In den letzten Jahren hat sich der Begriff „gegenseitige Hilfe“ in der Linken wie ein Lauffeuer verbreitet. Insbesondere wird damit eine Art von Praxis beschrieben, bei der sich kleine Gruppen von Freiwilligen zusammentun, um eine Art philanthropischen Dienst zu leisten, von der Versorgung von Obdachlosen mit Nahrungsmitteln und Decken über die Organisation von Gemeinschaftsgärten bis hin zur Reparatur der Bremslichter von Fremden, damit diese nicht von der Polizei angehalten werden. Obwohl es auch andere Aktivitäten gibt, die in diese Kategorie fallen könnten, werden wir uns auf diese Art von Dienstleistungsansätzen konzentrieren, da sie unserer Ansicht nach am repräsentativsten für diese Tendenz sind. Der Aufstieg dieser Art von Taktik zwingt uns – organisierte, soziale Anarchist:innen – zu einer kritischen Betrachtung. Wir haben zwar Verständnis für den Wunsch, aus den linken Blasen auszubrechen und „mehr zu tun“, aber wir befürchten, dass die allmählich wachsende Begeisterung für diese Ansätze nicht nachhaltig sein könnte, gerade weil sie eine Art politische Sackgasse darstellen – insbesondere, wenn sie isoliert von der breiteren Sozialpolitik betrachtet werden.
Einfach ausgedrückt ist gegenseitige Hilfe die Tendenz von Tieren – einschließlich Menschen –, zum eigenen Wohl und zum Wohle der Spezies als Ganzes zusammenzuarbeiten. Der Begriff ist am engsten mit Kropotkin verbunden, dem Anarchisten und Wissenschaftler, der sie als Hauptfaktor der Evolution identifizierte, der für das Überleben der Spezies verantwortlich ist. In diesem Sinne wandte er sich sowohl gegen optimistische Humanist:innen, die dachten, dass soziale Zusammenarbeit von einer Art selbstloser Liebe angetrieben wird, als auch gegen konservative Sozialdarwinist:innen, die Darwins Ideen über den Wettbewerb übernahmen, um die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung zu rechtfertigen und zu intensivieren. Für Kropotkin ermöglichte die Tendenz der Menschen zur Kooperation auch die Verwirklichung des anarchistischen Kommunismus. Aus wissenschaftlicher Sicht bräuchte die Menschheit keine Armeen, Polizist:innen und Kapitalist:innen, um eine funktionierende, harmonische Gesellschaft zu organisieren. Die Solidarität würde die Autorität als Kleber, der die Zivilisationen zusammenhält, ersetzen. Die wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft führe zu sozialem Chaos. Eine Gesellschaft, die auf freier Produktion und freier Verteilung beruhe, würde eine stabilere soziale Ordnung gewährleisten. In diesem Sinne wiederholte Kropotkin nur, was frühere Anarchisten wie Bakunin und Proudhon vor ihm bereits erkannt hatten. Proudhons gesamte Sozialphilosophie, die er Mutualismus nannte, konzentrierte sich auf die schrittweise Umgestaltung der Gesellschaft rund um das Prinzip der Gegenseitigkeit, der Reziprozität. Der Begriff selbst war von einem radikalen Arbeiter:innenkreis in Lyon übernommen, der sich „Mutuellistes“ nannte .
Mit der Entwicklung des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte sich auch die Arbeiter:innenbewegung. Gewerkschaften traten dabei in den Vordergrund, als wichtigster Ausdruck dessen, was Arbeiter:innen erreichen konnten, wenn sie sich zum Wohle ihrer Klasse zusammenschlossen. Die Gewerkschaften waren jedoch nicht die einzige Art von Institution der Arbeiter:innenklasse. Jahrzehntelang waren die kämpferischen Gewerkschaften eng mit Genossenschaften, Kreditgenossenschaften und Hilfsvereinen verbunden.
Obwohl sie aus verschiedenen Gründen inzwischen an Bedeutung verloren haben, waren diese friedlichen Institutionen jahrzehntelang ein zentraler Bestandteil der Arbeiter:innenbewegung, sowohl in ihrer radikalen als auch in ihrer reformistischen Form. In Ermangelung einer qualitativ hochwertigen und bezahlbaren Gesundheitsversorgung schlossen sich Arbeiter:innen zusammen und spendeten jeden Monat einen Teil ihres Lohns, um medizinisches Personal zu beschäftigen. Ähnlich verhielt es sich mit den hohen Preisaufschlägen lokaler Geschäftsleute auf Konsumgüter. Arbeiter:innen gründeten Konsumgenossenschaften, um von den Großhandelspreisen zu profitieren und ihre Mitglieder zu niedrigeren Preisen mit Waren versorgen zu können.
