Die Geschichte vom „Zerbrochenen Gewehr“


andreas-mueller
Geschichte Antimilitarismus

Das deutsche Kaiserreich: Die Gesellschaft war in weiten Teilen militarisiert, von der Schule bis zum Arbeitsplatz, Mann galt erst etwas, wenn Mann den hübschen Soldatenrock angelegt hatte. Die 1892 gegründete Deutsche Friedensgesellschaft war eine bürgerliche Friedensorganisation, die den Verteidigungs- und Sanktionskrieg aber als zulässig erachtete. Und auch die SPD als größte Oppositionspartei wollte das Militär nicht abschaffen sondern demokratisieren; sie propagierte ein „Volksheer“.

In dieser Zeit schufen sich die Anarchist:innen ein Erkennungszeichen: das zerbrochene Gewehr. Die Wochenzeitung „Der Freie Arbeiter“ der kommunistischen Anarchisten hatte es seit April 1909 bis März 1932 in der Kopfzeile, ebenso wie die niederländische „De Wapens neder“ bereits in der Januarausgabe 1909 der anarchistischen „Internationalen Anti-Militaristischen Vereeniging“ (IAMV) (1), die beide seit 1904 erschienen.

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Das Symbol des zerbrochenen Gewehrs hatte für sie einen umfassenden Sinn und ging über eine antimilitaristische Bedeutung hinaus, wie eine Leserzuschrift im „Freien Arbeiter“ im April 1927 erläuterte: „Es drückt erstens das Endziel unseres Wollens aus: die Beseitigung jeder Gewalt, die Zertrümmerung des Staates, die Erlösung vom Joch. Denn das Gewehr ist das Sinnbild der Ausbeutermacht. … Zweitens zeigt uns unser Symbol auch den Weg, der zur Freiheit führt: die Fäuste der Geknebelten müssen zupacken und das Gewehr, die Waffen des Klassenstaates jeglicher Färbung mitten durch zerbrechen. Damit ist nicht gesagt, dass sie nicht zuvor die Waffen in ihrem Befreiungskampf geführt haben, die Waffe, die ihnen die Staatsgewalt zum Brudermord in die Hand drückt. … Welches Arbeitersymbol kann sich an Fülle des Inhalts mit dem unseren messen, das wir stolz das anarchistische nennen?“(2)

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Und in der Zeitung „Junge Anarchisten“ hieß es im Juli 1926: „Das zerbrochene Gewehr ist für uns das Symbol, das wir als Proletarier durch die Mittel des revolutionären Klassenkampfes jede Gewalt, die als solche Unterdrückung bedeutet, zerbrechen müssen.“(3)

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32„Revolutionärer Klassenkampf“ bedeutete für die Anarchosyndikalist:innen allerdings die gewaltlose Revolution, die eben nicht mit Waffengewalt sondern mit den sozialen und ökonomischen Mitteln des Generalstreiks, Boykott und Sabotage, der Kombination von „direkter Aktion“ und zivilem Widerstand den herrschaftslosen Sozialismus herbeiführt, auch wenn andere Haltungen in ihren Publikationen zugelassen waren. Der Generalstreik im März 1920, der einen faschistoiden Putsch zusammenbrechen ließ, hatte ihnen die Macht des sozialrevolutionären Handelns gezeigt.(4)

So forderten die Syndikalist:innen von ihren Mitgliedern, die Anfertigung jedes Kriegsmaterials prinzipiell abzulehnen und zu verweigern. Dort, wo sie stark waren wie im thüringischen Sömmerda, gelang es ihnen, die Aufnahme der Waffenproduktion trotz vieler Maßregelungen bis in den Februar 1922 zu verhindern.(5) „Stellt Eure Kräfte nicht in den Dienst einer Industrie, die durch Euch Mordwerkzeuge herstellen lässt, die Euch morden lernt und Euch mordet! Zerbrecht die Gewehre!“, so eine Zuschrift im Freien Arbeiter im August 1927.(6)

