Über das erfolgreiche Scheitern einer anarchistischen Lokalföderation für das Ruhrgebiet und Rheinland


Marian
Anarchismus Geschichte Bewegung

Ab 2012 bis ungefähr ins Jahr 2019 hinein gab es einen ambitionierten Versuch, einen handlungsfähigen Zusammenschluss von Anarchist:innen im Rheinland und Ruhrgebiet zu schaffen: die anarchistische Föderation Rhein/Ruhr (AFRR). Obwohl die Föderation für organisierte radikal-linke Politik in der Region vergleichsweise groß und umtriebig war sowie auch einige Zeit für den Anarchismus bundesweit einen der erfolgreichsten Ansätze darstellte, scheint sie bereits wenige Jahre nach ihrem Verschwinden in Vergessenheit geraten zu sein. Dieser Artikel soll zehn Jahre nach der Gründung der AFRR eine grobe Übersicht über die Geschichte der Organisation geben, einen Eindruck ihrer Schlagkraft zur Hochzeiten vermitteln und sich das erste Mal der Frage annähern: Warum ist die AFRR gescheitert?

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Relevantes Vorweg

Zu Beginn möchte ich eine kleine Einordnung des Zustands der anarchistischen Bewegung 2012 vornehmen, um den Rahmen, in dem sich die AFRR gebildet hat, besser verstehen zu können. 2012 gab es innerhalb des organisierten Anarchismus realistisch betrachtet drei relevante Ansätze: Erstens den Anarchosyndikalismus, welcher in Deutschland von der Freien Arbeiter:innen Union (FAU) sowie damals noch von den Überbleibseln der anarchosyndikalistischen Jugend repräsentiert wird. Zweitens dem Dauerbrenner: Projekt-Anarchismus. Gemeint sind hier die unterschiedlichsten Ansätze von Kommune-Projekten, Nachbarschaftsräumen, Hausbesetzungen, Umsonstläden, Buchverlagen usw. Ich spreche hier nicht von Projekten einer reinen Alternativkultur, sondern von solchen, welche einen klaren Anspruch vertreten, in die Gesellschaft zu wirken, dies aus einem anarchistischen Bewusstsein heraus tun und sich einen organisatorischen Rahmen dafür geben. Der dritte und für diesen Text relevanteste Ansatz ist der strömungsübergreifende oder auch synthetische Anarchismus. Der synthetische Anarchismus versucht verschiedene Strömungen des Anarchismus in einer Organisation zu vereinen, von kollektiven Formen bis individualistischen. Repräsentiert wird diese Richtung bis heute von der Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen (FdA-IFA), welche von zentraler Bedeutung für die Entstehung der AFRR war.

6 Bild welches im Rahmen eines Föderationstreffens der Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen in Kassel entstand

Bis 2011 war die FAU, die damals allerdings noch wesentlich kleiner als heute war, der einzige relevante Organisationsansatz im deutschsprachigen Anarchismus. Die FAU fungierte somit als Auffangbecken für alle Anarchist:innen. Einer der Gründe, warum sie sich zu diesem Zeitpunkt schwer tat, eine relevante gewerkschaftliche Praxis zu entwickeln. Ab 2011 änderte sich diese Situation mit der Wiederbelebung der FdA, welche durch die Entstehung der Zeitschrift „Gaidao“ als Publikationsorgan gekennzeichnet werden kann. Die FdA gab es zwar seit 2000 schon als „Forum“ deutschsprachiger Anarchist:innen, plus entsprechende Vorgängerorganisationen seit 1989, sie blieb bis 2011 allerdings marginal und bewegte sich von wenigen Gruppen bis einer Handvoll Einzelpersonen eher am Rande einer realen Existenz.

Ab 2011 erlebte der synthetische Anarchismus allerdings einen starken Auftrieb, welcher, verglichen mit der bis dato vorhandenen Entwicklung, relativ rasant in wenigen Jahren große Fortschritte erzielte. Dies war nebenbei bemerkt ebenso ein Segen für die FAU, da sie nun nicht mehr als Auffangbecken für Anarchist:innen dienen musste, die nichts mit Gewerkschaften am Hut hatten. Das neue Auffangbecken für alle, die sich dem Anarchismus zugehörig fühlten und sich organisieren wollten, hieß nun: Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen.

Im Kontext dieser Entwicklung ist die Gründung der AFRR zu betrachten. Ohne die Stärkung und Manifestierung der FdA als reale, bundesweit agierende Organisation, hätte es die AFRR nie gegeben.

p1 Fahne der Föderation Deutschsprachiger Anarchist:innen in Paris

Die Gründung der AFRR

So kam es dann auch ungefähr ein Jahr nach der Wiederbelebung der FdA zum Gründungstreffen der AFRR. Dieses erfolgte von einer kleinen Initiative weniger Menschen vorbereitet, am 25.8.2012 bei der libertären Medienmesse („Limesse“) in Bochum. Die Limesse war nebenbei bemerkt ein sehr schönes und wichtiges Event für die Entwicklung des Anarchismus im Ruhrgebiet zu dieser Zeit. Sie fand dreimal statt: 2010 in Oberhausen, 2012 in Bochum und 2014 in Essen. Sie sollte die Wartezeit auf eine anarchistische Buch bzw. Medienmesse überbrücken und sich alle zwei Jahre mit der anarchistischen Buchmesse in Mannheim, welche bis heute stattfindet, abwechseln. Schade dass, das Projekt Limesse gestorben ist, vielleicht findet sich ja irgendwann mal wieder ein Kreis an Menschen, welche sie wieder beleben.

Aber zurück zur AFRR ins Jahr 2012! Über 50 Menschen waren bei diesem ersten Treffen dabei. Das war damals ein riesiger Erfolg für uns. Ich war ein paar Wochen vor diesem ersten Treffen mit einem Genossen zusammen der Initiative beigetreten, insofern kann ich ab diesem Zeitpunkt aus erster Hand berichten.

Was direkt am Anfang auffiel: Es gab in der gesamten Region fast keine anarchistischen Gruppen, die hätten eine Föderation bilden können. Die einzigen real existierenden Gruppen in der gesamten Rhein-Ruhr-Region waren zum einen die anarchistische Gruppe Köln (die nie richtig in der AFRR aufging, da sie einige Monate nach dem ersten Treffen der AFRR quasi aufhörte zu existieren...), welche vormals anarchosyndikalistische Jugend hieß. Zweitens gab es noch die Anarchosyndikalistische Jugend Herne/Recklinghausen, welche relativ langlebig war, aber 2013 von der Landkarte verschwand.

An diesem Punkt zeigt sich bereits das Absurde aber auch Besondere an der Initiative der AFRR. Über viele Jahre hinweg war es üblich, dass sich hier und dort mal eine anarchistische Kleinstgruppe gründete, ehe sie schließlich nach einer Halbwertzeit von rund zwei Jahren wieder verschwand, bevor die Welt überhaupt von ihrer Existenz erfahren hatte. Einer der wichtigsten strategischen Gründe der AFRR war die Annahme, dass es einen größeren organisatorischen Rahmen braucht, eine Föderation von diversen Kleinstgruppen, damit auch im Fall des Absterbens einer dieser Gruppen nicht gleich ein gesamter Erfahrungszyklus verloren geht. Wir haben damals gesagt: Anstatt wie bei vergangenen Ansätzen im Klein-Klein unserer Stadt zu versuchen, einzelne Gleichgesinnte für eine Stadtgruppe zu finden, gehen wir in die Vollen und beanspruchen das ganze Gebiet für uns.

