Strukturen und geringe Wertschätzung den Arbeitskräften gegenüber. Dieses ist natürlich nur ein Beispiel. Es gibt – leider – unzählige Berichte von Pflegekräften, die ein solches Gesamtbild bestätigen.(10)
Wie erwähnt habe ich direkt nach meinem Examen ein Jahr in einem Heim gearbeitet, in dem ich in der Spätschicht allein mit einer Pflegehelferin 40 Bewohner:innen pflegen und versorgen musste. Wenn dann nicht regelmäßig freie Tage als Ausgleich möglich sind, führt das zur Erschöpfung im Arbeitsalltag.
Es gibt Heime, in denen Pflegekräfte 12 Tage am Stück arbeiten, um dann nach 2 Tagen Pause wieder einen langen Arbeitsblock absolvieren zu müssen. Eine Erschöpfung bei den Pflegenden kann sich somit bis hin zum Vollbild eines Erschöpfungssyndroms entwickeln. Wegen der geringen Löhne müssen Fachkräfte und Pflegehelfer:innen oftmals in Vollzeit arbeiten, um finanziell über die Runden zu kommen. Viele von ihnen arbeiten wegen der körperlichen Erschöpfung nur wenige Jahre in ihrem Beruf, obwohl sie ihre Tätigkeit an sich gerne mögen.
Auf gesundheitliche Gefährdungen, zum Beispiel auch durch multiresistente Keime, die oft nach Krankenhausaufenthalten von Bewohner:innen in die Pflegeheime gelangen, wird defizitär reagiert, was besonders für alte und abwehrgeschwächte Menschen bedrohlich werden kann. Es steht viel zu wenig Zeit für alle wichtigen und notwendigen Hygienemaßnahmen zur Verfügung. In Zeiten der gefährlichen Corona-Pandemie tritt dieses Defizit besonders zutage.
Es gibt viele idealistische Pflegekräfte, die von der Sinnhaftigkeit und dem sozialen Charakter ihrer Arbeit überzeugt sind und Gutes tun wollen. Die Pflegeeinrichtungen sind jedoch durch hierarchische Strukturen geprägt, die sich auf allen Ebenen auswirken, auch zwischen den Pflegefachkräften und den Pflegehelfer:innen. Ein Gefühl der fehlenden Anerkennung breitet sich aus. Viele Pflegekräfte haben keinen oder nur geringen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Dienstpläne, weil in der Heimpflege – so, wie in der Gesamtgesellschaft- keine basisdemokratische Strukturen vorhanden sind.
Häufig sind Pflegekräfte im anstrengenden Berufsalltag krank gemeldet, sodass andere Pflegekräfte des jeweiligen Pflegeteams einspringen müssen. Sie werden dann in ihrer Freizeit angerufen und müssen immer erreichbar sein. Das führt dazu, dass im Alltag einer Heimpflegekraft verlässliche Planung und Gestaltung des Privatlebens schwierig werden. Vor allem Pflegekräfte, die Kinder haben, geraten in Schwierigkeiten. Das halten viele nicht lange aus, über Jahre gerechnet. Es gibt den Begriff des »inoffiziellen Pflegestreiks« durch Krankschreibungen. Bessere Arbeitsbedingungen und Basisdemokratie für alle Mitarbeitenden in der Heimpflege würden dazu führen, dass Pflegekräfte seltener krank wären und länger und zufriedener in ihrem Beruf bleiben würden.
Da sich viele Pflegekräfte insgesamt nicht genügend wertgeschätzt fühlen, nützt es auch nicht viel, wenn, wie am Anfang der Pandemie, vom Balkon aus für sie geklatscht wird oder nicht. Selbst jetzt, in vierten Welle der Pandemie wurde noch nicht einmal versucht oder auch nur damit begonnen, die Bedingungen der Altenpflege und der Pflege generell grundlegend zu verbessern. Es wurde lediglich eine Prämie an Pflegekräfte ausgezahlt, je nach Heim oder Pflegedienst verschieden(11). Das war alles - und das macht mich wütend!
In der ambulanten Altenpflege wird mehr als in Pflegeheimen versucht, den Klient:innen Selbstbestimmung zu ermöglichen, aber auch hier sind die Einsatzzeiten oft knapp, und der Druck ist groß, in der Konkurrenz als Pflegedienst bestehen zu müssen. Auch für Fahrtzeiten zwischen den Einsätzen wird von den Pflegekassen nur wenig gezahlt. Pflegefachkräfte haben oft zu viele und zu kurze Einsätze in der Tour, da bleibt wenig Zeit für die adäquate Versorgung der Klient:innen.
