Zum 1. Mai!


Helge Doehring
Anarchosyndikalismus Geschichte

[1927 von Karl Gültig, Offenbach]

Woche um Woche und Monat für Monat ist das Proletariat in den Dienst macht- und habgieriger Ausbeuter gestellt. Geistlose, schwere Arbeit, die Plagerei mit den Aufsehern und dem immer wieder Heimkommen und Aufstehen, ohne Abwechselung zu tätigen, sei es, dass die Arbeitslosigkeit diesem Leben einen anderen Rhythmus gibt, der größere Entbehrungen und Elend in das schon ausgepowerte Leben der Proletarier trägt. Wie der Novemberregen, ohne Höhen und Tiefen, ohne Licht, alles in einen grauen Nebel eingesponnen gleich dem, ist das Leben des Proletariats.

Nicht nur die von den Machthabern aufgezwungenen Verhältnisse ersticken jeden Funken einer Lebenserneuerung, sondern die Enttäuschung und den Verrat, den das Proletariat erleben mußte, von Seiten der Arbeiterführer, von Anbeginn der Arbeiterbewegung. Und heute am 1. Mai, dem Weltfeiertage des Proletariats, ist es die vornehmste Aufgabe der proletarischen Jugend, in der Geschichte der Klassenkämpfe einen Rückblick zu halten, um die Fehler, welche die Ursachen der gegenwärtigen Ohnmacht der Arbeiterklasse gewesen sind, kennen zu lernen. Schon auf dem Kongreß 1889 in Paris, auf welchem man sich einigte, den 1. Mai als Weltfeiertag des Proletariat zu begehen, gab man klar zu erkennen, welchen Charakter diesem Tage zugrunde gelegt werden sollte. Der von dem Französischen Delegierten Lavigne gestellte Antrag besagte nichts weiter, als durch die Demonstration des Proletariats die Forderung, wie 8-Stundentag und soziale Gesetzgebung, von den Behörden zu erlangen. Es spricht aus diesem Antrag der staatl. reformierte Geist, vom sozialen Generalstreik ist kein Wörtchen zu finden.

Die Pioniere dieser Ideen eines Weltfeiertages, an welchem alle Räder still stehen sollten, waren unsere anarchistischen Genossen, welche am 1. Mai 1886 in Chikago jenen gigantischen Kampf für den 8-Stundentag, den Generalstreik der Arbeiterschaft Chikagos entfachten. Doch unterließ es die Bourgeoisie nicht, sich eine rechtl. Grundlage zu schaffen, zu der ihr jede gemeine Lüge recht war, um fünf der begeistertsten Kämpfer und Anarchisten durch den Henker zu Falle zu bringen. Ein Kampftag war jener 1. Mai, der alle Welt in Erregung brachte, und mit dem Blute fünf der edelsten Kämpfer von der Bourgeoisie beantwortet wurde. Kämpfen und opfern musste das Proletariat und diese Märtyrer von Chikago gilt es noch zu rächen. Jungproletariat seid bereit!

Haymarket1887.jpg Haymarket Märtyrer 1887

Doch aus diesem Kampftag, welcher der 1. Mai sein sollte, hat man nun, einen Festtag gleich denen, wie sie jeder gutgesittete Bürger begeht, gemacht. Mit Pauken und Trommeln, als beging ein Kriegerverein sein Stiftungsfest, ziehen die Arbeiterparteien zu einem schon dazu hergerichteten Platze, um sich dort zu einem Saufgelage niederzulassen. Es gilt, den durch die Rationalisierung abgetöteten Geist, vollends mittels des Staatsgiftes Alkohol, zu vernichten.

Aber mit eiserner Logik ging die Entwicklung der Arbeiterbewegung ihren Weg. Die Zusammenkunft 1889 der Delegierten zu Paris, welche den Weltfeiertag beschlossen, hatte sich den Weltfeiertag nur als Vorspanngaul für eine wirksame internationale Arbeiterschutzgesetzgebung gedacht. Man war zu sehr in den Parlamenten der einzelnen Staaten verankert, und die sozialdemokratischen Abgeordneten hatten Angst um den Verlust einiger Wähler, wenn man den 1. Mai als das, was er sein sollte, eine Manifestation der revolutionären proletarischen Kraft und Energie, auftragen würde.