Von Anfang an war es das Ziel, ausgehend von dieser breiteren Initiative entsprechende Lokalgruppen zu bilden, um aus diesen dann wiederum eine reale Föderation zu formen. So kam es dann auch bei den gut besuchten ersten beiden Treffen zu der Bildung von Arbeitsgruppen für die jeweiligen Regionen. Es entstand eine Initiative für eine anarchistische Gruppe in Düsseldorf, eine Gruppe für das zentrale Ruhrgebiet (Essen, Gelsenkirchen und Umgebung), eine für das östliche Ruhrgebiet (Bochum, Witten und Umgebung) und dann ziemlich bald danach ab dem 6.1.2013 eine Initiative für eine anarchistische Gruppe in Dortmund.

Dennoch sorgte der Umstand ,dass es quasi zuerst die „Föderation“ und erst später die föderierten Gruppen gab, für einige Konfusion. Mehr noch Es entstand ein handfester Richtungsstreit, ob die geschaffenen lokalen Gebilde und die regelmäßig stattfindenden regionsweiten Treffen primär für den Aufbau der überregionalen Föderationsstruktur arbeiten sollten oder ein stärkerer Fokus auf den Ausbau der Basisgruppen in verschiedenen Städten gelegt werden sollte. Letzteres setzte sich schlussendlich durch und so begann der Ausbau der Lokalgruppenstrukturen, ohne aber das verbindende Element, die AFRR, zu vergessen.

Bereits im Aufbauprozess zeigten sich außerdem zwei der drei Kernelemente der AFRR: der strukturelle Aufbau und der aktionistische Fokus, eine Schwerpunktsetzung auf inhaltliche Auseinandersetzung als drittes Kernelement kam erst im Späteren hinzu. Auf der aktionistischen Ebene führte die AFRR noch im Dezember 2012 eine Busreise ins (schöne?) Mannheim durch, wo die sich ebenfalls parallel zur FdA entwickelnde Organisation: „Anarchistisches Netzwerk Südwest“, eine anarchistische Demonstration organisierte. Dieses Netzwerk trat später, wie die AFRR auch, der FdA bei und war zu diesem Zeitpunkt schon deutlich weiter in der Entwicklung als die AFRR. Die Demonstration war die zweite in Folge, bereits ein Jahr zuvor hatten 300 Menschen bei einer Demo des A-Netz im Saarland teilgenommen, nun waren es 500 in Mannheim. 500 Menschen auf einer Demonstration des organisierten Anarchismus, zu der es sogar eine Busanreise (und nein, der ganze Reisebus war leider nicht gefüllt und ja, wir haben ein Minusgeschäft gemacht) aus dem Ruhrgebiet gab? Das hatte es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben. Es sollte der Startschuss werden von einem Aufbauprozess des organisierten Anarchismus in Deutschland, an dessen Höhepunkt sich über 30 Gruppen, mit zwei angeschlossenen Lokalföderationen lokal, bundesweit und international in der FdA organisierten.

IMG_8076 Bild der anarchistischen Demonsration in Mannheim, 2012 - mit AFRR Banner im hinteren Teil des Bildes

Die Etablierung der AFRR

Das Jahr 2013 markiert die Etablierung der AFRR als einen ernst gemeinten Versuch, den Anarchismus in der Region zu organisieren. So kam es nicht nur zur Herausbildung und Festigung lokaler Strukturen in Bochum, Dortmund, Witten, Düsseldorf und Essen, sondern auch zu der ersten großen gemeinsamen Kampagne der AFRR. Diese sollte das erste mal den Anspruch der inhaltlichen Arbeit der AFRR in der Öffentlichkeit betonen und sie war ein breiter Versuch zu zeigen: Wir sind da! Schließe dich uns an.

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Die Kampagne hieß dementsprechend: Zeit für Plan-A! In einem Zeitraum von drei Monaten gab es eine Eröffnungsparty, 25 Veranstaltungen von Filmen über Vorträge sowie ein abschließendes Organisierungstreffen in 11 Städten (Mülheim, Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Witten, Düsseldorf, Wuppertal, Schwerte, Krefeld, Essen, Neuss). Begleitet wurde das Ganze von einer Sonderausgabe der GAIDAO, welche in einer Auflage von 3500 Stück bei den Veranstaltungen verteilt wurde.

Nun lässt sich bekanntlich über den Sinn und Unsinn einer linken Veranstaltungskultur streiten, in der gefühlt 50% der Zusammenhänge nur dafür existieren irgend einen Tresen oder eine Infoveranstaltung im Monat auszurichten, zu der dann oftmals ohnehin nur Menschen kommen, die das alles schon tausendmal gehört haben. Dennoch ist eine Veranstaltungsreihe in diesem Ausmaß über einen solchen Zeitraum nach nur einem Jahr des Aufbaus der AFRR eine beachtliche Ansage gewesen.

Die „Zeit für Plan A“-Kampagne hat es geschafft, aus einer Anfangseuphorie ein reales regionsübergreifendes Event zu schmieden, welches für viele Menschen wahrnehmbar einen Zugang zu dieser neuen, sich entwickelnden Kraft bot. Darüber hinaus schuf sie ein weiteres zentrales Merkmal der AFRR, welches in unterschiedlicher Ausprägung ein entscheidendes Bindeglied für die spätere Föderation werden sollte: lokale Kampagnen, welche in ihrem Umfang nur durch den Zusammenschluss mehrerer Gruppen realisiert werden konnten.

Plakat-page-001 Plakat der Zeit für Plan A - Kampagne

Spannend aus dieser Zeit ist vor allem die GAIDAO Sonderausgabe zur „Zeit für Plan A“-Kampagne und ein Interview mit mir selbst beim anarchistischen Radio Berlin, welches die Kampagne reflektiert.

In Folge der „Zeit für Plan A“-Kampagne entwickelte sich dann das Konzept der „Schwarzen Tresen“ als öffentliche Anlaufpunkte in den verschiedenen Städten. So gab es Anfang 2014 bereits mindestens in Dortmund, Witten und Gelsenkirchen jeden Monat stattfindende Schwarze Tresen mit wechselndem Programm.

Im Jahr 2014 fand eine Stabilisierung und ein Ausbau der anarchistischen Strukturen statt. Neben der Anarchistischen Gruppe Düsseldorf, der anarchistischen Gruppe Dortmund, der libertären Gruppe aus Bochum und der anarchistischen Gruppe östliches Ruhrgebiet (Schwerpunkt Witten), schlossen sich 2014 die anarchistische Gruppe Krefeld und „einfach machen“ aus Duisburg der AFRR an.

Speziell „einfach machen“ war in dem Zeitraum ihres relativ kurzen Bestehens von 2014 bis 2015 eine sehr umtriebige Gruppe, welche ihren Namen gut gewählt hat, da er sie exzellent charakterisiert. Nach und nach führte die Gruppe verschiedene Formate ein, welche größtenteils auf der Straße statt fanden. Die Gruppe hat wohl das erste Mal innerhalb der AFRR eine Art Viertelarbeit im Stadtteil Hochfeld durchgeführt. Zwei Mal im Monat organisierten sie über eine längere Zeit eine öffentliche Essensverteilung, später kam noch ein häufiger stattfindender Streetart-Workshop und ein regelmäßig stattfindendes anarchistisches Zusammenkommen im Nachbarschaftsraum Syntopia dazu.

Während bisher Witten mit dem selbstverwalteten Kulturzentrum „Trotz Allem“ das heimliche Hauptquartier der Organisation war, entwickelt sich Dortmund immer mehr zu der Stadt, wo die Aufbaubemühungen die größten Früchte trugen. Zwei Jahre nach dem Beginn des lokalen Aufbauprozesses, gab es dort bereits mit dem „Black Pigeon“ einen kleinen anarchistischen Buchladen, eine sehr aktive Gruppe welche um die 15 Menschen umfasste und die anarchistische Hausbesetzungsbewegung „Avanti“, welche für eine Woche eine große Kirche am Borsigplatz besetzen konnte, ehe sie ohne Räumungstitel von den Bullen zerschlagen wurde.

