Im zweiten Teil zu der aktuellen Situation folgt nun eine Übersetzung eines Erfahrungsberichtes einer Pflegekraft (aus dem Organise magazin der Anarchist Federation)
Mit Streikposten im ganzen Land ergreift das Pflegepersonal des NHS (des Nationalen Gesundheitssystems) erneut Maßnahmen, die bis vor kurzem noch unmöglich erschienen und erfreut sich dabei massenhafter Unterstützung. Während die Regierung sich hartnäckig weigert zu verhandeln, begrüßen uns Kollegen, von Physiotherapeuten bis hin zu Ärzten, herzlich - und bereiten sich ebenfalls darauf vor, ihre Arbeit niederzulegen und sich uns anzuschließen. Autofahrer hupen, wenn sie uns sehen, um ihre Unterstützung kundzutun. Menschen trotzen dem Wetter, um dringend benötigte Kaffee- und Kuchenspenden vorbeizubringen, Lieder mitzusingen, mit uns zu lachen und ihre eigenen Geschichten vom Kampf ums Überleben zu erzählen.
Man kann gar nicht genug betonen, wie außergewöhnlich das alles ist. Die Gewerkschaft Royal College of Nursing (RCN) hat in ihrer 100-jährigen Geschichte noch nie zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Tatsächlich war das RCN bis Mitte der 1990er Jahre sogar verfassungsmäßig gegen Streikmaßnahmen. Jetzt nehmen z.B. Beschäftigte des Rettungsdienstes an den größten Streiks teil, seit Thatcher in den letzten Tagen ihrer Regierung gegen die Rettungsdienste vorging und verlor.
Wie konnte es dazu kommen, dass NHS-Beschäftigte – die traditionell weniger organisiert und, im Vergleich zu anderen Arbeitern, meist unwilliger sind zu streiken – an einigen der größten und störendsten Streiks dieser Tage teilnehmen?
Wenn wir der Regierung und ihren Befürwortern und Kritikern in den Medien zuhören, dann lassen sich die Gründe letzten Endes auf zwei Dinge reduzieren: Covid und Putin. Das ist für die Tories äußerst praktisch, da sie im Großen und Ganzen damit durchkommen zu behaupten, dass nichts wirklich ihre Schuld sei - ungeachtet des katastrophalen Umgangs mit der Pandemie und des aggressiven Auftretens der NATO. Das Argument ist inzwischen jedem, vom (konservativen) GB News-Zuschauer bis zum (liberalen) Guardian-Leser, vertraut.
Durch Covid entstand ein enormer Rückstau in dem Teil der Gesundheitsversorgung, der nicht mit Coviderkrankungen zusammenhängt – und die Rückkehr zur normalen Wirtschaftstätigkeit nach der Pandemie erhöhte die Nachfrage und trieb die Weltmarktpreise in die Höhe. Zusammen mit der Invasion der Ukraine hat dies zu einer zweistelligen Inflation geführt, die sich auch auf die Budgets des NHS auswirkt.
Die Ursachen der gegenwärtigen Situation sind jedoch sowohl älter als auch tiefgründiger, als uns diese bequeme, oberflächliche Analyse glauben machen will.
Wie viele Mitglieder des Pflegepersonals erinnere ich mich noch lebhaft daran, wie ich in den Jahren vor der Pandemie eine Winterkrise (der Gesundheitsversorgung) nach der anderen durchgestanden habe, etwa in den Jahren 2017-18, als das Internationale Rote Kreuz den humanitären Notstand im NHS ausrief – in einem Gesundheitssystem, das noch vor nicht allzu langer Zeit den Neid der Welt auf sich ziehen konnte.
Auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie hörte ich zum ersten Mal den Begriff ‚moralische Verletzung’. Er beschreibt in diesem Zusammenhang die psychischen und schließlich auch physischen Auswirkungen auf das Gesundheitspersonal, wenn es wiederholt Leiden (und Tod) ausgesetzt ist, gegen die es trotz aller Bemühungen nichts unternehmen kann. Wenn ich auf meine eigene Laufbahn im Gesundheitssystem zurückblicke, hat dieses Phänomen eigentlich schon immer existiert. In den Pausenräumen, und jetzt auch auf den Streikposten, ist häufig zu hören, dass das Personal erschöpft, ausgebrannt und demoralisiert ist, weil es Tag für Tag und Nacht für Nacht einfach nicht in der Lage ist, die von ihm angestrebte Pflege zu leisten.