Dass die Pflege ab sofort anders und deutlich besser organisiert werden kann, erlebe ich an meinem Arbeitsplatz bei der »Solidarischen Hilfe im Alter GmbH« in Hamburg(12), wo ich seit über 5 Jahren zufrieden als examinierte Altenpflegefachkraft arbeite.
Die »Solihilfe« wurde vor 25 Jahren als antifaschistischer Pflegedienst gegründet, mit dem Schwerpunktziel, Opfer und Verfolgte durch das NS-Regime, wie zum Beispiel Holocaustüberlebende, zu pflegen und zu betreuen, unter Einbeziehung ihres Umfelds und ihrer Verwandtschaft. Diese Ausrichtung ist in Deutschland momentan einmalig. Durch diesen inhaltlichen Anspruch wird klar, dass der Betrieb mit seinem kompromisslos antifaschistischen und antirassistischen Profil in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks ein deutliches Zeichen setzt, was ich sehr schön und sympathisch finde. Inzwischen wird nicht nur der ursprünglichen Zielgruppe, sondern immer öfter auch Migrant:innen, Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Obdachlosen Hilfe und Pflege angeboten. Der inhaltliche Anspruch ist dabei unverändert geblieben, was mir sehr gut gefällt.
Der Betrieb hat insgesamt ungefähr 40 Mitarbeiter:innen, dazu gehören die Geschäftsführung, die Pflegedienstleitung, Bürokräfte, Pflegefachkräfte, Pflegeassistent:innen und Betreuungskräfte. In der Einrichtung gilt das Prinzip, gleichberechtigt zusammenzuarbeiten und flache Hierarchien zu praktizieren.
Die Einsatzpläne sind in ihrem Behandlungs- und Pflegespektrum insofern abwechslungsreicher als bei anderen Pflegediensten, als dass sich längere und kürzere Einsätze abwechseln. Bei Störungen des geplanten Ablaufs, wie z.B. Stau im Straßenverkehr, unerwartet länger andauernder Pflege oder eventuellen Notfällen, sind Zeitfenster möglich, die einen flexibleren Umgang mit der Situation ermöglichen. Insgesamt haben wir mehr Zeit für ausführlichere Kommunikation und Empathie mit einzelnen Patient:innen. Die Gesamteinsatzzeit kann, natürlich auf der Grundlage entsprechender Einsatzzeitdokumentation und Angabe der Gründe, geändert und angepasst werden, was den Stress deutlich reduziert.
Bei der Solihilfe habe ich als Teilzeitkraft bei durchschnittlich 6 Stunden dauernden Schichten in der Regel deutlich weniger Patient:innen zu versorgen und zu pflegen (meistens nicht mehr als 14 Patient:innen). Bei anderen Pflegediensten ist es üblich, dass es aufgrund der straffen Pflegezeitbemessung für Fachkräfte nicht selten vorkommt, dass in derselben Zeit 20-25 Patient:innen zu versorgen sind, also sehr viele kurze Einsätze mit Behandlungspflege zu leisten sind, was insbesondere bei der Verkehrssituation sehr anstrengend sein kann. Solche Arbeitsverhältnisse habe ich in meinem Praktikum bei einem ambulanten Pflegedienst im Rahmen meiner Ausbildung kennengelernt. Es gibt ausgedehnte Debatten und wissenschaftliche Literatur zu diesem Faktum(z.B. 13, 14).
Die Solihilfe hat zwei Geschäftsführerinnen, die aber keine private Gewinnausschüttung praktizieren. Die Gewinne fließen direkt zurück in den Betrieb - einerseits, um ein finanzielles Notpolster anzulegen, damit auch in schwierigen Zeiten die Gehälter zuverlässig bezahlt werden können, andererseits, um bessere und entspanntere Dienstzeiten und Einsatzpläne, ein hochwertiges Arbeitsequipment, einen guten Fuhrpark und bessere Löhne nicht nur für Fachkräfte, sondern auch für Pflegehelfer:innen und Betreuungskräfte zu ermöglichen. Die Lohndifferenzen zwischen den einzelnen »Qualifizierungsgraden« sind bei der Solihilfe geringer als bei anderen Betrieben. Der Betrieb ist nicht gewachsen, das ist auch nicht das Ziel. Er kann seine Größe beibehalten und ist finanziell stabil.
