Bald ist Bundestagswahl. Was jetzt?


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Aktuelles Wahlen Bundestag Parlamentarismus

Die 21. Bundestagswahl steht an. Nachdem die Ampel-Koalition sich über die Frage „Wie viel Neoliberalismus wollen wir wagen?“ erfolgreich selbst zerfleischt hat, Olaf Scholz das Vertrauen entzogen und der Bundestag aufgelöst wurde, gibt es am 23. Februar Neuwahlen. Nun sind wieder alle volljährigen deutschen Staatsbürger:innen in gewohnter parlamentarischer Manier zur „demokratischen Mitbestimmung“ aufgerufen. Dass Wahlen im parlamentarischen Kapitalismus ein Tropfen auf den heißen Stein des staats- und kapitalpolitischen Machtapparats sind, brauche ich hier nicht groß und breit ausführen. Nur so viel: der Kapitalismus wird sich nicht über das Kreuzchen auf dem Wahlzettel abschaffen lassen (Es wäre ja nicht im Kapitalinteresse, einen so leicht erreichbaren Selbstzerstörungsknopf in ihrem System zu haben). Auch die Einführung eines politischen Systems, welches tatsächlich den Willen der Bevölkerung widerspiegelt, ist auf parlamentarischem Wege, vor allem im Kapitalismus, nicht zu erreichen.

Wenn wir als Anarchist:innen also eine dezentral organisierte, basisdemokratische und sozialistische Gesellschaft wollen, bringt uns der Parlamentarismus nicht an unser Ziel. Warum es in meinen Augen dennoch in unserem persönlichen Interesse und im Interesse der Bewegung ist, an parlamentarischen Wahlen teilzunehmen, will ich im folgenden Text erklären.

Dass Wahlen uns nicht wirklich näher an eine anarchistische Gesellschaftsordnung bringen, habe ich ja bereits kurz erklärt. Das bedeutet allerdings überhaupt nicht, dass Wahlen keine signifikanten Änderungen der gesellschaftlichen Ordnung herbeiführen können. Signifikante Veränderungen, die auf parlamentarische Wahlen folgen, sind jedoch nie im Interesse der anarchistischen Bewegung oder der Arbeiterklasse. Sie sind immer in irgendeiner Form pro-kapitalistisch oder fördern die Monopolisierung der gesellschaftlichen Macht auf eine andere Weise, die die Kapitalinteressen dabei aber nie bedroht. In der Geschichte gibt es einige solcher Beispiele. Die prominentesten sind wohl die Reichstagswahl im Januar 1933 mit der anschließenden Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die Wahl von Javier Milei zum argentinischen Präsidenten im November 2023 oder jüngst die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im November 2024.

Alle drei Wahlen waren parlamentarisch, liefen ohne Vorwürfe von Wahlbetrug ab und sind somit in den Augen des Parlamentarismus normale und tolerierbare politische Entwicklungen. Dennoch waren bzw. sind als Konsequenz dieser Wahlen extreme Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens zu beobachten: Arbeiterrechte wurden bzw. werden eingestampft, jahrzehntelange durch außerparlamentarischen Kampf erstrittene Progression rückgängig gemacht, Ausbeutung auf neue Niveaus gehoben, Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten und politisch Andersdenkenden signifikant ausgeweitet und staatliche Zensur und Propaganda drastisch erhöht. Das alles geschah und geschieht im Parlamentarismus als direkte Konsequenz aus Wahlen. Wenn Wahlen Quantensprünge in der Lebensrealität der Arbeiterklasse oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen bewirken, dann sind es ausnahmslos negative.

Diese parlamentarische Dynamik lässt sich in einer Faustregel zusammenfassen: Folgt eine parlamentarische Reform dem Kapitalinteresse, kann sie unter Umständen gigantisch sein. Richtet sich eine parlamentarische Reform gegen das Kapitalinteresse, wirkt sie niemals gegen das System an sich, kann zudem nur klein sein und muss irgendeine Form von Appeasement der Kapitalistenklasse mit sich bringen.

