Vielleicht habt ihr den Begriff Postanarchismus schon einmal gehört, könnt euch aber nichts darunter vorstellen. Ich bin mir allerdings sicher, dass ihr euch schon mit postanarchistischen Ideen beschäftigt habt. Hier eine kleine theoretische Einführung.
Die Vorsilbe post- bedeutet normalerweise, dass etwas vorbei ist – aber Postanarchist:innen wollen weder die Leistung anarchistischer Vordenker:innen und Vorkämpfer:innen abwerten, noch anarchistische Ideale abschaffen. Es geht vielmehr darum, die Idee des Anarchismus für das 21. Jahrhundert anzupassen und wieder relevant zu machen. So, wie Kommunist:innen und Sozialist:innen heute mit dem Begriff der „Arbeiterklasse“ nicht mehr die Menschen erreichen, die sich damit gemeint fühlen sollen, geht auch die klassische anarchistische Theorie in einigen Punkten an der heutigen Realität vorbei. Ebenso spielen einige wichtige aktuelle Themen darin kaum eine Rolle. Das ist es, was Postanarchist:innen ändern wollen.
Mit dem Begriff Postanarchismus werden verschiedene theoretische Ansätze zusammengefasst, die versuchen, anarchistische Ideen aus einer postmodernen oder poststrukturalistischen Perspektive zu betrachten. Postmoderne bezieht sich in diesem Fall nicht auf eine zeitlich festgelegte Periode, sondern eher auf eine bestimmte Sichtweise. So lässt sich fast alles postmodern betrachten oder, besser gesagt, analysieren.
Unter anderem geht es um eine Abwendung vom Biologismus, also davon, gesellschaftliche Verhältnisse aus der „menschlichen Natur“ abzuleiten. Wenn wir einen Anarchismus vertreten wollen, der die herrschenden Strukturen wirklich angreift, sollten wir auf solche Vereinfachungen verzichten und herausfinden, wo unsere Theorien ein Update brauchen:
Der britische Politikwissenschaftler Saul Newman kritisiert die Ansicht im klassischen Anarchismus, dass der „böse“ Staat den naturgemäß „guten“ Menschen unterdrückt – so wie Thomas Hobbes einst die Theorie aufstellte, dass der „gute“ Staat die von Natur aus „bösen“ Menschen voreinander schützt. Beiden Theorien liegt ein vereinfachtes und eindimensionales Menschenbild zugrunde.(1)
Auf die Frage, wie in einer herrschaftsfreien Gesellschaft Konflikte gelöst und mit Mord, Diebstahl und anderen „Verbrechen“ umgegangen werden soll, antworten viele Anarchist:innen so: Durch die gerechtere Verteilung von Gütern, den freien Zugang zu Ressourcen und die Beteiligung aller an der Entscheidungsfindung in ihrer Gemeinschaft gäbe es ja dann so gut wie keine Auseinandersetzungen mehr und die aufkommenden Meinungsverschiedenheiten könnten im offenen Gespräch geklärt werden. Es reiche aus, die kapitalistischen und staatlichen Mechanismen abzuschaffen, die Ungleichheit und Unterdrückung hervorbringen und dann würden alle Menschen in Eintracht miteinander leben.
Stimmt das? Ist es nicht vielmehr so, dass wir alle im Kleinen und Großen bewusst oder unbewusst immer wieder Herrschaftsverhältnisse reproduzieren?
Anarchist:innen wollen Herrschaft abschaffen oder vermeiden, aber was genau ist eigentlich Herrschaft? Wo tritt sie heute auf, vielleicht in anderem Gewand als in den vergangenen Jahrhunderten? Das sind Fragen, mit denen sich der Postanarchismus beschäftigt. In ihrer deutlichsten Form wird Herrschaft zwar immer noch durch die Regierungen der bestehenden Nationalstaaten ausgeübt, doch die Art und Weise hat sich verändert: König:innen oder Diktatoren umgeben sich zumindest mit dem Deckmantel der „Volksherrschaft“ (Demokratie). Dennoch leben wir nicht in einer befreiten Gesellschaft, politische Macht speist sich nur heute aus anderen Quellen: Wo im Mittelalter die Herrscher:innen ihre Legitimität als gottgegeben oder aus ihrer adligen Abstammung herleiteten, wird heute suggeriert, dass „wir“ als Gesellschaft die Regierung akzeptieren und ihre Gesetze befolgen müssen, weil wir sie gewählt haben.
Da es „unsere“ Gesetze sind, überwachen Staatsbürger:innen sich gegenseitig und zeigen einander etwa bei Verstößen an. Auch bei ungeschriebenen Normen üben wir übereinander Dominanz aus, wenn ein Verhalten oder ein Lebensentwurf nicht unserer internalisieren Ordnung entspricht. Weiße Menschen wachsen etwa unbewusst mit dem Gedanken auf, dass sie im Gegensatz zu Schwarzen und People of Color der gesellschaftlichen Norm entsprechen oder ihnen irgendwie überlegen sind und sie kritisieren dürfen. Nichtbehinderte wachsen in dem Bewusstsein auf, dass sie Behinderte nicht miteinbeziehen müssen.
Daher ist es ein Gedanke des Postanarchismus, dass die Macht in jeder:jedem von uns wohnt, weil wir so sozialisiert wurden. Todd May bezeichnete Macht als soziale Praxis, das heißt: Wir üben Macht über andere aus und beugen uns der Macht von anderen, weil das die Spielregeln unserer Gesellschaft sind. (2) Dabei ist es keineswegs so, dass alle Mitglieder der Gesellschaft gleich viel Macht ausüben, die Macht ist im Gegenteil sehr ungerecht verteilt.