Regelmäßig finden Fortbildungen für das Personal statt, und die Fachkräfte haben genug Zeit für Pflegeplanung und Pflegevisiten. Es wird darauf geachtet, dass es verlässliche Arbeitszeiten gibt. Bei der Dienstplanung besteht die Möglichkeit, aktiv Wünsche zu äußern, und die Einsatzpläne können immer diskutiert werden. In regelmäßigen Teamsitzungen findet empathischer Austausch auf Augenhöhe statt. Insgesamt besteht eine größere Zufriedenheit und Solidarität im Team.
Demzufolge gibt es bei der Solihilfe sehr geringe Krankheitszeiten unter den Kolleg:innen, was auch die angenehme Folge hat, dass man nur selten für kranke Kolleg:innen einspringen muss.
Natürlich untersteht auch ein Pflegedienst wie die Solihilfe den Zwängen des kapitalistischen Konkurrenzsystems, innerhalb derer sie bestehen muss, solange es den Kapitalismus als globales Kapitalverhältnis gibt. Ich bin dennoch mit großer Freude und Überzeugung Altenpfleger bei der Solihilfe und identifiziere mich mit dem Beruf. Daher bin ich sehr froh, einen guten Arbeitsplatz in der Pflege gefunden zu haben. Die Solihilfe geht definitiv in die richtige Richtung und zeigt, dass Betriebe auf private Gewinnausschüttung schon jetzt verzichten können, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dass aber letztendlich auch die Gesamtgesellschaft verändert werden muss, werde ich später noch verdeutlichen.
Ein weiteres, sehr interessantes Pflegedienstmodell ist das aus Holland stammende, gemeinnützige Konzept des »Buurtzorg«(15), was übersetzt »Nachbarschaftspflege« bedeutet. Es beginnt, sich in kleinen Schritten international auszubreiten. Auch dieses Konzept untersteht natürlich den Bedingungen des kapitalistischen Konkurrenzprinzips und – systems, welches Gewinner:innen und Verlierer:innen produziert. »Buurtzorg« umfasst mit 14.000 Angestellten mittlerweile 20% des ambulanten Pflegedienstmarktes in den Niederlanden und versucht, das Pflegesystem schon jetzt grundlegend zu verändern. Träger von »Buurtzorg« ist ein gemeinnütziger Verein, der kleine Pflegeteams organisiert, die in den jeweiligen Stadtteilen verankert sind und »Nachbarschaftspflege« gewährleisten.
Diese Teams arbeiten ohne Hierarchie, mit viel Selbstbestimmung in der Organisation und Planung der Pflege. Ähnlich wie bei der Solihilfe wird Bezugspflege praktiziert, das heißt, Pflegekräfte sind Patient:innen zugeordnet, die sie kontinuierlich und regelmäßig besuchen, pflegen und versorgen. Dadurch kann eine persönliche Bindung zu diesen aufgebaut werden. Bei »Buurtzorg« wird den Informationen auf der Homepage zufolge »nach unserer Anwesenheit im Zuhause der Pflegebedürftigen abgerechnet, statt nach undurchsichtigen Leistungsbausteinen. Dafür besprechen wir mit unseren Patient:innen, wie viel Zeit wir miteinander verbringen wollen – und nutzen diese täglich flexibel für genau die Betreuung, die sie in diesem Moment brauchen. Ganz in Ruhe und jederzeit offen für Anpassungen.«
Nun zu der Frage: Was muss sich an unserem Gesellschaftssystem verändern, damit wir in der Corona-Pandemie bestehen und die damit verbundenen Krisensituationen gemeinschaftlich überwinden können? Wie kann ein anderes und menschlicheres Gesellschaftssystem erkämpft werden?
Zunächst muss so schnell wie möglich weltweit die Armut bekämpft und überwunden und ein gutes Gesundheits- und Pflegesystem für alle Menschen etabliert werden. Zu diesem Zweck ist Reichtum entschieden umzuverteilen, beginnend mit einer hohen Vermögensabgabe und hohen Steuern für Reiche. Durch die drastische Abrüstung der Bundeswehr - bis hin zu ihrer Abschaffung - würden Gelder frei, die sofort für die notwendige Pflegeumstrukturierung und die Finanzierung schneller, solidarischer Sofortmaßnahmen verwendet werden könnten. Ein positives Beispiel ist ein Land wie Kuba, das seit 1960 durch eine starke Wirtschaftsblockade eingeschränkt wird und dennoch über ein kostenloses Gesundheitssystem verfügt. Kuba hat mit 8 Ärzt:innen/1000 Einwohner die höchste Ärztedichte weltweit (zum Vergleich: in Deutschland gibt es 4 Ärzt:innen/1000 Einwohner)(16), die in Stadtteil-Polikliniken arbeiten. Kuba hat sogar Solidaritätsbrigaden von Ärzt:innen und Pflegekräften in die Welt entsandt, die zum Beispiel in der ersten Pandemiewelle in der schlimmen Situation in Norditalien Hilfe geleistet haben(17). Dieses Beispiel macht deutlich, dass Solidarität möglich ist, selbst unter schweren Bedingungen.