Man verkuppelte die Arbeiterinteressen mit den Staatsinteressen und lieferte somit die Werktätigen dem größten Räuber und Vampyr Staat aus. Der Staat, welcher seiner ganzen Struktur nach, mag er in dem Gewande der Monarchie, Demokratie oder Arbeiter- und Bauernstaat in Erscheinung treten, immer die eine Aufgabe hat, die Klasse der Bevorrechtigten zu schützen, und seien es die Privilegien einer Partei, wie in Russland. Der Staat kann nie dazu dienen, den Ausgebeuteten Recht und Schutz zu gewähren. Er hat die Aufgabe, die dreimal heiligen Rechte des Privateigentums zu schützen, und wird jede Auflehnung gegen das Privateigentum blutig niederschlagen.

Die syndikalistisch-anarchistische Jugend, sieht ihre vornehmste Aufgabe vor allem darin, den 1. Mai wieder zu einem Kampftag werden zu lassen, gegen die Staaten aller Länder und die kapitalistischen Ausbeutungssysteme. Unser Wirken geht dahin, den 1. Mai als eine Manifestation für die direkte Aktion und der sozialen Revolution zu entfachen. Wir wollen nicht bitten um das Streikrecht, sondern wir Junge wollen uns das Recht zum Kampf nehmen ohne lange Bittgesuche bei Väterchen Staat.

Der Lebensnerv der kapitalistischen Gesellschaft liegt in den Produktionsstätten und dort gilt es, den Kampf zu beginnen. Dieser Kampf kann nicht von parlamentarischen Schönrednern geführt werden, sondern von den produktiv tätigen Massen im Betriebe gemeinsam mit den Stempelbrüdern. Umso gefürchteter sind natürlich diese Massenbewegungen der Arbeiter, je mehr sie die Lebensinteressen der herrschenden Klassen berühren. Und diese Lebensinteressen sind vor allem ihre Machtbefugnisse über die Armeen von Arbeitern, ihre Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion. Verliert die Bourgeoisie diese Reche, so geht ihre ganze Macht und Herrlichkeit zu Grabe. Herr der großen riesenhaften entwickelten Produktionsmittel, absoluter König der Werkstätten und Fabriken, kann die Bourgeoisie alle formalen praktischen Reche, welche der Staat den Arbeitern gibt, belächeln. Hält er doch den Arbeiter, der ihm seine Arbeitskraft verkaufen muß, vollkommen am Gängelband.

Die ökonomische Machtstellung der Bourgeoisie kann nicht durch die soziale Gesetzgebung beschnitten werden. Unsere gegenwärtige Zeit ist uns ein beredtes Beispiel, welchen Leidensweg das Proletariat zu gehen hat, wenn es auf die soziale Gesetzgebung hofft, welche die Arbeiterparteien mittels parlamentarischer Aktionen zu bringen versprechen. Der 8-Stundentag steht nur noch auf dem Papier, währenddessen die Arbeitslosigkeit immer größere Formen annimmt, wird auf der anderen Seite der 10- und 12-Stundentag eingeführt. Die jugendlichen Erwerbslosen müssen, damit sie die staatl. Disziplin sich einprägen und das Hungerdasein vergessen, wöchentlich zu den Pflichtkursen.

Wohl erhebt sich die Jugend in den einzelnen Städten gegen die Pflicht, doch werden sie vollkommen dem Verhungern preisgegeben, indem man ihnen die Unterstützung entzieht. Alle Hoffnungen der Jungproletarier, dass die Gewerkschaften A.D.G.B. [„Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund“, Vorläufer des heutigen DGB] sich diesem Kampfe annehmen werden, müssen zunichte werden, wenn man weiß, dass die Interessen des A.D.G.B. nicht die der proletarischen Klasse sind. Diese soziale Gesetzgebung und das freie Wahlrecht der Arbeitsgemeinschaft der Gewerkschaft mit dem Kapital, dieser Kampf am grünen Tisch um Ministersessel und Diäten, führt die Arbeiterklasse dem Untergang immer näher.

FAU1998.jpg FAU Bremen zum 1. Mai 1998

Schon zeigen sich am weltpolitischen Horizont schwere Gewitterwolken, die zur Entladung zu einem furchtbaren Weltkriege drängen. Noch steht die Arbeiterbewegung in Lethargie all diesem Weltgeschehen gegenüber. Alle Hoffnungen auf den Völkerbund und der Glaube an die Friedensschalmei der Sozialdemokratie und des A.D.G.B., dass sie einem neuen Völkerschlachten einen Damm entgegensetzen könnten, ist nur ein leerer Wahn. Das Ziel dieser Bismarcksozialisten verändert sich je nach den gegebenen Verhältnissen.