In der modernen radikalen Sprache bedeutet gegenseitige Hilfe einfach eine Art der Leistungserbringung, die sich in gewisser Weise von den gängigen Methoden der Leistungserbringung – Wohltätigkeit und staatliche Hilfe – unterscheidet. Ein Artikel von Cate Root in Current Affairs von Oktober 2020, der den aktuellen Diskurs exemplarisch beschreibt, besagt, dass es „unzählige Beispiele für gegenseitige Hilfe unter Menschen in der modernen Welt gibt: Abtreibungsfonds, Kautionsfonds, Rechts- und Zwangsräumungsschutz auf Basisebene, Katastrophenhilfe und Nahrungsmittelverteilung, um nur einige zu nennen“. Während die großen NGOs und Regierungen bürokratisch, von oben nach unten und manipulativ sind, sind die neuen Selbsthilfegruppen horizontal, von unten nach oben, stärken die Gemeinschaft und bringen die Bedürfnisse der Gemeinschaft wirklich zum Ausdruck. Oft zeichnen sich die Selbsthilfegruppen durch demokratische Strukturen aus, wie Konsensprotokolle für Entscheidungen, das Fehlen einer bezahlten Führung und die regelmäßige Rotation gewählter Positionen. Sie haben in der Regel kein bezahltes Personal. In diesem Zusammenhang wird Selbsthilfe am häufigsten mit „Wohltätigkeit“ kontrastiert; Selbsthilfe ist gut und radikal, Wohltätigkeit dagegen schlecht und konservativ.
Einfach ausgedrückt werden die meisten Hilfsorganisationen ihrem Namen nicht gerecht. In den allermeisten Fällen bricht die gekünstelte Unterscheidung zwischen Wohltätigkeit und gegenseitiger Hilfe zusammen. Nur wenige sind wirklich gegenseitig in dem Sinne, dass sie ein hohes Maß an Gegenseitigkeit beinhalten – ein Maß an Geben und Nehmen. Diese Gruppen handeln in erster Linie im Interesse anderer Menschen. Eine Organisation wirklich gegenseitig zu machen, ist keine leichte Aufgabe, insbesondere wenn sich die meisten Menschen nur an solche Organisationen wenden, um ein Problem zu lösen, mit dem sie gerade konfrontiert sind, sei es ein Mangel an Nahrungsmitteln, nicht bezahlte Löhne oder was auch immer. Sobald das Problem gelöst ist – oder wenn die Gruppe nicht helfen kann – neigen die Menschen dazu, sich zurückzuziehen.
Diese Haltung unter den Arbeiter:innen ist ein Nebenprodukt des unglaublich rücksichtslosen kapitalistischen Regimes, in dem wir leben, wo Solidaritätsinstitutionen wie Gewerkschaften mit Gewalt oder durch ihre Integration in das System zerschlagen wurden. Die Menschen fühlen sich unglaublich voneinander abgekoppelt und erleben ihre Beschwerden – wie Misshandlungen am Arbeitsplatz – als Individuen, nicht als Kollektiv. Sie glauben, dass ihr einziger Ausweg darin besteht, härter zu arbeiten und irgendwie die Karriereleiter hinaufzuklettern. Im schlimmsten Fall glauben die Arbeiter:innen, dass ihr Versagen, solche Dinge zu erreichen, auf ihre eigene Unwissenheit oder Unfähigkeit zurückzuführen ist. Ein solches Umfeld erzeugt Reaktionen. Um diese Art von Ethik zu brechen, müssen die Arbeiter:innen Vertrauen in die anderen Mitglieder ihrer Klasse und in die Institutionen haben, die sie vertreten. Der Aufbau dieses Vertrauens ist ein schrittweiser Prozess und es gibt keine klaren, einheitlichen Strategien, aber es ist schwer zu erkennen, wie die isolierten „gegenseitigen Hilfsprojekte“ uns dabei helfen sollen, dieses Ziel zu erreichen.
Der Großteil der heutigen Selbsthilfegruppen konzentriert sich auf die Bereitstellung von Dienstleistungen, sei es Lebensmittel, Rechtsbeistand oder das Auswechseln eines Bremslichts an ihrem Auto. Der Wunsch, dies kontinuierlich und in großem Umfang zu tun, setzt die Gruppe unweigerlich unter Druck, sich praktisch selbst zu mäßigen – um die Unterstützung der Gemeinschaft zu sichern, auf die sie angewiesen sind, neigen Dienstleistungsorganisationen dazu, die Probleme, die sie lösen möchten, zu entpolitisieren. Obwohl dies bei etablierten NGOs, die auf Unternehmensspender und staatliche Zuschüsse angewiesen sind, am deutlichsten ist, werden auch die kleineren Selbsthilfegruppen unter demselben Druck stehen. So neigen etwa Nichtregierungsorganisationen in der Flüchtlingsbewegung dazu, sich zu moderieren, um ein breites Spektrum an Geldgebern anzuziehen. Sie stellen die schlimmsten Probleme der Flüchtlinge als vorwiegend humanitäre Probleme oder als Folge mangelnder Empathie dar – statt als die bewussten, kalkulierten politischen Projekte, die sie tatsächlich sind. Während dies bei großen, konservativen NGOs, die auf Unternehmensspenden und staatliche Zuschüsse angewiesen sind, am deutlichsten ist, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass radikale Selbsthilfegruppen von diesem Druck ausgenommen wären. Eine Gruppe, die gezwungen ist, sich auf „die Gemeinschaft“ zu verlassen, um handeln zu können, wird natürlich Schwierigkeiten haben, „die Gemeinschaft“ praktisch zu kritisieren. Wenn sie an einem Projekt beteiligt sind, bei dem überschüssige Lebensmittel von lokalen Gemüsehändler:innen umverteilt werden, werden sie natürlich zögern, besagte Gemüsehändler:innen beispielsweise für die Ausbeutung ihrer Mitarbeiter:innen zu kritisieren, und sie werden wahrscheinlich nicht offen die Rolle des Kleinbürgertums kritisieren, das den Arbeiter:innen das Leben schwer macht.