Die europäische Politik versagt momentan bei der Organisation von Impfstoffen. Die Priorisierung, die vorsieht, dass die reichen Industriestaaten die ersten sind, die ihre Bewohner:innen impfen können, ist ungerecht. Menschen, die in Armut leben, sind im Nachteil – mit fatalen Folgen.(18) Würden alle Patente der Coronaimpfstoffe und die Pharmaindustrie generell vergesellschaftet, könnten global für alle Menschen Impfstoffe in größerer Menge produziert werden(19), und alle hätten einen gleichberechtigten Anspruch auf Impfung. Selbst in einem reichen Land wie Deutschland, welches seinen Reichtum auch durch Ausbeutung armer Länder angehäuft hat, und in dem es trotz Reichtum weniger auch Armut vieler Menschen gibt, werden zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels immer noch zu wenige Menschen geimpft. Die Impfbereitschaft zum Beispiel in Deutschland ist zurückgegangen, und global sind immer noch zu wenige Menschen geimpft - aufgrund der oben geschilderten globalen Armutsverhältnisse. Diese müssten so schnell wie möglich überwunden werden, neben einer moralischen und solidarischen Verpflichtung dazu wäre auch das ein Schutz vor einer weiteren Ausbreitung der Pandemie.
Um die gerade in der gefährlichen Corona-Pandemie bedrohliche Personalnot so schnell wie möglich zu überwinden, müssen sofort durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und angemessene, viel höhere Löhne diejenigen Pflegekräfte zurückgewonnen werden, die ihren Job frustriert und erschöpft aufgegeben haben. Durch die Verkleinerung und Dezentralisierung von Pflegeheimen in die jeweiligen Stadtteile eingebettet könnten die einzelnen Bewohner:innen besser und individueller betreut werden. Damit dafür genug Zeit vorhanden ist, müsste sofort viel mehr Personal eingestellt werden. Wir brauchen dringend einen grundlegend verbesserten Personalschlüssel.
Darüber hinaus halte ich es für unerlässlich, die Ausbildung sowohl für Pflegehelfer:innen als auch für Pflegefachkräfte zu verbessern und angemessen zu vergüten, damit Pflegeauszubildende schon in der Ausbildung gut von ihrem Gehalt leben können. Dies wäre gerecht - auch angesichts der tatsächlich hohen Systemrelevanz des Pflegeberufs.
Es gilt insgesamt, eine größere Zufriedenheit in den Pflegeberufen zu erreichen. Pflegekräfte sollten die Möglichkeit haben, basisdemokratisch ihre Arbeitsbedingungen zu gestalten, und zwar in einem solidarischen Verhältnis zueinander, auf der Basis von Wertschätzung, Selbstbestimmung und sozialer Gleichberechtigung.
Solange Lohnarbeit als gesellschaftliches Verhältnis besteht und nicht durch selbstbestimmte Tätigkeit innerhalb einer klassenlosen Gesellschaft ersetzt worden ist, müssten neben der Basisdemokratie in den Betrieben die Lohndifferenzen zwischen den in der Pflege Arbeitenden immer mehr verringert werden, um eine größere soziale Gleichberechtigung auch monetär zu verdeutlichen.
Es könnte in den wie bei »Buurtzorg« dezentralisierten, in den jeweiligen Stadtteilen verankerten Pflegeheimen eine Rätestruktur aufgebaut werden: Es gäbe die basisdemokratisch organisierten Räte der Bewohner:innen, die ihre Bedürfnisse artikulieren und den Alltag in den Pflegeheimen mitgestalten – so gut wie möglich, und mit besonderer Unterstützung für demente Bewohner:innen. Die ebenfalls basisdemokratisch organisierten Räte der Pflegekräfte und die Räte der Verwaltungsstruktur koordinieren ihre Arbeit mit den Räten der Bewohner:innen so gleichberechtigt wie möglich. Dieses Konzept wäre allerdings nur umsetzbar, wenn die Pflegeheime (und Pflegedienste) nicht kapitalistisch, sondern gesamtgesellschaftlich organisiert wären. Zu diesem Zweck wäre eine dezentrale Vergesellschaftung der Eigentumsstruktur vonnöten. Damit wäre das Ziel der Arbeit von Pflegeheimen und Pflegediensten nicht die Maximierung von Profit in Konkurrenz zueinander, sondern das Wohl aller in Zusammenarbeit aller miteinander.