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Es war besonders die antiautoritäre Jugend – neben Ernst Friedrich mit seinem Anti-Kriegsmuseum –, die in den 1920er Jahren für die starke Verbreitung des „Anti-Mordabzeichen“ sorgte. Es gehörte zu ihren identitätsstiftenden Eigenheiten, die gerne von älteren Genoss:innen kritisiert wurde. Im „Proletarischen Zeitgeist“, einer Wochenzeitung „von Arbeitern für Arbeiter“, berichtete ein Altgenosse von einer Konferenz der Antiautoritären in Hagen im Oktober 1927: „Da kommen sie an mit Gepolter, die Drahtkratze im grünen Sack, mit Maratfrisur, in Sanskulotten, die zerbrochene Knarre als Piepmatz auf dem Brustlatz und mimen – junge Anarchisten. … Der ist noch lange nicht Anarchist, wer sein Abzeichen zur Schau trägt … Also, eure ganze anarchistische Zeremonie alles von A bis Z Humbug … Werft den Ballast von euch – alles werft auf den Misthaufen, macht ganze Arbeit.“(7)
Als pazifistisches „Anti-Mordabzeichen“ hat es der „Anarchopazifist“ Ernst Friedrich etabliert, der es in hohen Auflagen verbreitete und damit auch sein Anti-Kriegsmuseum finanzierte: „Als große Rune für Mädchen, als Gürtelschloss für Jungens, als Abzeichen und als Krawattennadel. Diese Anti-Mordabzeichen verbreiteten sich so sehr, dass ich nicht überrascht war, selbst im Ausland, besonders in der Schweiz, viele dieser Abzeichen an Blusen und Röcken wiederzufinden. Die verschiedensten pazifistischen Verlagsanstalten und Vereinigungen brachten auf eigene Faust solche Abzeichen heraus.“ So Ernst Friedrich 1935 in seiner Schrift „Vom Friedensmuseum zur Hitlerkaserne“ über das Abzeichen, dessen Tragen schon „ein demonstratives Propaganda-Charakteristikum bildet“.(8)

Das zerbrochene Gewehr hat inzwischen seinen Siegeszug quer durch viele gesellschaftspolitischen Gruppen vollbracht. Die Pazifist:innen verwenden es, die Deutsche Friedensgesellschaft, die Kriegsdienstverweigerer, christliche Gruppierungen und viele mehr. Auf Plakaten, Buchtiteln, als Anstecknadel, Brosche oder Button, auf Transparenten oder gesprüht an Hauswänden. „Das zerbrochene Gewehr“ - so heißt die seit 1986 erscheinende Zeitschrift der „War Resisters‘ International“, der in mehreren Sprachen erscheint.

Mit „Apostolischem Segen“ ließ Papst Pius XII. im Juni 1951 dem Düsseldorfer Akademie-Professor Otto Pankok für einen Holzschnitt danken, der zum Symbol christlicher Friedensbewegungen wurde: „Christus zerbricht das Gewehr“. Mit Gewalt zerbricht er ein Gewehr über sein Knie in zwei Teile. Unterschrieben war der Brief von Giovanni Battista Montini, dem späteren Papst Paul VI.(9)

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Auch die „Internationale der Kriegsgegner“ (IdK) hatte sich neben der DFG-VK das Symbol des zerbrochenen Gewehrs zu eigen gemacht. Es thronte lange in ihren Briefköpfen, auch im Schreiben der Gruppe Groß-Dortmund vom 20. Februar 1963 an den Friedensaktivisten Nikolaus Koch, seit 1949 Mitglied der IdK, in dem sie ihm seinen Ausschluss mitteilten. Auf einer Versammlung der Arbeitsgemeinschaft Dortmunder Friedensverbände habe er zu einer Veranstaltungsplanung geäußert: „Donnerwetter, ich habe gar nicht geglaubt, dass die anarchistische IdK auch Organisationstalent entwickelt“. Das war dann der Ausschlussgrund. „Der Vorstand der IdK-Gruppe Großdortmund stellt mit dem Ausdruck ‚anarchistische IdK‘ eine Beleidigung und Diffamierung ihrer Organisation fest. Sie haben mit Ihrer Ausdrucksweise gegen die Grundsätze der IdK verstoßen und durch Ihr Verhalten in der Öffentlichkeit das Ansehen der IdK beharrlich geschädigt.“ Erst ein Jahr später nahm der Ausgeschlossene zu dem Vorwurf Stellung: „Dass die IdK es für beleidigend hält, innerhalb der Tradition des pazifistischen Anarchismus gesehen zu werden, finde ich erstaunlich“.(10) Erstaunlich, da die IdK seit ihrer Gründung anarchistischen Einflüssen unterlag und nach 1945 deutlich geprägt wurde durch ihren Vorsitzenden Theodor Michaltscheff, der zu diesem Zeitpunkt IdK-Generalsekretär und Herausgeber des IdK-Organs „Die Friedensrundschau“ war - und überzeugter Anarchist.(11)