Um in dieses dunkle Zukunftahnen der Arbeiterschaft Licht zu tragen, ist vor allem notwendig, dass das Proletariat diese Knechtseligkeit aufgibt, die einen großen Teil Schuld an den jetzigen Zuständen trägt. Diesem blinden Gehorsam den Führern gegenüber hat das Proletariat seine eigene Urteilskraft geopfert. Die syndikalistisch-anarchistische Jugend sieht vor allem ihre Aufgabe darin, in die Reihen des Jungproletariats Erkenntnis zu tragen, dass Führer und Politikanten hier nicht zu helfen vermögen. Wir bekennen uns zum schärfsten Klassenkampf, da uns die Geschichte beweist, dass nur durch den Kampf den Unterdrückten Recht entstanden ist.

Gerade die Jugend, welche am meisten unter dem fluchwürdigen System zu leiden hat, muß beweisen, dass sie gewillt ist, den Geist der Revolution zum Licht zu bringen. Sie hat die Pflicht, so viel als möglich die Zusammenhänge der jetzigen Knechtschaft zu erforschen und bewusst sich mit den Kampfesmitteln (sozialer Generalstreik usw.) und der neuen Gesellschaftsordnung, welche wir erstreben, vertraut zu machen. Damit in der Zukunft es bürgerlichen Schönrednern nicht mehr gelingen wird, aus der Arbeiterbewegung einen Spielball der herrschenden Klasse zu machen.

Am 1. Mai dieses Jahres wollen wir mit dem Teil des erwachsenen Proletariats uns zu dem gemeinsamen Kampf verbinden, für die Verkürzung der Arbeitszeit, für die internationale Verbrüderung der Völker gegen die Staaten aller Länder und den Militarismus.

Wir wollen uns am 1. Mai 1927 zur Aufgabe stellen, unsere ganze Kraft dafür einzusetzen, die Idee des sozialen Generalstreiks, welche die geeignetste Kampfeswaffe gegen den Krieg und Kapitalismus ist, in die Massen des Proletariats zu tragen.

Damit endlich der Tag der sozialen Revolution der Maientag der Völker werde und auf den Trümmern der alten Welt, eine neue Ordnung, Anarchie erstehe.

K[arl].G[ülti]g.

img480.jpg Aus: „Junge Anarchisten“, Mai 1927

Was war die SAJD?

Die 1921 gegründete Syndikalistisch-Anarchistische Jugend Deutschlands (SAJD) war den Prinzipien des kommunistischen Anarchismus nach Peter Kropotkin verpflichtet und vor allem auf dem politischen und kulturellen Sektor für den Anarcho-Syndikalismus tätig. Sie gab sich ein entsprechendes Programm und vereinte Mitte der 1920er Jahre mehrere Tausend Mitglieder. Vor allem dort, wo auch die „Freie Arbeiter-Union Deutschlands“ (FAUD) ihre organisatorischen Schwerpunkte hatte, an Rhein und Ruhr, Rhein-Main-Neckar, Berlin, Thüringen und in Sachsen. Mit der FAUD stand sie in freundschaftlichem Kontakt und war organisatorisch selbständig. Sie gab eigene Zeitungen („Junge Anarchisten“, „Die junge Menschheit“) mit mehreren Tausend Exemplaren Auflage heraus. Dort propagierte sie die Ideen des Anarchismus und Syndikalismus. Als Ziel wurde u.a. die Synthese zwischen Kulturbewegung und Gewerkschaftsarbeit (Syndikalismus) formuliert. Die SAJD hielt reichsweite und regionale Kongresse ab. Prominenter Reichskongressteilnehmer war Mitte der 1920er Jahre der spätere SPD-Politiker Herbert Wehner. Aus dieser Jugendorganisation erwuchsen der FAUD viele bedeutende Funktionäre, beispielsweise Helmut Rüdiger, Gerhard Wartenberg oder Reinhold Busch sowie manche Spanienkämpfer. Die SAJD befand sich seit 1933 in der Illegalität.

Zur SAJD siehe Helge Döhring: Kein Befehlen, kein Gehorchen! Die Geschichte der syndikalistisch-anarchistischen Jugend in Deutschland seit 1918, Bern 2011.

https://syndikalismusforschung.wordpress.com/2013/06/14/radiointerview-und-besprechung-zum-buch-kein-befehlen-kein-gehorchen/

Zur Zeitschrift „Junge Anarchisten“ siehe:

http://www.syndikalismusforschung.info/presse/junge_anarchisten.htm

JungeAnarchistenNummer41930.jpg Aus Junge Anarchisten, Nummer 4 1930

Zeitung-Junge-Anarchisten-Mai-1931.jpg Zeitung Junge Anarchisten Mai 1931

Karl Gültig (1906-1992), Offenbach

DieAnarchoSyndikalistInnen.jpg V.l.n.r. die Anarcho-SyndikalistInnen Karl Gültig, Georg Usinger, Anni Hepp, Georg Hepp, ca. 1984-85, Foto Anarchiv, Neustadt Weinstraße