Mein anzustrebendes Ideal wäre also eine kooperative und selbstverwaltete Ökonomie, die in dezentralen, gut vernetzten und föderalistisch miteinander verbundenen Einheiten organisiert ist, welche nicht gegen-, sondern miteinander arbeiten. Das halte ich für sehr wichtig.
Auf diese Weise könnten die Pflege und die Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten ihren wirklichen Bedürfnissen entsprechend zufriedenstellend organisiert werden. Anstelle von Profitmaximierung für Kapitaleigner:innen gäbe es also eine gesamtgesellschaftliche Planung und Kooperation, die nicht zentralistisch von oben verordnet ist, sondern von der Basis ausgeht und auf Gemeineigentum, Basisdemokratie und sozialer Gleichberechtigung aller gründet.
Um die Grundzüge meiner politischen Utopie zu skizzieren, die Struktur und Raum für grundlegende Veränderungen ermöglichen könnte, möchte ich einen Rückblick auf die Geschichte der gewerkschaftlichen anarchistischen Arbeiter:innenbewegung und der sozialrevolutionären Bewegungen werfen. Es gab bereits zahlreiche konkrete Ansätze in der Geschichte, die meiner Vorstellung von einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesamtgesellschaft entsprechen.
Als antiautoritärer Linker beziehe ich mich dabei insbesondere positiv auf die anarcho-syndikalistische Bewegung, deren umfangreiche Geschichte leider in der bürgerlichen Geschichtsschreibung oft ausgeklammert oder in das Schreckgespenst eines angeblich »diktatorischen Sozialismus« umgesponnen wird.
Die anarcho-syndikalistische Bewegung zeigt aber, dass Sozialismus eine Demokratisierung aller Lebensbereiche bedeutet, also das Gegenteil von Unfreiheit ist.
Ich zitiere den berühmten deutschen Anarcho-Syndikalisten Rudolf Rocker: »Der Sozialismus wird frei sein, oder er wird nicht sein«.(20) Diesem Motto fühle ich mich verpflichtet.
Der sogenannte »Realsozialismus« hat deutlich gemacht, dass antiautoritäre, sozialistische Politik nicht von einer zentralistischen Kaderpartei verordnet werden kann, welche die Macht erobert hat. Dieses führt nicht zum Abbau von Herrschaft, wie die Stalinisierung in der Sowjetunion in ihrer Geschichte und Entwicklung tragisch verdeutlicht hat. Die Menschen müssen selbst Träger:innen der Veränderungen sein. Dazu gehört auch, das Bewusstsein zu einander zu verändern, und zwar hin zu solidarischen Formen der gesellschaftlichen Organisation. Selbst Karl Marx sagte treffend: »Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.«(21)
Aus der ersten Internationalen der sozialistischen Bewegung ist als Gegenpol zum zentralistischen Parteikommunismus unter anderem die anarcho-syndikalistische Bewegung entstanden. Sie hatte besonders in Spanien eine sehr große Anhänger:innenschaft und eine lange Tradition.
In den USA gab und gibt es die Industrial Workers of the World (I.W.W. – »Wobblies«), in Südamerika die FORA, in Deutschland gab es zum Beispiel die anarcho-syndikalistische FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands). Die FAUD hatte in Deutschland im Jahr 1921 insgesamt 150.000 Mitglieder, organisiert in Betriebsgruppen und Syndikaten. Nach der Machtübernahme der Nazis leistete die FAUD weiterhin im Untergrund aktiv Widerstand gegen die Nazis. Ziel dieser Bewegungen war, Macht und Herrschaft prinzipiell abzuschaffen und durch soziale Gleichberechtigung und eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu ersetzen.