Die Dienstleistungstätigkeit selbst neigt dazu, die Sozialist:innen, die sich daran beteiligen, zu deklassifizieren . Appelle an die Arbeiter:innenklasse, ihre eigene latente Stärke zu erkennen, werden durch Spendenaufrufe an die Gemeinschaft ersetzt; entweder wird die Definition der Arbeiter:innenklasse erweitert, um alle möglichen Unterstützer:innen außerhalb der Arbeiter:innenklasse abzudecken, oder sie wird auf populistische, harmlose Weise wiedergegeben. Für Stalinist:innen und andere, die mit „Volksfronten“ mit verschiedenen Teilen der Bourgeoisie zufrieden sind, mag dies kein Problem sein, für Sozialist:innen mit Ansprüchen ist es das jedoch. Anmerkung von der Übersetzung: Hier wurde ein Abschnitt ausgelassen, der sich speziell mit Projekten gegenseitiger Hilfe in Australien beschäftigt.
Die gravierendste praktische Auswirkung von Dienstleistungsgruppen besteht darin, dass sie der grundlegenden sozialistischen Kritik am Kapitalismus entgegenwirken. Beim Sozialismus geht es nicht einfach darum, den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen oder ihr Leben zu verbessern; obwohl es selbstverständlich ist, dass das Leben der Menschen in einer kommunistischen Gesellschaft exponentiell besser wäre. Kurz gesagt geht es beim Sozialismus darum, die Quelle des Elends der Menschen im Kapitalismus und in der systematischen Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse zum Nutzen des Kapitals ausfindig zu machen; dementsprechend ist es unsere oberste Priorität, uns für dessen Abschaffung einzusetzen. Unsere Strategien konzentrieren sich auf dieses Ziel – die Fähigkeit aufzubauen, das Regime des Privateigentums zu stürzen und durch den Kommunismus zu ersetzen.
Natürlich bringt dieser Prozess auch Verbesserungen der Lebensbedingungen mit sich: Streiks werden gewonnen, um bessere Löhne zu erwirken, Kommunen werden gezwungen, Grünflächen und Gemeindezentren bereitzustellen, Vermieter:innen werden daran gehindert, Mieter:innen zu vertreiben und so weiter. Es sollte auch selbstverständlich sein, dass die Bereitstellung von Mahlzeiten für Obdachlose niemals eine schlechte Sache ist, egal ob man Katholik:in oder Stalinist:in ist; nirgendwo in diesem Artikel behaupten wir etwas anderes. Der grundlegende Fehler besteht unserer Ansicht nach darin, Verbesserungen der Lebensbedingungen als Selbstzweck zu betrachten und damit jede ernsthafte Strategie zunichte zu machen. Sie sind nur insoweit strategisch wertvoll, als sie die Arbeiter:innenklasse stärken und es ihr ermöglichen, im Kampf gegen den Kapitalismus voranzukommen.
Bei der Entwicklung einer Strategie für Sozialist:innen in unserer Region müssen wir über zwei Dinge nachdenken: Erstens, wie wir den „gegenseitigen“ Teil der „gegenseitigen Hilfe“ ernst nehmen können, und zweitens, wie Spendensammlungen und wohltätige Projekte wie Rechtsbeistandsfonds Teil einer allgemeinen Strategie für die Rebellion der Arbeiter:innenklasse sein können. Was bisher jedoch klar ist, ist, dass wir nicht neben dem Kapital sitzen können, geschweige denn positiv mit ihm zusammenarbeiten können. Die Idee, eine sozialistische Gesellschaft lediglich durch den Aufbau einer „Gemeinschaftsmacht“ aufzubauen, bis sie den Staat unterdrücken kann, ist bankrott – dem Kapital muss entgegengetreten werden. Wir können unsere Zeit mit nichts anderem verschwenden.
23.06.2021 – Mutiny – Black Flag Sydney
Originaltext: Hier zu finden
Übersetzung: Compass