Ein Grund, als Anarchist:in wählen zu gehen ist, diese gigantischen pro-kapitalistischen Reformen vielleicht zu verhindern. Wenn CDU und AfD die absolute Mehrheit im Bundestag gewinnen, dann drohen uns ebenfalls signifikante Verschlechterungen der Lebensrealität und damit einhergehend auch kapazitäre Einbußen für unsere außerparlamentarische politische Organisationsarbeit. Bei den meisten anderen Koalitionsoptionen verschlechtern sich die Lebensbedingungen für uns Arbeitende ebenfalls, wenn auch nicht so drastisch. Die Grenze zwischen Reformen im Kapitalinteresse und Reformen dagegen verläuft derzeit irgendwo quer durch die Wahlprogramme von SPD und Grünen. Die einzige Partei, die Chancen auf den Einzug in den Bundestag und damit auf realpolitische Macht hat und gleichzeitig ausschließlich Reformen entgegen dem Kapitalinteresse fordert, ist die Linke. Wie oben dargestellt, dürfen wir uns von der Linken jedoch nicht mehr als minimale Progression erhoffen. Dazu kommt, dass die Forderungen der Linken im sehr unwahrscheinlichen Falle einer Regierungsbeteiligung zusätzlich von SPD und Grünen verwässert würden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Linke in der Opposition bleibt und von dort aus zumindest ein öffentlichkeitswirksames Organ zur Verbreitung linker Positionen sein kann. Die wirklich sehr geringe Macht, die wir als kleine anarchistische Bewegung im parlamentarischen System derzeit haben, können wir jedoch diese Bundestagswahl dazu nutzen, der Linken vielleicht über die 5%-Hürde zu helfen und so ein geschlossen im Kapitalinteresse handelndes Parlament zu verhindern. Uns kostet der Wahlgang ein paar Minuten Zeit, der Aufwand ist also überschaubar. Der direkte Nutzen zwar auch, der indirekte Nutzen durch die eventuelle Verhinderung eines geschlossen pro-kapitalistischen Bundestages kann jedoch verhältnismäßig groß ausfallen.

Wenn ich also am 23. Februar in mein örtliches Wahlbüro gehe, dann werde ich die Linke wählen. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus. Ich erwarte fast nichts, opfere ein paar Minuten meiner Lebenszeit und habe im Falle des Einzugs der Linken in den Bundestag einen Nutzen, der die paar Minuten geopferte Lebenszeit übersteigt. Ich wähle nicht, weil ich mir etwas vom Parlamentarismus erhoffe; ich wähle, weil ich um die Widerwärtigkeit dieses Systems weiß.

Abschließend will ich noch einen Ausblick in die Zukunft wagen. Wenn die anarchistische Bewegung in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bedeutend größer werden sollte (was ich natürlich hoffe), dann wird neben dem potentiellen anarchistischen Stimmenanteil bei den parlamentarischen Wahlen auch die staatliche Repression steigen. Gerade dann, wenn die anarchistische Bewegung anfängt, eine wirkliche Eigendynamik zu entwickeln, ist es im Interesse der gesamten Bewegung, eine kulante Regierung zu haben, die uns in unserem Aufbau einer besseren Gesellschaft erst zu einem späteren Zeitpunkt und in geringerer Intensität mit Repression überzieht.

Wenn wir hier und heute dafür sorgen, dass es als sinnvoll angesehen wird, als Anarchist:in wählen zu gehen, dann wird das uns in der Zukunft die Organisationsarbeit erheblich erleichtern. Wir müssen bedenken, dass wir in einer wachsenden anarchistischen Bewegung diejenigen sein werden, von denen sich die neuen Genoss:innen in ihrem Verhalten inspirieren lassen werden. Wenn wir ihnen vorleben, dass der Parlamentarismus zwar verdammt scheiße ist und nie in unserem direkten Interesse handeln wird, aber eine opportunistische Wahlentscheidung die Bewegung erheblich entlasten kann, dann werden das die neuen Genoss:innen wahrscheinlich übernehmen, was dem Anarchismus auf vielen Ebenen nützt.

In der Hoffnung, dass es sich in Zukunft auszahlt, rufe ich hiermit alle wahlberechtigten Anarchist:innen zum opportunistischen Wählen auf: der einzigen Form der parlamentarischen Teilhabe, die einer zukünftigen Revolution zugute kommt.

DreiKaeseHoch

DreiKaeseHoch kommt aus Baden-Württemberg und ist erst seit Kurzem Anarchist. Aufgrund seiner recht turbulenten Lebenslage ist er derzeit nicht organisiert, beteiligt sich aber stattdessen an Übersetzungen für anarchismus.de und schreibt Texte über aktuelle Themen aus anarchistischer Perspektive. Derzeit arbeitet er als FSJler in einem Waldkindergarten.

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