Der folgende Beitrag ist die Übersetzung eines Artikels des russischen Medienkollektivs DOXA. DOXA ist eine der wenigen unabhängigen Zeitungen in Russland und veröffentlicht trotz zunehmender staatlicher Repression regelmäßig Texte gegen Krieg, Diktatur und Ungleichheit. Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine lag der Schwerpunkt des Teams auf queeren Themen, Studierendenprotesten und antikolonialen Kämpfen innerhalb Russlands. Vielen Dank an dieser Stelle nochmal an das Kollektiv und alle anderen Beteiligten für diesen spannenden Artikel und die gute Zusammenarbeit.
Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, haben wir im letzten Jahr eine Kampagne zur Unterstützung von Genoss*:nnen in Russland gestartet. Wir konnten viele Menschen für unsere Sache gewinnen und auch eine ganze Reihe an interessanten Gesprächen zu diesem Thema führen. Eines fiel dabei immer wieder auf: Sowohl im deutschsprachigen als auch im russischsprachigen Raum gibt es einiges Wissen über die jeweils andere Seite, aber nur selten Primärquellen in beiden Sprachen. Etwas überspitzt formuliert: Wir reden zwar übereinander, aber nicht miteinander.
In unserem Bestreben, Grenzen – auch sprachliche – im Rahmen einer internationalistischen Zusammenarbeit zu überwinden, werden wir an dieser Stelle in Zukunft verstärkt Texte aus linken, antiautoritären Medien übersetzen. Dabei wollen wir einen besonderen Schwerpunkt auf solche Publikationen legen, die nicht in englischer Sprache verfügbar sind. Wir hoffen, auf diese Weise auch im deutschsprachigen Raum eher unbekannte Inhalte einem breiteren Publikum zugänglich machen zu können.
Wenn euch interessante Artikel, oder ähnliches, über den Weg laufen, schickt uns gerne einen Hinweis.
Triggerwarnung: In diesem Text wird Folter beschrieben
Lew Skorjakin ist 24 Jahre alt. Im Alter von 17 Jahren entwickelt er ein Interesse für Politik und schließt sich der sozialistischen Organisation „Linke Front“ [1] an. Schnell ist er jedoch von der Organisation enttäuscht und wird schließlich ausgeschlossen. Er geht zum „Linken Block“ [2] und beteiligt sich dort an einer Vielzahl von Aktionen. Der Anarchist wird mehrmals festgenommen und im Januar 2021, wegen seiner Teilnahme an einer Aktion nach der Gefangennahme von Aleksei Nawalny, für 30 Tage inhaftiert.
Im Dezember 2021 wird gegen Lew ein Strafverfahren eingeleitet. Er muss ingesamt drei mal in Untersuchungshaft, wird vom Geheimdienst entführt und mehrmals gefoltert. Trotzdem hat es Lew im März 2024 nach Deutschland geschafft. Iwan Astaschin hat mit ihm gesprochen und die Chronologie seiner Flucht rekonstruiert.
Am 20. Dezember 2021 entrollen mehrere Aktivist:innen vom „Linken Block“ ein Banner vor dem Eingang einer FSB Zweigstelle im Südwesten Moskaus. „Grüße zum Tag des Tschekisten!“ steht darauf. Diese Aktion, ausgerechnet am Tag der Mitarbeitenden der Sicherheitsorgane der Russischen Föderation, ist ein Zeichen der Solidarität mit allen vom Inlandsgeheimdienst Verfolgten politisch aktiven Menschen.
Drei Tage später werden drei Mitglieder des „Linken Blocks“, Umar Bolurow, Ruslan Abasow und Lew Skorjakin, verhaftet. Obwohl Skorjakin selbst nicht an der Aktion teilgenommen hat, wird ihm später vorgeworfen, er habe den Anderen den Befehl das Banner zu entrollen erteilt: „Als wäre der „Linke Block“ kein Kollektiv von Interessierten, sondern eine hierarchische Organisation mit Führungspersonen und Untergebenen“, empört sich Skorjakin, als er sich an die Verhaftung erinnert.