Die spanische anarcho-syndikalistische Basisgewerkschaft CNT (Confederation National de Trabajo) hatte in den 30er Jahren des vorherigen Jahrhunderts über 1,5 Millionen Mitglieder. Sie war die größte Gewerkschaft und die bedeutendste politische und gewerkschaftliche Organisation in Spanien zu dieser Zeit.(22) 1936 kam es im Zuge eines Generalstreiks zu einer sozialen Revolution, durch die große gesellschaftliche Fortschritte erzielt werden konnten.
Mir ist bewusst, dass dabei auch Fehler gemacht worden sind, und ich möchte auch nicht alles aus dieser Zeit idealisieren, es ist aber schon erstaunlich, wie viel gesellschaftlicher Fortschritt und Emanzipation damals innerhalb dieser sozialen Revolution umgesetzt worden sind.
Trotz des Bürgerkrieges gegen die Franco-Faschist:innen im Norden Spaniens konnte der spanische Anarcho-Syndikalismus vor allem in Barcelona und in Katalonien eine Neuorganisation der Gesellschaft erkämpfen. Es kam zu einer weitreichenden Kollektivierung der Betriebe, der Produktionsmittel und der Häuser und des Bodens, in den Dörfern und Städten bildeten sich Kommunen. Die anarchistische Utopie des »freiheitlichen Kommunismus«, des »communismo libertario« - als Gegensatz zum Stalinismus - wurde in der spanischen Revolution von 1936 in großen Gebieten umgesetzt.(23)
George Orwell, der zu dieser Zeit in einer sozialistischen Brigade in Spanien kämpfte, berichtet in seinem Buch »Mein Katalonien« ausführlich, wie die Arbeiter:innen ihre Unterwürfigkeit ablegten und gleichberechtigte Formen der Kommunikation entwickelten(24). Interessant ist zum Beispiel Orwells Schilderung des ehemaligen Luxushotels »Ritz« in Barcelona, welches in eine kostenlose Volksküche umorganisiert wurde.
Die durch die Arbeiter:innen und ihre Gewerkschaft CNT kollektivierten Betriebe und Kommunen wurden von den Arbeitenden selbst verwaltet und organisiert. Vormalige Kapitaleigner:innen bekamen oft die Möglichkeit, sich sozial gleichberechtigt in die entstehenden Arbeitskollektive und Betriebe zu integrieren und ihr Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Da das Konkurrenzprinzip zwischen den kollektivierten Betrieben aufgehoben wurde, konnten diese neu organisiert und dezentralisiert werden. Es wurde gesamtgesellschaftlich kooperativ gearbeitet – und nicht wie unter kapitalistischen Bedingungen nur für den »eigenen Betrieb«, gegen andere Betriebe in Konkurrenz. Der Lebensstandard hob sich schnell, und erstmals in der Geschichte Spaniens bekam die vorher sehr arme Bevölkerung in den befreiten Gebieten das Notwendige und Wichtige zum Leben, und zwar oft sogar kostenlos, weil für den tatsächlichen Bedarf und nicht für den Profit der Kapitaleignern:innen produziert wurde. Dadurch waren Produktionssteigerungen möglich, Armut wurde schnell beseitigt, und die Arbeitenden organisierten selbstverwaltet die gerechte Verteilung der Gebrauchsgüter. Weil alle Menschen gut versorgt und sozial abgesichert wurden, konnte vielerorts sogar das Geld abgeschafft werden, weil es für die Organisierung der Gesellschaft nicht mehr notwendig war.(25)
In der anarcho-syndikalistischen Bewegung bildeten sich überall libertäre Kulturvereine und Zeitschriften, die Arbeiter:innenbewegung hatte begonnen, sich selbst zu bilden. Es gab ein hohes Bedürfnis nach Wissen in der Arbeiter:innenklasse, und es gründeten sich vielerorts antiautoritäre Schulen.
Die anarcho-syndikalistische Bewegung Spaniens war in dieser Zeit noch sehr männerdominiert, aber es gab zum Beispiel mit der Gründung der feministisch-klassenkämpferischen »Mujeres Libres« eine Frauenbewegung innerhalb der anarchistischen Bewegung, die fast 40.000 Mitglieder umfasste, gegen Männerdominanz ankämpfte und für Gleichberechtigung und Sexualaufklärung eintrat, sowohl in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht, als auch innerhalb der emanzipatorischen Bewegung.(26) Damit lieferte sie wichtige Impulse für die Gegenwart.