P1010531 Alte Räumlichkeiten des Black Pigeon am Borsigplatz

4833955_w955h600s1v1234_Besetzung_Albertus-Magnus-Kirche-6632 Bild von der Avanti Besetzung am Borsigplatz

Dies erklärt auch gut warum die zweite große Kampagne der AFRR ausschließlich in Dortmund stattfand. Grade einmal acht Monate nach „Zeit für Plan A“, wurde vom 1.-3. August 2014 die Kampagne „Heute wie vor 100 Jahren: Krieg dem Krieg! Für die soziale Revolution!“ durchgeführt. Ziel war es, ein starkes Gedenken an den 100. Jahrestag des ersten Weltkriegs in antimilitaristischer Tradition zu schaffen. Dafür wurde eine eigene Broschüre ausgearbeitet, welche den inhaltlichen Rahmen der Kampagne bildete und auch als Vortrag noch Jahre später gehalten wurde. Außerdem gab es zwei Veranstaltungstage mit sechs qualitativ recht hochwertigen und vielschichtigen Angeboten, Vorträgen, Lesungen und Workshops. Der Fokus lag aber deutlich auf der aktionistischen Ausprägung. So gab es eine mit 40 Menschen schwach besuchte unangemeldete Kundgebung. Zu diesem Zeitpunkt wurden von uns organisierte Demonstrationen und Kundgebungen grundsätzlich nicht angemeldet, aber öffentlich im Vorfeld beworben. Da unser gesamter Organisierungsansatz so unter dem Radar der Bullen lief, gab es sogar einmal eine Demonstration mit fast 100 Menschen (zur Räumung des Taksim-Platzes in der Türkei), welche, im Vorfeld beworben, ohne Bullenbegleitung durch die Innenstadt laufen konnte. Außerdem gab es eine Verschönerung eines Kriegsdenkmal, einen Dy-in-Flashmob, Straßenkunst und eine kostenlose Waffelverteilung in der Innenstadt, die wir im etwas albernen Wortwitz „Volksbewafflung“ titulierten. Ich blicke auch heute noch gerne auf die Kampagne zurück. Sie war eine produktive Ausprägung der AFRR, welche allerdings für den betriebenen Kräfteaufwand hinter den Möglichkeiten zurück blieb. Über dies nahm die Kampagne zwar auf ein Thema Bezug, mit dem sich das liberale Bürgertum beschäftigte, der Masse der Menschen war der Jahrestag des 1. Weltkriegs aber völlig egal. Ganz anders würde es in Zeiten von wieder aufkommender größerer Kriege aussehen, würden wir eine ähnliche Kampagne jetzt durchführen, sie würde sicher breiteren Anschluss finden. Ihr könnt euch auch gut ein eigenes Bild machen, da die Kampagnen-Webseite bis heute online zu finden ist. Außerdem gab es eine längere Radiosendung über die Kampagne von der schwarzen Katze.

119899 Bild vom Dy-in-Flashmob

Im Anschluss an die oben bereits erwähnte Avanti-Besetzung welche einen lokalen linken Bewegungsmoment auslöste, fanden zwei öffentliche anarchistische Organisierungstreffen statt, die mit um die 50 Menschen, die fast ausschließlich aus Dortmund kamen, ein riesiger Erfolg waren. Die Organisierungstreffen profitierten von der Aufbruchstimmung der Besetzung und es kam zur Gründung einer zweistelligen (!) Anzahl neuer Gruppen, Arbeitsgruppen und Projekte, welche über ein lokales anarchistischen Netzwerk (Anarchistisches Netzwerk Dortmund, kurz: „A-Netz DO“) zusammengehalten werden sollten. Auch wenn die Hälfte der entstandenen Projekte nie wirklich das Licht der Welt erblickte entstanden auch hier Gruppen und Projekte, die teilweise über Jahre, existieren sollten, wie etwa ein anarchistischer Lesekreis. Verbunden war das A-Netz DO mit dem Aufbau eines ambitionierten Webseiten-Projekts welches auch einen lokalen Terminkalender aller linker Termine in Dortmund beinhaltete. Die Webseite wurde nach dem Scheitern des A-Netz eingestellt, aber der Twitter Account Anarchismus in Dortmund ist ein Zeugnis der Bemühungen dieser Zeit, welcher als „Anarchismus in Dortmund“ heute der einen oder dem anderen bekannt sein dürfte.

gruppenarbeit Bild von einer Arbeitsgruppe während des anarchistischen Organisierungstreffens in Dortmund, welche auf der Straße vor dem Taranta Babu sitzt, da drinnen schon alles voll ist.

Offene anarchistische Organisierungstreffen waren überdies ein weiteres zentrales Merkmal des Aufbaus an Rhein und Ruhr. Es war der AFRR immer ein Anliegen und dies war auch eine ihrer wesentlichen Stärken, Menschen offen und offensiv anzusprechen und einzuladen, sich anarchistisch zu organisieren. Wir wollten nicht abgekapselt von der Außenwelt in unseren Räumen vor uns hin vegetieren, auch wenn wir das oftmals taten, weil der Anspruch mit der Realität nun einmal nicht immer im Einklang steht. Allerdings zeigen alleine die hier in Kürze angerissenen offenen Organisierungstreffen - dem zur Gründung der AFRR und dem Dortmund nach der Avanti-Besetzung -, dass dieses Konzept zumindest in Teilen aufgegangen ist und über die Jahre eine größere zweistellige Anzahl an Kämpfer:innen für den Anarchismus hervorgebracht und organisiert hat. Hier schwammen wir auch wie in so vielen Punkten klar gegen den Strom der gegenüber neuen Gesichtern verängstigten Linken. Also nein, es gab keine „Backup Checks“ (Ist eine Person ein Zivilpolizist oder nicht? Stimmen seine Angaben, wo er/sie arbeitet, lebt etc.) von all diesen Leuten die über offene Treffen in unsere Gruppen gekommen sind. Ohnehin bestanden die meisten Gruppen der AFRR aus Leuten, die sich überwiegend vorher nicht kannten, also eben nicht aus Freundeskreisen. Wir fanden uns anhand der anarchistischen Idee zusammen, so diffus das Verständnis derselben bei Vielen auch gewesen sein mag.

Die Schaffung der AFRR als reale Föderation

Die offizielle Gründung der AFRR als Föderation erfolgte bereits am 31.03.2013 im Rahmen eines Kongresses der Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen. Ich würde allerdings sagen, dass die AFRR zu diesem Zeitpunkt noch keine reale Föderation darstellte, sondern eher den Anspruch ausdrückte, eine solche zu schaffen. Erst das Jahr 2014, aus dem ich schon die wichtigsten Ereignisse beschrieben habe und mehr noch das Jahr 2015 markieren die Startpunkte der AFRR als reale Föderation.

grndungafrr Offizielles Gründungsbild der AFRR 2013 in Witten

Mit 2014 sechs, 2015 fünf föderierten Gruppen - Düsseldorf war einer der ersten öffentlichen und realen Aufbauversuche, der scheiterte -, gab es eine kleine aber sehr umtriebige Vernetzung. Dazu gab es noch eine größere Anzahl an Einzelpersonen oder Initiativen aus wenigen Menschen, die versuchten, in ihren Städten etwas aufzuziehen. Tatsächlich gab es nur sehr wenige Städte über 100.000 Einwohner im Rhein/Ruhr-Gebiet, wo es über die Jahre nicht den mal mehr, mal weniger ernsthaften Versuch gegeben hätte, eine anarchistische Lokalstruktur anzustoßen. Darüber hinaus gab es ein immer lebendiger werdendes Föderationsleben. Regelmäßig stattfindende Kongresse in wechselnden Städten, Seminarwochenenden, Definition von Mandaten für zentrale Aufgaben, gemeinsame Entscheidungsfindung bei Themen, die alle betrafen, ein schönes Sommercamp, welches einmal im Jahr im Sauerland stattfand, aber mit um die 20 Menschen immer eher mittelmäßig besucht war, regelmäßiger Austausch und kollektive Aktion.