Aktion „Grüße zum Tag des Tschekisten!“
Die beiden volljährigen Abasow und Skorjakin werden in Untersuchungshaft genommen, während der 16-jährige Umar Bolurow freigelassen wird, nach dem er gegen die beiden Anderen ausgesagt hat. „Er hat seine Freiheit erkauft“, urteilt Lew. „Das ist nicht unsere Sache. Der Junge hat seine Wahl getroffen. Gott, oder irgendjemand da oben, soll sein Richter sein.“
Gegen Skorjakin und Abasow wird ein Prozess angestrengt, in dem ihnen „Störung des öffentlichen Friedens“ vorgeworfen wird. Dafür ist in Russland eine Freiheitsstrafe von bis zu 7 Jahren vorgesehen. Als Vorwand für die Anklage dient ein Bengalo, das die Aktivist:innen angeblich während der Aktion über den Zaun der FSB Zweigstelle geworfen haben sollen. Ein halbes Jahr später, im Juli 2022, werden beide jedoch unter Auflagen aus der U-Haft entlassen. Ihnen wird untersagt die Region Moskau zu verlassen und untereinander bzw. mit anderen Zeug*innen zu kommunizieren.
Zu dem Zeitpunkt ist Lew noch unsicher, ob er aus Russland fliehen soll. Mehrere Monate erscheint er regelmäßig vor Gericht – Eigentlich will er nicht ausreisen. Erst als der Mitangeklagte Abasow Russland verlässt, realisierte Skorjakin, dass jetzt die ganze Schuld auf ihn geschoben werden könnte. Schon bei der Festnahme hatten die FSB Mitarbeiter seinen Reisepass konfisziert. Es bestehen also nur wenige Optionen zur Flucht. Lew entscheidet sich für die Ausreise nach Kirgisistan und fäng dort an, sich um Papiere für die Ausreise in die EU zu bemühen: „Leider habe ich mir das falsche Land ausgesucht“ sagt er rückblickend.
Während Skorjakin auf seine Papiere wartet, wohnt er in Bischkek. Aus Sicherheitsgründen verlässt er seine Wohnung nur frühmorgens, oder spät am Abend. Am 9. Juni 2023 verlässt er etwas später als sonst das Haus, um einkaufen zu gehen. Es ist 9 Uhr morgens, er hat den Lebensmittelladen noch nicht ereicht, da kommt ein Polizist auf ihn zu und spricht ihn an: „Einen Moment, junger Mann, ich muss Sie kontrollieren. Darf ich Ihre Papiere sehen?“. Er nimmt ihm seinen Pass ab – den trägt er stehts bei sich – und befiehlt nach einer Weile „Kommen sie mit!“.
Erst denkt Lew, es handle sich um ein Versehen, doch dann dämmert ihm, dass er international zur Fahndung ausgeschrieben sein könnte. Später erfährt er, dass dies bereits seit März der Fall ist, die kirgisischen Behörden ihn aber vorerst in Ruhe lassen. Im Juni des selben Jahres werden dann in Bischkek Kameras mit Gesichtserkennungssoftware in Betrieb genommen. In das System werden auch Fotos von Menschen hochgeladen, nach denen in Russland gefahndet wird – Lew ist einer von ihnen.
„Ich habe mir überlegt wegzulaufen“, erzählt Lew, „aber ein paar Wochen zuvor hatte ich mich am Knie verletzt. Ich wusste, ich schaffe es einfach nicht. Ich habe noch versucht, den Beamten zu bestechen und fast wäre es mir gelungen, doch dann mischte sich ein anderer Polizist ein und sagte, dass es schon zu spät sei und Russland bereits darüber informiert sei, dass ich in Bischkek festgenommen wurde“.
Nach der Festnahme wird Lew in Untersuchungshaft genommen. Über die Haftbedingungen dort sagt Skorjakin, mit Blick auf seine Erfahrungen aus der Moskauer U-Haft: „Für die U-Haft in Bischkek spricht, dass es nur eine Überprüfung jeden Morgen gibt. Der Dienstleiter geht durch die Flure, kommt in die Zellen rein, grüßt alle, fragt, wie es uns geht und verschwindet dann wieder. Zusätzlich werden die Zellen jede Woche durchsucht, aber darüber wird man in Voraus informiert. Was dagegen spricht – die Ernährung: „Die Knastsuppe (Balanda) dort war überhaupt nicht essbar“.