Das Wort Identitätspolitik hat in den letzten Jahren im politischen Diskurs einen negativen Beigeschmack bekommen. Nicht nur aus der konservativen Ecke ist oft zu hören, es gehe dabei eher um persönliche Befindlichkeiten, als um Gleichberechtigung. Das liegt vor allem daran, dass jene, die diese Themen geringschätzen, zu den privilegierten Gruppen gehören, die von dem bestehenden System seit Langem profitieren: Die meisten von ihnen sind weiße (Männer) aus der Ober- und Mittelschicht.
Keine:r kann bestreiten, dass Themen wie struktureller Rassismus, Gender und Behinderung zur Zeit eine große Rolle in der Politik spielen – das ist das Ergebnis jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelanger sozialer Kämpfe und radikaler Bewegungen. Genannt seien hier die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die drei großen Wellen des Feminismus und die Behindertenrechtsbewegung.
Die Postmarxisten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vertreten den Standpunkt, dass die Kämpfe dieser sozialen Bewegungen den Kampf der arbeitenden Klasse gegen die besitzende Klasse, wie er zu Zeiten von Karl Marx aktuell und für dessen politische Theorie essentiell war, abgelöst haben – das gilt auch für den anarchistischen Theoretiker Michail Bakunin, der den heutigen anarchistischen Diskurs noch immer stark prägt. Bakunin ging es um die „revolutionäre Selbstbefreiung der Massen“, dass es sich bei den unfreien Menschen keineswegs um eine homogene Masse, sondern um Individuen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen handelt, spielte für seine Theorien keine Rolle. (3) Heute wissen wir, dass die gesellschaftliche Ungleichheit keineswegs nur auf der Zugehörigkeit von Menschen zu verschiedenen ökonomischen Klassen beruht.
Die Anerkennung unterschiedlicher Lebensrealitäten aufgrund von Identitätsmerkmalen wie Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit etc. und die daraus resultierende Ungerechtigkeit ist der wichtigste Schritt auf dem Weg zur echten Überwindung dieser Unterschiede.
Poststrukturalismus heißt, dass wir über die Einordnung der Realität in abstrakte Kategorien hinausdenken können. Es ist in den wenigsten Fällen nötig und oftmals nicht hilfreich, alles in Schubladen einzuteilen – diese lassen sich nämlich gegeneinander ausspielen. Ein Beispiel hierfür ist Gender, also die Einteilung von Menschen in zwei Geschlechter aufgrund ihrer Genitalien, aber auch die Einteilung von menschlichen Tätigkeiten in Lohn- und unbezahlte Fürsorgearbeit oder die willkürliche Unterscheidung zwischen Haus- und Nutztieren.
Aus der Identität einer Person lässt sich zu einem gewissen Grad ein bestimmter Standpunkt ableiten, auch was den Gesellschaftlichen Diskurs angeht. Im Postanarchismus geht es unter anderem darum, dass es immer verschiedene Arten gibt, etwas zu betrachten. Die Objektivität von Aussagen oder Darstellungen wird hinterfragt, mehr noch: Es wird infrage gestellt, ob es so etwas wie Objektivität überhaupt gibt, oder ob nicht vielmehr jede Aussage durch den Standpunkt oder die Identität der Aussagenden eingefärbt ist.
Das betrifft unter anderem die Geschichtsforschung: Die Sieger:innen schreiben die Geschichte – wie würde sie aussehen, wenn marginalisierte Gruppen sie aus ihrer Perspektive geschrieben hätten? Wieder ein Beispiel aus der Kolonialismus- und Rassismuskritik: Im römischen Reich gab es mindestens einen nicht-weißen Kaiser (Septimius Severus) und selbstverständlich Schwarze und PoC in hohen militärischen und gesellschaftlichen Positionen (4). Durch den heute üblichen Geschichtsunterricht aber auch durch Filme und die berühmten Asterix-Comics besteht bei der Mehrheitsgesellschaft allerdings der stabile Eindruck, das römische Reich der Cäsaren sei nur von weißen Menschen bevölkert gewesen und Schwarze seien nur als Versklavte darin vorgekommen.
Die für Anarchismus zentrale Machtfrage zeigt sich auch im Begriff der „Definitionsmacht“ oder „Deutungshoheit“: Wer bestimmt, wie ein Begriff definiert wird? Wer hat die Macht, beispielsweise zu definieren, was Rassismus ist? Lange Zeit haben das vor allem weiße Menschen getan, langsam kommt uns zu Bewusstsein, dass wir (diesen Text schreibe ich ja auch aus meiner Position als weiße Frau) dafür denkbar wenig geeignet sind. Die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, ist jedoch so konstruiert, dass wir weißen denken, wir hätten die Macht zu entscheiden, was rassistisch ist und was nicht.
Kritiker:innen sagen, es sei überflüssig oder verwirrend, einen neuen Anarchismusbegriff einzuführen. Ich halte es dennoch für sinnvoll, dieser Entwicklung der anarchistischen Theorie einen eigenen Namen zu geben und uns die Begriffe und Werkzeuge des Poststrukturalismus und der Postmoderne anzueignen, denn nur, was wir benennen können, können wir auch kritisieren und ändern.
Quellen:
(1) Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power, Lexington Books,
Lanham 2001
(2) May, Todd: The Political Philosophy of Poststrukturalist Anarchism, The Pennsylvania State University Press,
University Park 1994
(3) https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/michail-bakunin/46-bakunin-1814-1876-biografie
(4) https://imperiumromanum.pl/en/article/black-people-in-ancient-rome/