18 Schwimmen im Sorpesee mit Schwarzer Fahne beim AFRR Sommercamp

Mehr und mehr lassen sich die Früchte der ersten Jahre Aufbauprozess ernten. So kommt es dazu, dass die AFRR 2015 gleich zwei Großkampagnen nebeneinander schmeißt. Zuerst die anarchistische 1. Mai Demonstration in Dortmund ,welche mit einer Materialschlacht, Mobiaktionen und Veranstaltungen, einem relativ großen anarchistischen Block auf der letzten Gedenkdemonstration für den von Dortmunder Nazis ermordeten Thomas Schulz (von dem dann dieses Mobivideo für den 1. Mai entsteht), sowie einem Solikonzert aufwartete. An diesem 1. Mai gab es auch in Köln und Bonn eigene anarchistische Demonstrationen, in Wuppertal die traditionelle autonome 1. Mai Demo und in Dortmund Aktivitäten gegen einen stattfindenden Naziaufmarsch. In Dortmund fanden sich trotzdem unter dem Motto: „an der Befreiung arbeiten – die anarchistische Bewegung voran treiben!“ 300 Menschen zu einer kämpferischen, sehr „Schwarzer Block“-lastigen (war nicht der von uns gewünschte Ausdruck!!!) Demonstration ein.

141977 Frontbanner des 1. Mai 2015 in Dortmund

Die zweite direkt an den 1. Mai anschließende AFRR Kampagne beschäftigte sich mit dem G7-Gipfel in Garmisch-Partenkirchen. Die AFRR-Kampagne hier verlief in Symbiose mit der FdA und wartete wiederum mit einer Menge an Mobivents auf, einem großen Actionskills-Tag im AZ Mülheim (mit bis zu 60 Teilnehmenden), einer eigenen Broschüre, einem Mobivideo (welches ich nicht mehr finde) und natürlich gemeinsamer Anreise, sowie Beteiligung an den Kämpfen vor Ort. Ich persönlich war schon damals kein großer Fan dieser Bemühungen. Es war im Voraus schon klar, dass den Herrschenden aufs Bayrische Dorf zu folgen, nur ein Ausflug zum Verbrennen unserer Kapazitäten sein würde und kein mobilisierender Moment für unseren Aufbauprozess. Der Unterschied lässt sich gut an der Mobilisierung zum G20 Gipfel in Hamburg erkennen. Wenn Gipfeltreffen auf dem Land, abseits der großen Metropolen durchgeführt werden, lassen sich diese viel besser schützen und es gibt auch weniger Probleme mit der lokalen Bevölkerung. Die Attraktivität für die internationale radikale Linke zu entsprechenden Protesten anzureisen ist ebenfalls nicht sonderlich groß. Diese und weitere Faktoren führen zwangsläufig dazu das keine richtige Dynamik entstehen kann und die Repressionsbehörden es leicht haben ihr Sicherheitskonzept umzusetzen.

CG2Ycy1XEAAS3bo.jpg-large Block der Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen beim G7-Gipfel in Garmisch-Partenkirchen

Das damalige Level an Aktivität war beachtlich. Im Rückblick zeigt sich jedoch: Zwei so große Kampagnen nebeneinander zu stemmen, war einfach zu viel für die Struktur. Die Überanspruchung unserer Kräfte führte zu einigen Konflikten und war überdies der Beginn einer Tendenz innerhalb der Föderation welche ich als einer der Kernpunkte ihres späteren Scheiterns beschreiben würde: einen zu großen Fokus auf einer Beschäftigung mit sich selbst. Dazu aber später mehr.

Das Jahr 2016 erlebte dann den Ausbau der AFRR und speziell der Strukturen im östlichen Ruhrgebiet auf bisher nicht gekanntem Niveau. Bereits in diesem Jahr gab es ungefähr jeden zweiten Tag im Monat (2017 wurde das Level noch einmal erhöht) irgend eine Aktion, Veranstaltung, Veröffentlichung, oder sonstige Aktivität von AFRR-Strukturen. Die Vielfältigkeit der Themenfelder ist dabei besonders beeindruckend. In der AFRR wurde sich über die Jahre gefühlt mit allem auseinandergesetzt, was aus anarchistischer Perspektive denkbar ist, auch wenn es natürlich Themen gab die häufiger bedient wurden. Die AFRR bestand mittlerweile wieder aus sechs Mitgliedsgruppen (Anarchistische Gruppe östliches Ruhrgebiet, Anarchistische Gruppe Dortmund, Anarchistische Gruppe Krefeld, Anarchistisches Kollektiv Köln, Einfach machen (Duisburg), Schwarze Ruhr Uni (welche an der Uni in Bochum über Jahre eine starke, vielschichtige Aktivität entwickelte). Die mittlerweile herangewachsene anarchistische Bewegung in Dortmund beginnt mit der Neueröffnung des Black Pigeon in eigenen Räumen, dass erste Mal wirklich den Namen „Bewegung“ zu verdienen. Das Black Pigeon war im Grunde nicht viel mehr als eine kleine anarchistische Bücherecke innerhalb eines städtisch geförderten Künstler:innenhauses gewesen. Am neuen Standort mit 300 Quadratmetern Fläche wurde es zum wirklichen politischen Zentrum mit vielfältigen Angeboten von veganen Lebensmitteln, Foodsharing und Literatur bis hin zu verschiedensten Veranstaltungen, Konzerten usw. Dies und der erbitterte, schließlich erfolgreiche Kampf gegen die Nazis, die den Raum verhindern wollten, war ein materialisierter Ausdruck des erstarkten Anarchismus im Ruhrgebiet. Ab der Eröffnung des Black Pigeon war klar: Zumindest in Dortmund würde eine Bewegung wachsen, welche, wenn die Beteiligten es vernünftig anstellten, als organisierte Kraft weit über das Klein-Klein autonomer Freundeskreise hinaus wirken können.

12748025_1083420495056024_121241403905452997_o Das Black Pigeon vor der Eröffnung in der Renovierungsphase

87019023_2932834030114652_445377933817675776_n Ein Teil des Black Pigeons später wie es in etwa jetzt aussieht

Gleichzeitig zeichnete sich aber spätestens ab diesem Moment ein starkes Ungleichgewicht in der Bewegung des Rhein-Ruhrgebiets ab. Es gab keine andere Stadt, die auch nur annähernd an die Entwicklungsstufe der Dortmunder Bewegung herankam (auch wenn zu dieser Zeit besonders in Köln und Bochum einiges passierte) und dies hat sich bis heute nicht verändert. Die Ereignisse rund um das Black Pigeon und die anarchistische Gruppe Dortmund hier im Detail zu beschreiben, würde den Rahmen völlig sprengen, deswegen kann ich die Dortmunder Geschichte in diesem Text nur anschneiden, auch wenn sie zentral für die AFRR als Ganzes ist.

Der Aufbau in Dortmund beflügelte zwar andere Gruppen und Städte wie z.B. Bochum oder Krefeld, es kam aber nicht zu einem großen Ruck durch die gesamte Region und das übliche Klein-Klein ging in den meisten Städten so weiter wie gehabt. So löst sich z.B. die Duisburger AFRR-Gruppe „einfach machen“ im Jahr der Black Pigeon Eröffnung nach bereits einem Jahr Inaktivität in Luft auf.

IMGP3213 Einer der zahlreichen anarchistischen Infostände welche über die Jahre durchgeführt wurden, in der Dortmunder Innenstadt

Interessant ist auch das Verhältnis der AFRR zum Internationalismus. Es ist insgesamt sicher eher ein untergeordnetes Thema in der Föderation gewesen, dennoch sind einige interessante Aktivitäten zu vermelden. Wie z.B. ein Austausch mit Anarchist:innen aus Japan in dessen Rahmen dieses Interview von einem AFRR-Sommercamp entstanden ist. 2016 dürfte für alle Beteiligten der Kongress der Internationalen anarchistischen Föderation (IFA), welchen die FdA in Frankfurt ausrichtete und an dem Genoss:innen aus allen Teilen der Welt teilnahmen, eine besonders lebhafte, schöne und sinnstiftende Erinnerung sein.