Im Untersuchungsgefängnis von Bischkek werden ausländische Inhaftierte zusammen inhaftiert, unabhängig davon, was ihnen vorgeworfen wird: „Deswegen war das Kontingent dort ziemlich bunt. Wir haben miteinander überwiegend auf Englisch kommuniziert. Das da auch solche, die sowohl zentralasiatische Sprachen als auch Russisch kennen saßen, hat uns das Leben sehr erleichtert.“
Lew erinnert sich daran, dass diese Inhaftierung die Einzige war, bei der er an eine baldige Freilassung glaubte: „Es gab auch Minuten der Verzweiflung, aber die dauerten nicht lange“. Und dank der beharrlichen Bemühungen von Menschenrechtsaktivist:innen und Lew selbst verweigerte die Generalstaatsanwaltschaft von Kirgisistan nach drei Monaten tatsächlich seine Auslieferung – Der Anarchist wird freigelassen.
Um nicht die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen, verhält sich Lew nach seiner Freilassung unanfällig. Er wartet noch auf Dokumente zur Einreise in die EU, konkret: Auf einen deutschen Ersatz-Pass, dem ihm die Botschaft in Kirgisistan auf Grund seiner politischen Verfolgung ausstellen will. „Aber Anfang Oktober 2023 hat dann unsere ‚Sonne‘ Wladimir Putin Kirgisistan besucht und hiesige Sicherheitsleute sind wieder auf mich aufmerksam geworden“, erzählt Skorjakin. Am 12. Okober 2023 wird der Aktivist zusammen mit einem Genossen vor einem Hostel von einem Offizier des kirgisischen Geheimdienst (GKNB) aufgehalten. Er überprüft ihre Papiere, dann kommt ein Auto, die beiden werden festgenommen und in die GKNB Zentrale gefahren. Wie genau sie aufgespürt wurden, weiß Lew bis heute nicht – Er hat immer eine auf eine falsche Identität angemeldete SIM-Karte genutzt, und die IMEI-Nummer (Mobiltelefon Hardware Identifikator, über des sich das Gerät auch Orten lässt) von seinem Handy hätten sie auch nicht wissen können.
Der genaue Grund für die Festnahme wird zunächst nicht genannt. „Zuerst haben sie Unsinn über vorbeugende Maßnahmen bei allen hier lebenden Russen geredet. Das war aber offensichtlich Blödsinn, denn andere Russen haben auch in dem Hostel gewohnt, und niemand hat sich für sie interessiert.“ In der Zentrale des Geheimdienstes erzählt dann ein hochrangiger Offizier, es gäbe einen Hinweis gegen Lew:
Ich sollte geplant haben Putins Gipfeltreffen irgendwie zu sabotieren oder zu verhindern. Es klang komisch.
Doch auch dieses mal gelang es Skorjakin wieder auf freien Fuß zu kommen. „Mein Genosse und ich nutzten all unsere diplomatischen Fähigkeiten und haben Sie schließlich überredet, uns freizulassen. Allerdings mussten wir alle Ausweisdokumente abgeben. GKNB-Offiziere haben uns versprochen, unsere Papiere zurückzugeben, sobald Putin wieder nach Russland fliegt. Wir seien eine Bedrohung für den Gipfel und die strategische Partnerschaft zwischen Russland und Kirgisistan, deswegen sollten wir uns still verhalten“.