Die Zeit vergeht, die Auswirkungen der jahrelangen Sparmaßnahmen machen sich bemerkbar, das NHS rutscht in jeder Hinsicht in internationalen Ranglisten nach unten, das Niveau der Versorgung sinkt weiter und die ‚moralische Verletzung’ wird schlimmer.
In der Zwischenzeit kann die Regierung wahrheitsgemäß behaupten, dass sie Rekordsummen für die Gesundheit ausgibt (in Geldwerten, nicht in realen Pro-Kopf-Werten, dem einzigen Maß, das etwas gilt) – aber eine Lawine von vermeidbarem und unnötigem menschlichem Leid hat vor der Pandemie zum ersten Rückgang der Lebenserwartung seit dem Zweiten Weltkrieg geführt.
Seit den 1980er Jahren wird davon ausgegangen, dass die Gehälter von 2,5 Millionen Arbeitern des öffentlichen Sektors, einschließlich des NHS-Personals, auf Empfehlungen „unabhängiger“ Gehaltsprüfungsgremien beruhen. Jedes Jahr gibt ein von der Regierung ernanntes Gremium von „Experten“ aus den Reihen des höheren Managements und der Personalberatung Ministern Empfehlungen hinsichtlich der Löhne. Diese Empfehlungen stützen sich auf Einreichungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften und - ganz wichtig - das von der Regierung festgelegte Gesamtbudget. Zu verschiedenen Anlässen in den letzten Jahren und 2022 auch im Falle anderer Gremien hat die Regierung diese Empfehlungen, die ohnehin nie verbindlich waren, nicht akzeptiert.
Und doch bleibt die Linie der Regierung, die auswendig gelernt und von jedem wiederholt wird – sei es vom Premierminister oder vom armen, bedauernswerten ‚Juniorminister für Büroklammern’, der vor die Kameras treten muss – dieselbe: Wir können das Gremium zur Überprüfung der Gehälter nicht außer Kraft setzen. Dabei spielt es keine Rolle, dass sie es letztes Jahr im NHS oder dieses Jahr in zwei anderen Fällen dennoch getan haben – dieser Punkt wird aber gerne übersehen und der Regierung nie vorgehalten.
Und: In gewisser Hinsicht hat die Regierung völlig Recht, wenn sie sagt, dass selbst die Wiederherstellung der NHS-Gehälter auf das Niveau von 2010 unbezahlbar sei. In der Tat wären die Kosten weltbewegend. Es würde sie ihre wirtschaftliche Orthodoxie kosten, die daraus besteht, dass die Obergrenzen für Banker-Boni aufgehoben werden und Reichtum nicht besteuert wird, während viktorianische Krankheiten der Armut ihr hässliches Haupt erheben und Menschen in ihren eigenen Häusern frieren. Es würde sie ihre Positionen und ihre Macht kosten.
Weil wir seit über 30 Jahren keine Streiks dieses Ausmaßes mehr erlebt haben – und aufgrund von Verzerrungen und offenen Lügen im gesamten politischen Spektrum der Medien – fehlt es manchmal an Verständnis dafür, was diese Streiks mit sich bringen. Dies wird im NHS noch verstärkt, da der Streik in vielerlei Hinsicht beispiellos ist. Und kein Kollege, den ich getroffen habe, hat Erfahrung mit dem Streiken.
Der Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, dass hier gut bezahlte Menschen, die riesige Gehaltserhöhungen fordern, ihre Arbeit niederlegen und Patienten sterben lassen – und trotz dieser ständigen Flut von Fehlinformationen hatten die meisten Nachrichtenagenturen Mühe, Patienten zu finden, die gegen die Streiks sind. So gibt es nun eine Vielzahl von lustigen und herzerwärmenden Videoclips von BBC-Reportern, die verzweifelt versuchen, Patienten, die durch die Streiks ernsthaft beeinträchtigt werden, dazu zu bringen, die Streikenden zu verurteilen – und dabei kläglich scheitern. Ich kann empfehlen, sich diese Clips anzuschauen, wenn Du Dich mutlos fühlst und daran erinnert werden musst, dass 99 % von uns auf derselben Seite stehen.