Karl Gültig kam 1923 als Jungkommunist zur SAJD und wurde dort schnell ein führender Repräsentant der anarcho-syndikalistischen Jugend, aber auch der Erwachsenenbewegung. Er war aktiv im Freidenkertum, mit Versammlungen, Bildung, Lesungen, Propaganda, Kampagnen, besonders zum Antimilitarismus und durch enge regionale Verbindungen zu anderen Gruppen. Karl Gültig, der als Dachdecker und Schreiner arbeitete, wurde zu einem wichtigen Träger der Bewegung, besonders als Organisator und Redner. Er war Kongressdelegierter für mehrere Ortsvereine der FAUD. Von Teilen der anarcho-syndikalistischen Bewegung wurde er nach 1933 von gemeinsamen Widerstandsaktivitäten ausgeschlossen, weil er es befürwortete, auch mit anderen sozialistischen Gruppen zusammen zu arbeiten. Dahinter steckte die berechtigte Befürchtung, solche seien durchsetzt mit Polizeispitzeln. Nach dem Krieg setzte er seinen Schwerpunkt auf die Ostermarschbewegung, die 68-Bewegung und die daraus hervorgehenden „Neuen Sozialen Bewegungen“, welche er mit Sympathie betrachtete. Dass Gültig Anfang der 1950er Jahre der KPD und deren Vorfeldorganisation, der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) beitrat, sieht Siegbert Wolf, welcher sich eingehend mit der Geschichte des Anarcho-Syndikalismus während der Hitlerdiktatur befasst hat, in einem Nachruf nicht als Bruch seiner Persönlichkeit: „In seinem Herzen blieb Karl Gültig allerdings stets ein Libertärer.[…] Seitdem ich ihn und seine Frau Elise zusammen mit einigen Freunden Anfang 1988 kennenlernte, regte uns Karl Gültig bei allen Besuchen durch seinen unverbrauchten Optimismus an. Bis zuletzt legte er besonderen Wert auf intensiven Kontakt zur Jugend. […] Auch wenn ihm mit zunehmendem Alter bewusst war, dass er selbst wohl nicht mehr die herrschaftslose und freiheitliche Gemeinschaft erleben werde, ermutigte er seine GesprächspartnerInnen, in diesem Streben fortzufahren. So bezeugte uns Karl Gültig, gerade aufgrund seiner lebensbiographischen Erfahrungen, dass es darauf ankommt, sich weder von der bestehenden Machtordnung noch von dem subjektiven Gefühl eigener, vermeintlicher Machtlosigkeit entmutigen zu lassen.“ (Siegbert Wolf: Karl Gültig ist tot, in: Schwarzer Faden, Heft 2/1992)

1985Foto.jpg V.l. Karl Schild und Karl Gültig, 1985, Foto R. Golembiewski

Dokumente u.a. von Karl Gültig zu den Reichsferienlagern der SAJD:

https://syndikalismusforschung.wordpress.com/2014/06/14/neu-reichsferienlager-der-sajd-und-die-bakuninhutte/

Karl Gültig, Tonaufnahmen:

https://vimeo.com/127055680

Tanz-in-den-Mai-der-FAU-Bremen-2006.jpg Tanz-in-den-Mai-der-FAU-Bremen-2006

Zusammengestellt von Helge Döhring (Institut für Syndikalismusforschung, Bremen)

Helge Döhring

Helge Döhring, geb. 1972, Historiker und Literaturwissenschaftler, lebt in Bremen. Buchveröffentlichungen zur syndikalistischen und anarchistischen Arbeiterbewegung: „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918“ (2013), zum „Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945“ (2013) und „Organisierter Anarchismus in Deutschland von 1918 bis 1933“ (drei Bände, 2018-2020), sowie zur „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ (2011), zu den „Schwarzen Scharen“ (2011); kommentierte Bibliographie zur syndikalistischen Presse in Deutschland (2010). Regionalstudien zum Syndikalismus für Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Ostpreußen, Schlesien und Schleswig-Holstein. Verfasser des Buches „Anarcho-Syndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung“ (2017). Mitarbeiter und Mitbegründer des Instituts für Syndikalismusforschung und Mitherausgeber des Jahrbuchs „Syfo – Forschung&Bewegung“.

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