Lew Skorjakin (Bild: Iwan Astaschin)
Mehrere Tage lange warten die Beiden in dem Hostel darauf, ihre Papiere zurück zu bekommen. „Wir haben unsere Wohnadresse nicht gewechselt, da uns gedroht wurde, in dem Fall zurück in die U-Haft geschickt zu werden. Wir sollten telefonisch erreichbar bleiben. Der Gipfel ging zu Ende, Putin flog weg, aber niemand rief uns an.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Lew schon seinen deutschen Ersatz-Pass. Ohne seine anderen Papiere konnte er jedoch nicht ausreisen. Menschenrechtsaktivist*innen rieten ihm noch dazu, seinen Wohnsitz zu ändern, doch da war es schon zu spät – Am 16. Oktober 2023 kam die Polizei wieder: „Es war 21:30 und da ich mich an diesem Tag nicht besonders gut fühlte, entschied ich mich, ein bisschen zu pennen. Das war ein Fehler, ein sehr großer Fehler. Nach etwa anderthalb Stunden wurde ich durch ein Gespräch in meinem Zimmer geweckt. Ich machte die Augen auf, und sah, wie mein Nachbar mit einer Gruppe Polizisten in Zivil redete. Sie zeigten mir irgendwelche Dienstausweise, ich war aber so schlaftrunken, dass ich nicht genau verstanden habe, wer sie waren“.
Die Männer versprechen Lew, ihm seine Papiere zurückzugeben, wenn er mit ihnen mitfährt. Unter Druck steigt Skorjakin zu ihnen ins Auto. „Mir war sofort klar, das ist eine Auslieferung“. Mehrere Stunden wird der politische Flüchtling ohne Erklärungen durch Bischkek gefahren. „Ich habe sie direkt gefragt: „Also, liefern Sie mich aus? Oder lassen Sie mich gehen, und ich fahre jetzt gemütlich nach Hause?“. Zum Schluss machen sie noch eine Pause vor der GKNB Zentrale, wo ihnen irgendein Typ meinen Pass übergab. Dann haben sie gesagt: „Verzeihe uns, Baike (Eine Kirgisische ehrerbietige Anrede für Ältere – der ältere Bruder), wir liefern dich aus. Das sind alles halt unsere russischen Partner.“ Um mich etwas aufzuheitern, haben sie mir einen Hamburger und etwas Naswar (Kautabak) angeboten. Das habe ich natürlich nicht abgelehnt, ist doch eine gute Sache. Als ich meinte, dass ich trotzdem wütend auf sie bin, haben sie mir noch eine Schawarma angeboten. Meine Antwort, dass mir das immer noch viel zu wenig sei, hat ihnen dann wohl gereicht. Das grenze an Erpressung und ich solle zum Teufel gehen.“ Am Flughafen von Bischkek muss Skorjakin dann noch einige Stunden mit den Polizisten im Auto warten. „Etwa um 8 Uhr morgens haben sie mich dann herausgeführt und an der Grenzkontrolle ihren russischen Kollegen übergeben, die mich schließlich nach Russland gebracht haben. Keine Sicherheitskontrolle, keine Passkontrolle, nichts. Ich wurde direkt in das Flugzeug gebracht, wo ich dann gefesselt zwischen den Geheimdienstler saß. Ich dachte nur: Was für ein schönes Wetter, bei dem ich dieses Land verlasse“.
Als das Flugzeug in Moskau ankommt, nehmen die Offiziere Lews Handschellen ab. Er soll ein Video drehen, in dem er vorgibt, freiwillig zurückgekommen zu sein. Aber schon in der Ankunftshalle vom Flughafen Domodedovo warten vier Männer auf ihn: Ein Polizist und drei FSBler: „Nennen wir sie: Der Neutrale, der Böse und der Bekloppte“.
Lew wird in ein Zimmer mit Videoüberwachung gebracht. „Der bekloppte FSBler hat mir lang und breit erklärt, wie sehr er mich hasst. Ich hatte nur eine einzige Frage: „Wie spät ist es“? Dann kam der Neutrale und hat mich nach dem Passwort für mein Handy gefragt. Ich antwortete: „Lasst uns das ein andermal machen“. Der Bekloppte wollte mir eine reinhauen, aber der Neutrale hat ihn daran erinnert, dass im Zimmer eine Überwachungskamera hängt.