Leider konnte die anarcho-syndikalistische Bewegung die soziale Revolution nicht verteidigen. Es kam zum Sieg der Franco-Faschist:innen, sodass viele Gewerkschafts- und Bewegungsaktivist:innen aus Spanien fliehen mussten und die Idee des Anarcho-Syndikalismus auch durch den 2. Weltkrieg in Vergessenheit geriet. Bei der Zerschlagung der sozialen Revolution und ihrer Errungenschaften spielte vor dem Sieg Francos auch die Stalintreue der spanischen Kommunistischen Partei eine unrühmliche Rolle. Stalin wollte verhindern, dass sich ein freier und basisdemokratischer Sozialismus entwickelt und global durchsetzt, da dieser auch seinen Machtanspruch in Frage gestellt hätte.
Erst nach Kriegsende bildeten sich in Europa und nach Francos Tod auch in Spanien wieder anarcho-syndikalistische Bewegungen und Organisationen: in Spanien erneut die CNT und in Deutschland ab 1977 die FAU, die Freie Arbeiter:innen Union, welche nach dem Vorbild der FAUD in der Weimarer Republik gegründet wurde, heute immer erfolgreicher kleine gewerkschaftliche Kämpfe organisiert und eine wachsende Mitgliederzahl zu verzeichnen hat.(27)
Ich vertrete die Auffassung, dass es der richtige Weg ist, dass sich die derzeitigen basisdemokratischen Basisgewerkschaften emanzipatorisch organisieren, um neue Politikformen zu erlernen und wirksam Gegenwehr zu leisten, zum Beispiel gegen prekäre Arbeitsbedingungen, Lohnkürzungen oder Kündigungen. Sie haben die elementare Aufgabe, sich für eine Verbesserung der Lebenssituation aller Lohnabhängigen einzusetzen, ohne dabei das gesamtgesellschaftliche Ziel einer sozialen Revolution aufzugeben. Sie sind föderalistisch und dezentral aufgebaut, mit lokalen Syndikaten, innerhalb derer Branchengruppen organisiert werden. Basisgewerkschaften haben keine zentrale Führungsstruktur. Entscheidend ist die Basis, die zum Beispiel in Vollversammlungen politisch aktiv ist. Es wird mit einem Delegiertensystem gearbeitet, das einem imperativen Mandat unterliegt. Gewählte Delegierte unterliegen dem Rotationsverfahren, sind der Basis gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar, wenn es stichhaltige Gründe dafür gibt. Anarcho-syndikalistische Basisgewerkschaften, ihre Branchengruppen und lokalen Syndikate können auch in einer Situation eines Generalstreiks Träger:innen der Umgestaltung und Transformation der ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen sein.
Eine heutige Gewerkschaftsbewegung – nicht nur im Pflege- und Carebereich – sollte meiner Ansicht nach klar feministisch und antirassistisch organisiert sein. Im Pflegebereich wird die Arbeit immer noch mehrheitlich von Frauen* durchgeführt. Dadurch werden patriarchale Geschlechterstereotypien reproduziert. Es gilt, auch über eine Reduktion der Lohndifferenzen hinaus die Care- und Pflegearbeit gesellschaftlich auf der Basis von Gleichberechtigung zu organisieren.(28)
Viele Menschen mit Migrationshintergrund werden immer noch bei der Jobsuche diskriminiert und haben erschwerte Bedingungen, sich beruflich fortzubilden. Auch hier muss eine Gleichberechtigung aller erkämpft werden.
Nach diesem historischen Exkurs wird deutlich: Mein Traum und Wunsch ist eine basisdemokratische Altenpflege in einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesamtgesellschaft.
Dieses ist in meinen Augen ein richtiger Weg, um Menschenwürde und gute Pflege zu ermöglichen. Ich halte dieses Ziel durch eine gewaltfreie, internationale Graswurzelrevolution für erreichbar.
Im Juni 2015 konnte durch den Pflegestreik in der Berliner Charité(29), an dem sich ca. 500 Mitarbeiter:innen, darunter schließlich auch beruflich gestresste Ärzt:innen beteiligten, erfolgreich eine Verbesserung des Personalschlüssels für Pflegekräfte erkämpft werden. Das Dilemma der dennoch zu leistenden Patient:innenversorgung, welches viele Pflegekräfte immer wieder davon abhält, langfristig und intensiv zu streiken, wurde dadurch gelöst, dass die bereits in der Klinik aufgenommenen Patient:innen weiterhin gut versorgt wurden, gleichzeitig aber durch den Streik verhindert wurde, dass neue Betten belegt werden konnten. Durch die daraus resultierenden Einnahmeausfälle wurde Druck auf die Klinikleitung ausgeübt, welche schließlich auf die Forderungen des streikenden Pflegepersonals eingehen musste. Dadurch wurde natürlich nicht das Grundproblem in Pflege und Gesamtgesellschaft überwunden, aber es wurde deutlich, dass es eine kämpferische Bewegung des Pflegepersonals geben kann, welche streikt und ökonomischen Druck ausübt, ohne dabei die Versorgung bedürftiger Patient:innen zu vernachlässigen.