Theoretisch sind unsere Streiks nicht so organisiert, dass alle Arbeiter streiken und bei Streikpostenketten geht es nicht darum, alle Kollegen daran zu hindern, diese zu durchqueren. Lokale Streikkomitees vereinbaren mit den Arbeitgebern einen sogenannten Schutz für „Leib und Leben“ und stellen eine bestimmte Anzahl von Gewerkschaftsmitgliedern vom Streik frei, um lebenswichtige Dienste nicht ausfallen zu lassen. In der Praxis bedeutet dies, dass etwa auf Stationen, auf denen auch ich arbeite, eine „sichere Personalausstattung“ vereinbart wird, die höher ist als an streikfreien Tagen, ein Eingeständnis, dass die Patienten in der Regel hier nicht sicher sind! Oft wird diese Personalausstattung von Kollegen, die gegen den Streik sind und die nicht der Gewerkschaft angehören, übernommen, aber die Gewerkschaft wird auch Mitglieder bei Bedarf vom Streik befreien.
An der Streikpostenkette habe ich mit Sanitätern gesprochen, die mir sagten, dass man sich auf eine 75%ige Personalausstattung geeinigt habe, wobei die Streikenden bereit seien, im Notfall von der Gewerkschaft zurückgerufen zu werden. Vor Ort hatten sie so allerdings die besten Reaktionszeiten seit Monaten. Gerade als ich dort war, erlitt jemand in einem Bus neben der Streikpostenkette einen Krampfanfall und wurde von zwanzig Sanitätern, die den Einsatz koordinierten, schnellstmöglich und so gut versorgt, wie man es noch nie gesehen hatte.
Ambulante und nicht notfallmäßige Behandlungen verzögern sich aber dennoch unweigerlich. Dies kann durchaus schwerwiegend sein, da sich Diagnosen verzögern und die Ängste der Betroffenen so zunehmen – zudem müssen diese länger auf Behandlungen warten, die ihre Schmerzen lindern würden.
Zum Leidwesen der Regierung und der Medien wissen die Menschen aber, dass diese Mängel in ihrer Gesundheitsversorgung auf die Nachlässigkeit der Tories zurückzuführen sind und dass das Pflegepersonal nicht nur für eine gerechte Bezahlung, sondern auch für ein besseres NHS kämpft. Und unsere Entschlossenheit wird so immer stärker, denn es wird deutlich, dass wir Investitionen benötigen, die über all das hinausgehen, was von der politischen Klasse unterstützt wird, wir brauchen eine radikale Überarbeitung des Gesundheits- und Sozialwesens, um gute Dienstleistungen zu schaffen, die Menschen ihr Leben lang begleiten können.
In dieser Atmosphäre von gemeinsamer Stärke, die durch kollektives Handeln entsteht, werden sich viele fragen, welche anderen unmöglichen Dinge sie erreichen können. Wie wäre es mit Gewerkschaftsführern, die ihre Mitglieder zum Kampf befähigen, anstatt ihre eigenen Privilegien zu verteidigen? Oder eine Labour-partei, die diesen Namen verdient? Oder Streiks, die nicht nur darauf abzielen, die Arbeiter vor Angriffen zu schützen, sondern deren Interessen tatsächlich weiter voranzubringen? Oder Aktionen, die Arbeiter, die mit ähnlichen Kämpfen konfrontiert sind, zusammenbringen und die folgende zahlenmäßige Stärke nutzen, um tatsächlich zu gewinnen? Vielleicht sogar, um das Wort laut auszusprechen, die immer noch nur am Rande von TUC (Trades Union Congress, eine Föderation von Gewerkschaften)-Sitzungen in gedämpften Tönen erwähnt werden: Generalstreik.
Der Druck der Belegschaften hat bereits alle 14 Gewerkschaften des Gesundheitswesens dazu gezwungen, sich kollektiv zu weigern, mit dem diesjährigen Lohnprüfungsausschuss zusammenzuarbeiten. Und die jüngste Anti-streik-gesetzgebung der Regierung provoziert eine koordinierte und eskalierende Reaktion. Indem sie nämlich verhindern will, dass bisher legale Aktionen durchgeführt werden können, könnte sie viele Menschen zu einem Aufstand verleiten.
Für die herrschende Klasse ist das, wofür Pflegepersonal und andere NHS-Beschäftigte kämpfen, gefährlich: sie kämpfen für ein Land, in dem man davon ausgehen kann, dass man eine hervorragende und rechtzeitige medizinische Versorgung erhält, wann immer man sie braucht, in dem die Sozialfürsorge funktioniert, in dem Verkehrsmittel erschwinglich und zuverlässig sind, in dem die Privatisierung nicht den universellen Postdienst ersetzt, in dem Heizen und Essen ein Recht und kein Privileg sind.
Unsere moderateste Forderung ist: Wir wollen alles verändern.