Dann wurde Skorjakin in ein Zimmer ohne Fenster und ohne Videoüberwachung geführt. „Der böse FSBler hat mich sofort an die Wand gestellt und angefangen auf mich einzudreschen. Es hat wehgetan. Du denkst nur an eins: Wann hört es auf? Bevor er mir irgendwelche Fragen stellte, hat er mit seinen Fäusten gründlich meine Rippen bearbeitet. Übrigens, es tut bis heute weh (Das Interview ist von Ende März 2024). Irgendwann hat er wohl gedacht, es wäre zu wenig und hat mir dann noch ein paar Mal ordentlich auf meinen Brustkorb geschlagen, ein wenig über den Solarplexus. Für etwa 40 Sekunden konnte ich nicht Atmen und fiel zu Boden. Als ich wieder atmen konnte, habe ich gefragt, warum zur Hölle er das macht?
Versteht er, dass man beim Foltern Menschen nicht zu töten versucht?
Er meinte nur „fick dich“ und hat nach Antworten gefragt. Ich erwiederte „Werden überhaupt irgendwelche Fragen gestellt?“. Worauf er antwortete: „Das Passwort, du Miststück!“. Ich fragte noch: „Welches Password, zum Teufel?“ – und habe sofort einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Er hat mich geschlagen und getreten. Nur er, die beiden Anderen haben zugeschaut. Ich habe mir ihre Gesichtsausdrücke gemerkt. Die ganze Zeit über hoffte Ich nur, das er mein Gesicht nicht so stark trifft. Mein Kiefer ist ziemlich schwach und ich habe Angst um die übrigen Zähne.
Nachdem sie mich verprügelt hatten, entschied ich mich für ein Angebot: „Okay Ihr Schweine, ich sage euch das Handypasswort, aber nicht das für die Messenger Apps“. Kurz zuvor hatte ich den Handybildschirm gesehen – 1 % Akku. Ich sagte ihnen das Passwort, sie tippten es ein. Und dann geschah ein Wunder: Der Akku hat sich entladen und in der Umgebung gab es niemanden, der ein Ladekabel für ein iPhone dabei hatte. Es war kaum zu glauben! Ich bin sicher, jeder der das liest, wird sagen: „Der spinnt“. Aber so war es wirklich“.
Sein Laptop-Passwort gab Lew ohne zu zögern preis – Er nutze das Gerät ausschließlich für Computerspiele. „Ich habe sie direkt gefragt: „Wollt ihr zocken? Ihr könnt zwischen Civilization 5 [3] und Hearts of Iron 4 [4] wählen. Da könntet ihr euren imperialistischen Ambitionen nachgehen.“
„Der bekloppte FSBler beschimpfte mich ununterbrochen. Irgendwann meinte ich: „Ich sage nichts mehr, bis dieser Typ geht.“ Der böse FSBler hat den Bekloppten dann aufgefordert, in das Nachbarzimmer zu gehen. Als er weg war, haben sie ihr trostloses Verhör angefangen und es nur ab und zu unterbrochen, um mir damit zu drohen, mich erneut zu verprügeln.
Ich fühlte mich schrecklich. Mein ganzer Körper tat mir weh und ich habe kapiert, dass sie mir bei der nächsten Runde Prügel etwas brechen würden. Also entschied ich mich dafür, ihnen ein bisschen Quatsch zu erzählen. Im Prinzip ist mir das auch gelungen. Ich habe ihnen nur Sachen erzählt, die man ohnehin im Internet lesen konnte und über die Medien berichtet hatten. Nach dem „Linken Block“ haben sie mich auch gefragt – ich habe ihnen alles erzählt, was in der Wikipedia darüber steht“.
Die Beamten interessieren sich auch dafür, wie es Skorjakin gelungen war, Russland zu verlassen: „Ich habe erzählt, das ich einen Kumpel gefunden hätte, der mich mit dem Auto in die schöne Stadt Minsk gefahren hat. Und von dort hätte ich ich mich dann verpisst. Ganz alleine und ohne Hilfe von irgendwelchen Organistionen. Aber das haben sie mir nicht geglaubt. Ich sagte ihnen: „Ich kenne niemanden. Ihr habt den Falschen entführt. Es gibt keine Organisierung in Kirgisistan“.
Sie fragten mich sogar nach „der Arche“ (eine Organisation, die russische Kriegsgegner:innen in Immigration unterstützt): Ob es wahr sei, dass Michail Chodorkowskij sie sponsere. Ich habe geantwortet: „Was fragt ihr mich? Ich gehöre doch nicht zu dieser Szene“. Insgesamt saß Lew etwa acht Stunden in dem Verhörraum im Flughafen – von 9 Uhr Morgens bis 5 Uhr Abends.