Erich Mühsam hatte schon im April 1927 gemahnt: „Das Zeichen des zerbrochenen Gewehrs hieß damals: Zerschlagt dem Staat seine Waffen, weigert euch, sie für den Staat zu tragen!“ Den Anarchisten warf er vor: „Konservativ und verloren in holden Kindheitsträumen vergaßen sie ihre Gewehrnadeln abzunehmen, und als die Pazifisten sie ansteckten, da vergaßen sie sogar die ursprüngliche Bedeutung des Sinnbildes“.(12)

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Wie dem auch sei: ich habe meine Anstecknadel bei einem Aufenthalt in der denkmalgeschützten „Bakuninhütte“ in Meiningen erhalten und trage sie gerne in der heutigen Zeit mit dem Bewusstsein, das die anarchistische Bewegung ihr vor 120 Jahren an Bedeutung verliehen hat.

Anmerkungen

  • 1) siehe hierzu: Jochheim, Gernot: Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung. Zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie in der europäischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940, unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande, Frankfurt/M (Haag und Herchen) 1977
  • 2) Ra.: Sichel und Hammer oder zerbrochenes Gewehr, in: Der Freie Arbeiter, 20. Jg., Nr. 17, 22. April 1927
  • 3) Junge Anarchisten. Organ der Syndikalistisch Anarchistischen Jugend Deutschlands, 3. Jg., Juli 1926
  • 4) siehe hierzu: Münster, S.: Anarchosyndikalismus und Gewaltlosigkeit. Debatten und Positionen der anarchosyndikalistischen Bewegung Deutschlands zum Kapp-Putsch, in: AG Anarchismus und Gewaltfreiheit: Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution, Heidelberg (Graswurzelrevolution) 2018, S. 85-139
  • 5) siehe hierzu: Havers, Frank: Die Freie Arbeiter-Union in Sömmerda (Thüringen) von 1919 bis 1933, Magisterarbeit Bochum 1997
  • 6) „Kuli“: Zerbrecht die Gewehre!, in: Der Freie Arbeiter, 21. Jg., Nr. 34, 25. August 1928
  • 7) Ein denkwürdiger Tag für einen alten Anarchisten, in: Proletarischer Zeitgeist, 6. Jg. 1927, Nr. 47
  • 8) Friedrich, Ernst: Vom Friedensmuseum zur Hitlerkaserne, Genf/St. Gallen 1935 (Reprint Berlin [Libertad] 1978)
  • 9) siehe hierzu: Hofman, Karl Ludwig/Christmut Präger/Barbara Bessel (Hrsg.): Otto Pankok. Zeichnungen Grafik Plastik, Berlin (Elefanten Press) 1982
  • 10) Der Vorgang findet sich in: Archiv der Geschichtswerkstatt Dortmund, Ordner IdK, Schriftverkehr 1962-1969
  • 11) Die biographischen Daten zu Michaltscheff finden sich in: Degen, Hans Jürgen: „Die Wiederkehr der Anarchisten“. Anarchistische Versuche 1945-1970, Lich (AV) 2009, bes. S. 259-373
  • 12) Mühsam, Erich: Die Anarchisten, in: Fanal, 1. Jg., Nr. 7, April 1927, S. 97-104

Andreas Müller

Andreas Müller ist Teil der Geschichtswerkstadt Dortmund und Herausgeber anarchistischer Publikationen.

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