Hiroshima-04 Bild wie die Genoss:innen in Japan das eingesendete Video in Japan schauen

160806asa-soli-1-1030x464 Gruppenbild von einem Teil der Menschen die am Kongress der Internationalen anarchistischen Föderation teilnahmen

2017 markierte ein weiteres Voranschreiten der Dortmunder Bewegung, so gab es mit „Lila Lautstark, queerfeministische Gruppe“ eine zweite AFRR Mitgliedsgruppe aus Dortmund (2018 mit fabzi – feministische und anarchistische Broschüren und Zines dann sogar drei), und das anarchistische Parkfest im Blücherpark, welcher in unmittelbarer Nähe zum Black Pigeon liegt, erfährt seine erste Realisierung.

Das Parkfest ist neben dem 1. Mai in Dortmund sicherlich das zweite jährlich stattfindende Großereignis der anarchistischen Bewegung in der Rhein/Ruhr Region bis heute.

P1040380 Bild vom anarchistischen Parkfest in Dortmund

Hervorzuheben ist im Jahr 2017 der praktische Antifaschismus, welche besonders die Dortmunder Bewegung oftmals in der ersten Reihe geführt hat. Die anarchistische Bewegung Dortmunds hat den lokalen Nazis sicherlich mit die größten Niederlagen und Kämpfe abgerungen, welche sie mit der Linken geführt haben. Beispielhaft ist dafür der Zeitraum vom 10. Januar 2017, bis zum 02. Februar 2017 bei dem besonders die Uni ein Kampffeld wurde, welche sehr nah an Dorstfeld, dem selbsterklärtem „Nazikiez“, liegt. Am 10. Januar initiierte die anarchistische Gruppe Dortmund ein offenes anarchistisches Organisierungstreffen an der Universität, um eine neue Gruppe an der Uni anzustoßen. 50(!) Nazis versuchten, dieses zu verhindern. Sicherlich ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der BRD, dass eine so große Anzahl Faschisten an einer Universität aktiv versucht linke Selbstorganisation zu unterbinden. Das Treffen fand trotzdem statt und um die 20 Menschen nahmen an ihm teil. In der Folge gründete sich in den nächsten Monaten dann die Anarchistische Hochschulinitiative (AHOI), welche für den Zeitraum von ein bis zwei Jahren recht aktiv war. Drei Tage nach diesen Ereignissen organisierten wir eine Kundgebung auf dem Campus, welche von 60 Menschen besucht wurde, um auf die Vorgänge aufmerksam zu machen und vor allem den Aufbauprozess weiter zu pushen. Dies gelang auch, denn über diese Kundgebung schlossen sich neue Menschen der Gruppe an. Zehn Tage später am 23. Januar kam es dann zu der nächsten Auseinandersetzung mit den Faschisten. Im Black Pigeon gab es eine Infoverstanstaltung mit der Antifa Bulgaria. Da die Dortmunder Faschisten, Faschistenfreunde in Bulgarien haben, organisierten sie eine Kundgebung in der Nähe des Black Pigeon an der 30 Nazis teilnahmen. 150-200 Menschen stellten sich solidarisch vor das Black Pigeon, während drinnen die Veranstaltung lief. Eine großartige kämpferische Mobilisierung. Diese vier Ereignisse in gerade einmal drei Wochen zeigen nicht nur, wie umtriebig und stark die Dortmunder Nazis damals noch waren, sondern sie zeigen auch eindrucksvoll, dass die anarchistische Bewegung Dortmunds es über die Jahre immer mal wieder schaffte die Nazis vor sich herzutreiben, indem sie einen eigenen Aufbau fokussierte, anstatt die Kräfte in einer reinen Feuerwehrpolitik zu verbrennen. Einen Aufbau, den die Nazis immer wieder unterbinden wollten, wobei wir aus fast jeder dieser zahlreichen Auseinandersetzung gestärkt und die Nazis geschwächt hervorgegangen sind.

204230 Bild von einer Anarchismus Einführungsveranstaltung an der Uni Dortmund, welche im Nachgang auf den Naziangriff durchgeführt wurde. Die Unileitung untersagte die Veranstaltung, deswegen wurde sie kurzer Hand vor der Tür mit einem Megaphon durchgeführt, mit sehr großem Andrang.

Klar ist aber auch, dass es nicht nur in Dortmund voran ging. In Düsseldorf (anarchistisches Projektkollektiv), Bochum/Mülheim (schwarzes Brett) und Köln (about:fem – anarchafeministische Gruppe), haben sich neue anarchistische Gruppen entwickelt, welche nicht Teil der AFRR waren. Auch die Freie Arbeiter:innen Union entwickelte eine neue Sektion im östlichen Ruhrgebiet (später, nach dem Scheitern dieser Sektion gab es dann 2019 einen weiteren Anlauf nur für Bochum). Dies ist nebenbei bemerkt auch eine erwähnenswerte Sache: Die Zugkraft der AFRR materialisierte sich über die Jahre immer auch in der Entstehung neuer anarchistischer Kleinstgruppen, welche im Umfeld der AFRR agierten, ohne ihr (aus unterschiedlichen Gründen) beizutreten. In Krefeld wurde das zweite aus der AFRR hervorgegangene anarchistische Zentrum „H5“ am 1. Juli 2017 eingeweiht, welches ebenfalls bis heute existiert. Dies zeigt auch noch einmal deutlich: Nur weil der Schwerpunkt der AFRR in Dortmund lag und der Aufbau dort am erfolgreichsten war, heißt es nicht, dass nicht auch in anderen Städten spannende Dinge passierten. Die AFRR war ab diesem Zeitpunkt bis zu ihrem Niedergang in den meisten Großstädten von der Rhein/Ruhr Region in unterschiedlicher Intensität aktiv.

2018 wurde die anarchistische 1. Mai Demonstration in Dortmund wieder ausgerichtet. Dieses Mal aber nicht mehr wie 2015 als AFRR Projekt, sondern nur noch mit Unterstützung der AFRR aber unter alleiniger Federführung der AGDo. Dies ist ein weiteres von zahllosen Beispielen für die rasante Entwicklung in Dortmund. Die Demonstration wurde erneut von 300 Menschen besucht und fand unter dem Motto: „Für eine Welt ohne Lohnarbeit“ statt.

Anarchistische-1.-Mai-Demo-in-Dortmund-15 Frontbild von der 1. Mai Demonstration 2018 in Dortmund

Eine weitere große Mobilisierung in diesem Jahr markieren die Proteste gegen das neue Polizeigesetz in NRW. Im Rahmen einer sehr großen und breiten Mobilisierung bis tief in die Mehrheitsgesellschaft hinein, organisiert die anarchistische Gruppe Dortmund (!) auf der landesweiten Großdemonstration in Düsseldorf einen anarchistischen Block, welcher mit um die 500 Teilnehmenden ein großer Erfolg war.

1 Bild vom großen anarchistischen Block in Düsseldorf gegen das Polizeigesetz NRW 2018

2018 föderierten sich außerdem zwei weitere Gruppen aus Wuppertal in der AFRR: der Infoladen Wuppertal und Li(e)beration. Mit mittlerweile neun Mitgliedsgruppen geht die AFRR in das Jahr 2019.

Gerade das formell mitgliederstärkste Jahr markiert allerdings den Untergang der AFRR.