Die derzeit bestehenden Gewerkschaften wie zum Beispiel ver.di stellen meiner Meinung nach nicht die an sich falsch eingerichtete Struktur der Gesamtgesellschaft in Frage. Sie sind in der Ideologie der »Sozialpartnerschaft«, also der Abwendung von Klassenkampf und grundlegender Kapitalismuskritik, verhaftet, auch wenn es innerhalb dieser Gewerkschaften immer mehr kämpferische Belegschaften gibt, die über das Bestehende hinaus denken. In den letzten Jahren sind die kleinen, basisdemokratischen Basisgewerkschaften wie die FAU gewachsen und zählen viele neue Mitglieder, die auch heutzutage als Teil der internationalen Bewegung des Anarcho-Syndikalismus mit zunehmendem Erfolg Pflegekräfte organisieren, damit diese für ihre Interessen streiten und sich das notwendige, langfristige Ziel setzen, das bestehende System zu überwinden. Die FAU hat viele neue Mitglieder, wächst also kontinuierlich und hat aktive Branchengruppen – auch im Bereich von Pflege und Sozialem.(30)
Ich wünschte, diese Bewegung und die Selbstorganisation von Pflegekräften könnte weiter an Kraft gewinnen und sich mit anderen Basisorganisationen von Lohnarbeitenden vernetzen. Auch die bei der Gewerkschaft ver.di teilweise existierenden kämpferischen Belegschaften und »Gewerkschaftslinke« müssen unterstützt werden, es gilt, Bündnisse mit ihnen einzugehen.
Ich fasse das Bild meiner Utopie folgendermaßen zusammen: Durch die Organisation eines Generalstreiks aller Lohnarbeitenden könnte der Beginn einer Transformation der Gesamtgesellschaft erreicht werden - und dadurch der Weg hin zu einer basisdemokratischen und selbstverwalteten Ökonomie in Gang gesetzt werden, welche auch eine Neuorganisation der Pflegestruktur mit einbeziehen könnte. Eine solche Transformation ist natürlich nicht an einem Tag zu bewerkstelligen. Sie benötigt einen langen Atem und eine klare, verbindliche Strukturierung sowohl der basisgewerkschaftlichen Bewegung selbst, als auch der resultierenden, neugestalteten Gesamtgesellschaft.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass in der kämpferischen Basisorganisierung von Lohnabhängigen, also auch von Pflegekräften, ein umwälzendes Potenzial liegt, und dass es ohne sie keinen Fortschritt und keine grundsätzliche Veränderungen geben kann.
Dass diese aber dringend notwendig sind, und zwar so schnell wie möglich, insbesondere angesichts der Corona-Pandemie und des Pflegenotstands, habe ich versucht, zu verdeutlichen. Vielleicht kann ich damit einen Beitrag dazu leisten, neue Denkprozesse anzustoßen, Bestehendes in Frage zu stellen und Menschen - besonders Pflegekräfte - dafür zu gewinnen, sich für eine bessere, gerechtere Welt zu engagieren und dadurch die Überwindung der momentanen Krise zu erreichen.
Mir ist ein im Eingangsbereich des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität in Berlin stehendes Zitat von Karl Marx während meines dortigen Studiums der Geschichte, Politik und Philosophie besonders in Erinnerung geblieben:
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern«.
Es ist Zeit für eine Care Revolution.
Organisieren wir uns, und fangen wir damit an.
Quellen:
Inspirierendes:
• Das Netzwerk „Care Revolution“
• Poliklinik-Syndikat (Netzwerk solidarischer Gesundheitszentren)
• Beispiel für anarcho-syndikalistische Basisorganisierung in der Pflege
• die gewaltfrei-anarchistische Zeitung und der Verlag „Graswurzelrevolution“
• die Arte-Dokumentation „Vivir la Utopia“ über den spanischen Anarcho-Syndikalismus und die soziale Revolution 1936 in Spanien (vor allem in Katalonien) - zu finden unter
Den Text könnt ihr euch auch als Broschüre bestellen und als PDF herunterladen.