Am Abend wurde Skorjakin dann mit der U-Bahn zum Polizeiabschnitt Taganskii gebracht: „Dort sah ich die legendäre Tafel mit den Fahndungfotos. Mein Foto war neben dem von Ruslan [Abasow]. Der Diensthabende kam zu mir: „Na, warst du lange auf der Flucht? Du hättest lieber sofort zu uns kommen sollen“. Im Abschnitt war es mehr oder weniger OK. Ich habe sogar Essen bekommen, aber keine Erlaubnis zu telefonieren“. Es war schon fast Nacht, da kam die Wachmannschaft und begleitete den Anarchisten in das Untersuchungsgefängnis von Kapotnja, wo er bereits 2021, im Rahmen des ursprünglichen Strafverfahrens, inhaftiert gewesen war.
Wenn er sich an die Zeit in der Moskauer U-Haft erinnert, sagt Skorjakin, er habe „immer die Zahl Fünf vor Augen gehabt“. Fünf deswegen, weil der Staatsanwalt nach zwei Monaten eine fünfjährige Haftstrafe für ihn forderte. Lew war sich sicher, dass er diese Strafe tatsächlich absitzen sollte. „Obwohl meine Rechtsanwältin sagte, das ich auch nur mit einer Geldstrafe davonkommen könnte, wenn ich nicht klugscheiße und meine Schuld anerkenne, habe ich kaum daran geglaubt“.
Doch am 13. Dezember 2023 wurde Skorjakin vor dem Gagarinskii Kreisgericht in Moskau tatsächlich zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf Grund der bereits verbüßten Haftzeit, insgesamt hat er knapp ein Jahr in Bischkek und Moskau in U-Haft verbracht, wird er von der Zahlung befreit.
Skorjakin im Gericht, 13. Dezember 2023 (Bild: SOTA hsotaproject.com/)
Nach dem Urteil entscheidet sich Skorjakin sofort dazu auszureisen. „Diesmal habe ich mir vorgenommen auf nichts zu warten und nichts zu überdenken. Ich haue ab von hier“. Er verbringt noch eine Weile im benachbarten Ausland, dann bekommt er seine Papiere für die Ausreise in die EU.
Obwohl er formell absolut sauber vor dem russischen Gesetz ist, hat ihn die Angst entführt zu werden nicht verlassen. „Ich habe mich versteckt. Man weiß ja nie“. Nach drei Monaten Warten bekommt Skorjakin schließlich den deutschen Ersatz-Pass. Dabei hätten Ihn die Organisationen „Vyvozchuk“ und „InTransit“ unterstützt, erzählt der Aktivist.
Ich frage Lew, ob er Angst hat, wieder entführt zu werden. Er antwortet: „Also, die Sorgen mache ich mir eher keine. Ich bezweifle, dass sie mich von hier entführen. Es gab jedenfalls noch keine solche Vorfälle. Ja, es gab einige Attentate, aber ich bin zu Hause nicht so bedeutend, das sie einen Auftragsmörder schicken würden. Auf der anderen Seite, schien ich auch nicht bedeutend genug, um mich einfach aus einem anderen Land zu entführen“.
Lew Skorjakin mit Iwan Astaschin (Bild: Iwan Astaschin)
Zum Schluss bittet Lew die Leser:innen von DOXA noch: „Falls ihr Russland verlassen wollt, fahrt nicht über Kirgisistan, wählt andere Transitländer. Unterstützt die, die weniger Glück gehabt haben, die jetzt im Gefängnis sind. Und die Organisationen, die den politisch Verfolgten helfen“.
_Wir freuen uns sehr, dass Lews Flucht am Ende doch geklappt hat und wünschen allen Gefährt:innen, egal ob in Russland, oder im Exil, viel Kraft für die Zukunft!
Falls Ihr, liebe Leser:innen, solidarische Strukturen in Russland finanziell unterstützen wollt, findet ihr hier noch ein paar Links:_