Es ist schwer zu sagen was der Höhepunkt der AFRR gewesen ist. War es der Zeitraum 2014-2016, in dem die großen regionsübergreifenden Kampagnen umgesetzt wurden? Oder die Zeit von 2017-2018, als es zwar keine AFRR-Regionskampagnen mehr gab, aber die Mitgliedsgruppen und das Umfeld der AFRR eine ungeheure lokale Aktivität entfalteten? Dies ist schwer zu bewerten. Sicher ist aber, dass die Stärke der Dortmunder Bewegung, welche in der Lage war, Events zu organisieren die vormals nur die AFRR mit gemeinsamer Kraft stemmen konnte, ein Aspekt gewesen ist, der dazu führte, dass die AFRR an Bedeutung verlor. Was uns zum Punkt des Niedergangs der AFRR führt.

Der Niedergang der AFRR

Einige Gründe wurden im Verlauf des bisherigen Text bereits angeschnitten. Ich möchte an dieser Stelle diese Gründe sowie einige weitere bisher nicht genannte in begründeten Thesen zusammenfassen.

  • Ohne lebendige, tragfähige Lokalgruppen hat keine Föderation auf Dauer bestand. Die AFRR hat es nie geschafft, tragfähige Strukturen in vielen verschiedenen Städten aufzubauen. Nur Dortmund, Krefeld und in sehr begrenztem Umfang Bochum haben es geschafft, Kontinuität hervorzubringen. Das zeigt uns auch und nicht nur im Rhein/Ruhr-Gebiet: Dort wo Anarchist:innen eigene Räume aufbauen, die tragfähig sind, dort entsteht auch Kontinuität.
  • Eine Lokalföderation, ohne Lokalgruppen zur gründen ist kein unmögliches, aber ein sehr schwieriges Unterfangen. Außerdem sollte beim nächsten Anlauf vielleicht überlegt werden, sich nur im Ruhrgebiet, oder nur im Rheinland zu föderieren. Rhein und Ruhr zusammen zu nehmen ist allein schon aufgrund der großen Distanzen die dadurch entstehen nicht die beste Idee gewesen.
  • Nur wenige konnten die Idee der AFRR gut formulieren und vertreten. Das Verständnis warum es eine Lokalföderation braucht, was die Föderation ausmacht und warum nicht einfach nur jede:r in der eigenen Stadt vor sich hin agieren sollte, war sehr schwach ausgeprägt. Auch Jahre nach Bildung der Organisation, gab es immer wieder Treffen, auf denen Leute die Frage stellten: Was das überhaupt mit der AFRR für einen Sinn habe, oder was die AFRR genau sei?
  • Die AFRR war eine Organisation mit einem sehr schwachen Profil nach außen sowie nach innen. Sie war für mich aus heutiger Sicht das Sinnbild für einen strömungsübergreifenden Anarchismus, der nicht weiß, wohin er will und was ihn über „Wir sind alle Anarchist:innen“ und „wir sind gegen dies und für jenes“ auszeichnet. Es ist der AFRR nur in kurzen Phasen gelungen, dass ein Großteil der Menschen, die in den Lokalgruppen aktiv waren, sich auch mit der AFRR identifiziert haben oder sogar die Föderationsarbeit mittrugen. Meistens waren es nur einzelne, welche aktiv am AFRR-Geschehen teilnahmen. Für viele war aus diversen Gründen einfach ein lokaler Fokus gesetzt und alles, was darüber hinaus ging zu viel, nicht sinnvoll etc. Die meisten AFRR-Gruppen und der Föderation nahestehende Gruppen waren reine Veranstaltungskollektive. Gruppen, welche zu 90% dafür existieren, ein monatliches Veranstaltungsformat zu organisieren, sind in meiner Wahrnehmung keine funktionale Form der Organisierung, welche Kontinuität hervorbringt und interessant für neue Menschen ist.
  • Wir haben uns zu spät Mühe gegeben, eine Struktur zu schaffen, wie man mit Übergriffen, Konflikten und Problemen aller Art intern umgeht. Es gab Phasen, wo sich die AFRR zu viel aufgehalst hat und über den eigentlichen Kräften agierte, wodurch es zu Unmut und Reibereien in den eigenen Reihen kam. Überhaupt: wie immer, wenn Menschen zusammen kommen, haben zwischenmenschliche Konflikte und Fehlverhalten einzelner eine Menge Schaden angerichtet. Wie in unseren Kreisen üblich, wurde dann versucht, anhand konkreter Fälle nachzubessern. Da war das Kind aber oftmals schon in den Brunnen gefallen, wodurch Aktive verloren oder entnervt/entkräftet.

Neonazi-Mahnwache-gegen-Immobilien-Schneider-Korallenherz-1 "Kein Geschäft mit Anarchos", fordern Dortmunder Nazis mit einer Kleinstkundgebung gegen den Vermieter des Black Pigeon, in der Phase der Gründung der eigenen Räumlichkeiten.

  • Die AFRR war immer stark von Einzelpersonen abhängig. Das sind zwar die meisten Linken Strukturen, aber durch ein quasi völliges Fehlen von Strategie und Einheit auf kollektiver Ebene, entwickelte sich die AFRR so wie es von den aktiven Einzelpersonen definiert wurde und die anderen zogen mit. Wenn dann eine der generell nicht zahlreichen Kader (wir hätten dieses Wort damals niemals benutzt :-) ) ausgefallen sind, war das jedes Mal ein sehr harter Schlag für die Organisation.
  • Es gab nur eine sehr schwache formelle Struktur, die einer formellen Organisation unwürdig war. Dadurch waren viele Prozesse der Willkür und dem Gutdünken einzelner Kader überlassen. Gleichzeitig gab es aber natürlich auch keinerlei Bewusstsein über diesen Sachverhalt und generell eine starke Ablehnung gegenüber Kadern, bzw. Aktiven welche sich besonders hervortaten. Dadurch wurde deren Initiative stark beschnitten und missbilligt.
  • Das Einstellen von gemeinsamen großen Kampagnen, zumindest einer im Jahr, war ein großer Fehler für die AFRR. Die großen Kampagnen waren das zentrale Bindeglied für die Struktur und einer der wenigen Punkte, wo alle in der AFRR Aktiven gesagt haben: ja! Deswegen braucht es die AFRR. Andererseits kann und sollte man die gängigen Kampagnenstrategien der Linken die, zumindest in Teilen, auch die AFRR angewandt hat hinterfragen. Es gab kein Verständnis, keine strategische Diskussion darüber Kontinuität in sozialen Kämpfen, Basisarbeit und Gegenmacht aufzubauen. Sämtliche Aktivitäten in diese Richtung waren eher ein Zufallsprodukt als eine bewusste Strategie der Organisation.
  • Die AFRR war weitestgehend in einer linken Szenerealität verhaftet. Außer in Dortmund auf lokaler Ebene war sie in keiner Phase willens oder in der Lage, Menschen außerhalb dieser Realität in größerem Umfang zu erreichen. Es ist schwer zu sagen, ob es überhaupt einen wirklich ernsthaften Anspruch dazu gab. Aus heutiger Sicht würde ich der AFRR, sowie dem größten Teil der anarchistischen Szene, den ernsthaften Anspruch dahingehend in Abrede stellen. Dabei sei nicht unterschlagen, dass es aus dieser Szenerealität immer wieder für Szeneverhältnisse kreative Aktionen, Umgangsformen und Momente gab, die vermochten, die eigene Blase (sehr) kurzfristig zu verlassen. Das darf aber nicht mit einer echten auf die Gesellschaft gerichteten Perspektive verwechselt werden.
  • Es gab innerhalb der AFRR eine große Toleranz für Merkwürdigkeiten. Wer behauptet, dass nicht nur Menschen und Tiere Gefühle haben, sondern auch Steine fühlen, hat nichts in einer anarchistischen Organisation verloren (das Beispiel ist übrigens nicht fiktiv…). Solche und vergleichbare Merkwürdigkeiten waren zwar nicht an der Tagesordnung, kamen aber häufiger vor, als einem lieb sein kann. Sie schwächen die anarchistische Organisation, da wir anstatt Sinnvolles zu tun uns um eigentlich abwegiges drehen müssen und schreckt wiederum vernünftige Genoss:innen ab.
  • Die AFRR, ihre Mitgliedsgruppen und ihr nahestehende Organisationen haben zu keinem Zeitpunkt vernünftige Medienprojekte gestartet. Bis auf ein paar wenige interessante Print- Stücke, wurde vorhandene Energie lieber in die Organisation von Veranstaltungen vergeudet welche hunderte Menschen erreichen, anstatt zehntausende mit gut gemachten Onlinekanälen. (Podcast, YouTube, Instagram, Blogs) In diesem Bereich gab es eine große Furcht vor entsprechenden Kanälen und einer offenherzigen Darstellung nach außen.
  • Nach den ersten Jahren der Euphorie, als es immer nach vorne ging, gab es mit Rückschlägen natürlich auch Situationen der Ernüchterung. Eine Struktur ist immer Schwankungen von Zeit zu Zeit unterlegen, mal läuft es besser, mal schlechter. Wenn eine Struktur ohnehin schwächelt, kann so ein Abschwung der Dynamik auch nochmal einiges bewirken.

Besonders hervorheben möchte ich zum Abschluss noch einen weiteren Punkt. Die AFRR war ab 2018 weitestgehend mit sich selbst beschäftigt. Was mit einer sinnvollen Auseinandersetzung zur Reflexion der eigenen Strukturen begann, endete in einer nicht enden wollenden Selbstzerfleischung. Dies ist für mich der endgültige Todespunkt der AFRR gewesen. Wenn sich eine ohnehin geschwächte Struktur so deutlich ein Quasi-Verbot von allem, was nicht „Selbstreflexion“ ist, auferlegt, hört sie auf zu existieren. Um das greifbarer zu machen: Weiter oben beschreibe ich, dass ein Grund für das Scheitern der AFRR der fehlende oder fehlerhafte Umgang mit internen Konflikten aller Art war. Die Entwicklung eines anderen Umgangs, einer anderen Kultur, von Strukturen und auch von Selbstreflexion sind notwendig, dürfen aber niemals so viel Raum einnehmen, dass darüber das politische Wirken nach außen zum Erliegen kommt. Denkbar wäre allenfalls eine Phase der Selbstbeschäftigung, die aber zeitlich klar umrissen sein und klar definierte Ziele haben muss, wenn die Zustände besonders schlimm sind. Eine Organisation, welche auch so schon bei der Mehrzahl der EIGENEN Mitglieder für Stirnrunzeln sorgt und die Frage aufwirft, was es den überhaupt so genau mit ihr auf sich habe, in eine nicht enden wollende Selbstbeschäftigung zu schicken, ist Selbstmord. Die AFRR war hier somit auch Geisel der Szenekultur, eine ultimative Reinheit anzustreben und erst wieder vor die Tür zu treten, wenn diese erreicht ist. Da diese niemals erreicht werden kann, weil es diese ultimative Reinheit logischerweise nicht gibt, bleibt es dabei, dass man nie wieder vor die Tür tritt. Wenn dann ein Jahr später jemand von außen an die Tür klopft, ist nicht einmal mehr die Kraft da um die Tür zu öffnen.

All das ist sehr schade, wenn man bedenkt, dass es über die Jahre immer wieder tolle Momente gab, die so völlig aus einer Szenerealität gefallen sind. Wie z.B., als wir eine Bürgerinitiativen Demonstration in Sundern im Sauerland zum Erhalt eines Schwimmbads offen als Anarchist:innen unterstützen, was von den lokalen Bürger:innen mit sehr viel Sympathie, wenn auch einiger Verwunderung honoriert wurde. Oder als die anarchistische Gruppe Krefeld eine Demonstration gegen den Neubau eines Walmarts organisierte, an der überwiegend Menschen außerhalb der linken Szene teilnahmen.

sundern1 Anarchistische Teilnahme an Bürgerinitiativen Demonstration in Sundern

Neben diesen AFRR-spezifischen Gründen für das Scheitern gab es eine Menge Gründe, die nicht oder nicht nur in der Hand der AFRR selbst lagen. Der organisierte Anarchismus in Deutschland hat es generell schwer. Auf der einen Seite wegen der nach wie vor grassierenden Organisationsfeindlichkeit innerhalb der anarchistischen Bewegung, aber natürlich auch generell wegen eines immer noch und vor einigen Jahren noch stärker sozial befriedeten, individualisierten und voneinander isolierten Volks. Vor allem die Corona-Pandemie war eine Art Dolchstoß für die Reste des synthetischen Anarchismus in Deutschland. Was erneut unter Beweis gestellt hat, dass diese Tendenz des Anarchismus nicht krisensicher ist und somit untauglich einen bedeutenden Anteil für die soziale Revolution in der Zukunft zu spielen. Ich möchte dennoch betonen das natürlich auch der tollste anarchistische Organisierungsansatz scheitern kann, bzw. es allein schon wegen der allgemeinen Bedingungen schwer hat.

Lehren aus dem Scheitern

Ich bin seit nunmehr bald 15 Jahren in der anarchistischen Bewegung aktiv. Die Hälfte meines Lebens habe ich dem Kampf für eine herrschaftslose Gesellschaft gewidmet. Der Aufbau der AFRR und der FdA haben einen wichtigen Teil in dieser Zeit eingenommen. Ich möchte nicht sagen, dass ich verbittert darüber bin, so viele Jahre in eine, was die AFRR angeht, mittlerweile tote und, was die FdA angeht mehr tot als lebendige Struktur investiert zu haben. Abstreiten, dass es mich dennoch schmerzt, mag ich nicht.

tisch

Der Kreis an Menschen, welche die AFRR gebildet hat, war ein lebensfroher Haufen von überwiegend guten Leuten. Wir haben dem Anarchismus sicher keine Schande gebracht mit unserem Versuch und in Anbetracht dessen, wie es um den organisierten Anarchismus in Deutschland steht, war es ein ehrenvoller Versuch, der nicht vergebens war.

Denn die Hochzeit des synthetischen Anarchismus in Deutschland, welche durch die hier von mir beschriebene Phase charakterisiert wird, hat als einer von mehreren Bausteinen die Grundlage für einen sozialistischen und auf den Klassenkampf orientierten Anarchismus gelegt - selbst wenn das niemals das bewusste Ziel dieses Ansatzes war.

Ein großer Teil der Genoss:innen aus dieser Zeit, welche jetzt noch in der Bewegung aktiv sind, haben ihren Weg in die FAU oder „die plattform“ gefunden, bzw. fühlen sich auf die eine oder andere Art und Weise dem sozialistischen Anarchismus verpflichtet. Die FdA und auf regionaler Ebene die AFRR hat in dem zurückliegenden Jahrzehnt eindrucksvoll gezeigt, wie man Anarchismus eben nicht organisiert.

Beitragplattform Am Rande einer Vorstellungsveranstaltung wird am Infotisch die anarchistischen Einheitfront dargestellt. ;)

Dadurch wurde bei Vielen natürlich auch eine Suchbewegung losgetreten, welche die Fortentwicklung des Anarchosyndikalismus und das erstmalige Auftreten einer relevanten plattformistischen/especifistischen Strömung im deutschsprachigen Raum begünstigt.

Anarchistische Strukturen sollten eben nicht in erster Linie dazu geschaffen werden, um Vortragsmarathons zu organisieren, welche dann oftmals noch laienhaft und mit zweifelhaftem Inhalt daher kommen und das wird dann auch nicht dadurch wettgemacht, dass mal irgendwo ein Gemüsegarten in Selbstorganisation geführt oder eine Kundgebung zu Weiß-der-Geier-was abgehalten wird.

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, welcher als Teil der Gesellschaft entsteht. Welcher begreift, dass er aus der Gesellschaft erwächst und diese auch nur innerhalb eben dieser verändern wird. Es geht uns um die Umwälzung der gesamten Gesellschaft und eben nicht um individueller Befreiung für einige wenige „außerhalb der Gesellschaft“ in möglichst integren Wohlfühlblasen.

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, welcher sich an den Kämpfen der lohnabhängigen Klasse orientiert. Welcher soziale Kämpfe und Selbstverwaltung der Arbeiter:innenklasse als anarchistische Arbeiter:innen unterstützt und aufbaut.

1maibo1x Banner bei einem anarchistischen Block auf der DGB Demonstration am 1. Mai in Bochum, 2017

Was wir brauchen ist ein Anarchismus der es ernst meint mit der Organisation. Nicht einen der zwar von Organisation spricht, aber intern und nach außen wie ein besserer Hühnerhaufen funktioniert. Klare formelle Strukturen, klare Verantwortlichkeiten, klares Leitbild nach innen und außen, keine Angst vor Kadern, denn wie Gabriel Kuhn in seinen guten 23 Thesen des Anarchismus 2016 schon feststellte:

„Viele Anarchistinnen assoziieren Kader ausschließlich mit leninistischer Politik. Das ist unglücklich. Letztlich ist ein Kader nur eine Person, die politische Arbeit priorisiert, und es gibt einen Unterschied zwischen Aktivistinnen, die dies tun (bzw. tun können),und solchen, für das nicht gilt. Kader verdienen keine Privilegien, aber ihre Erfahrungen und ihr Engagement sind anzuerkennen – nicht ihnen zuliebe, sondern der Bewegung. Kader müssen sich auch auf revolutionäre Situationen vorbereiten, was historisch gesehen eine der größten Schwächen des Anarchismus war.“

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, der in vielerlei Hinsicht mit der linken Szene und ihrer Kultur bricht. Auch wenn dies immer wieder und von verschiedensten Seiten betont wird, scheint mir dieser Punkt nicht ansatzweise eingelöst zu werden - selbst von denjenigen nicht, welche diesen Anspruch formulieren.

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, welcher sich klar zum Sozialismus bekennt. Welcher die absurdesten Auswüchse, welche sich innerhalb der Bewegung breit gemacht haben verdrängt. Das aufständischer Anarchismus, Primitivismus und sonstiger Quark eine gewisse Relevanz erlangen konnten, werte ich auch als eine Folge der „alles ist okay, solange Anarchismus drauf steht“-Politik welche von FdA, AFRR und Co. lange Jahre betrieben wurde.

Was wir brauchen, ist ein Anarchismus welcher konsequent feministisch ist. Ein Feminismus, welcher allerdings klar abgegrenzt sein muss von dem, was in der linken Szene hegemonial geworden ist. Wir brauchen einen klaren materialistischen Grundsatz in dieser Frage, der uns vor dem Einsickern des Liberalismus bewahrt. Der Anarchafeminismus muss weiterentwickelt werden, wenn es nicht einfach nur ein besserer Szene-Feminismus sein soll.

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, der eine eigene Theoriebildung wieder aufgreift. Einfach nur möglichst viele Vorträge zu allem, was einem einfällt, aneinander zu reihen hat damit nicht im Geringsten zu tun. Wir müssen erklären können wie diese Welt funktioniert, wie wir sie verändern wollen und wie unsere gesellschaftliche Vision aussieht. Wissend schreiten wir voran.

Was wir brauchen ist ein Anarchismus, welcher nicht wahllos agiert zu dem, was gerade ansteht, oder irgendwem in den Sinn kommt, sondern der klare Ziele und Strategien verfolgt. Wir müssen dringend unsere Effektivität auf allen Ebenen des Kampfes erhöhen, um überhaupt eine Chance in den kommenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu haben.

Was wir brauchen, ist ein Anarchismus, der mit offenem Visier agiert. Welcher Gesicht zeigt, nahbar ist. Eben ganz wie das Sprichwort „Anarchismus ist machbar, Herr Nachbar“ daher kommt. Aufhören mit dem Schwarzer-Block-Herumgepose, außer es macht strategisch wirklich Sinn, schöne ordentliche, saubere Räume einrichten, offen auf die Menschen zugehen, sie zum gemeinsamen Kampf einladen und dabei nicht vergessen die Crust-Kutte zuhause zu lassen und und und...

Abschluss

Ich danke euch, ihr lieben Genoss:innen, von Herzen für die gemeinsam geteilten Kämpfe und Erfahrungen. Mein Blick auf diese Zeit ist zugegebenermaßen sehr kritisch. Dabei geht es mir je doch in keinem Fall darum, unser gemeinsames Erbe in den Schmutz zu ziehen und zu sagen „Es war alles schlecht“. Das war es ganz sicher nicht und ich hoffe, dass die Darstellung dessen mir auch gelungen ist. Letztendlich hat diese lange Erfahrung mich zu dem gemacht, der ich heute bin und Anarchismus lebt von Veränderung - diesem Grundsatz bin ich auch als Plattformist weiterhin verpflichtet. Ich finde es gut, dass sich der organisierte Anarchismus in Deutschland weiterentwickelt hat. In diesem Sinne sehe ich den synthetischen Anarchismus, die FdA und die AFRR als Entwicklungsschritt, den es brauchte, um nun neue Wege zu beschreiten.

Wie es auf unserem historischen AFRR Banner heißt, welches zu Beginn der Organisation entstand, beim G8 Gipfel im fernen Bayern verloren ging, dann auf wundersame Weise im Hambacher Forst wieder auftauchte und noch Jahre im Wald hing, ehe es schließlich von den Bullen erbeutet wurde:

Kapitalismus abschaffen!
Staaten überwinden!
Anarchismus organisieren!

PS: Spätestens, wenn der Feind die eigene Zaunfahne erbeutet, sollte man sich auch auflösen ;) Was die AFRR bis heute nicht offiziell getan hat.

Dieser Artikel hat keinen Anspruch darauf annähernd vollständig zu sein, dafür sind die Aktivitäten dieser Jahre viel zu umfangreich. Er bildet nur meine Perspektive auf eine Organisation ab, an der über die Jahre hunderte Menschen direkt beteiligt waren und viele weitere im engeren Kreis mit ihr interagierten. Außerdem liegt ein Erzählschwerpunkt auf Dortmund, was nicht nur darin begründet ist das die AFRR hier besonders stark war, sondern auch darin, dass durch meine eigene Beteiligung die Einblicke hier lebendiger sind als für andere Städte. Der Text kann nur der Beginn einer Auseinandersetzung sein und soll überhaupt erst einmal eine Grundlage liefern, die eigene Geschichte nicht zu vergessen und aus ihr zu lernen. In diesem Sinne schreibt mir gerne für Kritik, Erweiterungen und in gemeinsamen Erinnerung schwelgen.

Logo Rest in Power - AFRR!

Marian

Marian ist seit seiner Jugend in der anarchistischen Bewegung aktiv. Über die Jahre hat er alle Angebote die der Organisierte Anarchismus zu bieten hat abgeklappert von Anarchosyndikalistischer Jugend, Föderation deutschsprachiger Anarchist:innen bis die plattform - anarchakommunistische Föderation und aktuell noch Mitglied bei der Freien Arbeiter:innen Union. Lebens- und Kampfmittelpunkt ist Dortmund, dort an dem Aufbau und Entwicklung diverser wichtiger Projekte beteiligt, wie dem anarchistischen Zentrum Black Pigeon, dem anarchistischen Parkfest oder der anarchistischen 1. Mai Demonstration. Seit 2021 dann Umsetzung mit, dem Genossen Joshua, des Übertage Podcast und Teil vom anarchismus.de Kollektiv. Seit 2023 involviert in den Aufbau des Union Salon, ein neuer revolutionärer Nachbarschaftsraum in Dortmund.

Links: https://linktr.ee/uebertage

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