Im Vereinigten Königreich wird seit mehreren Monaten in privaten und öffentlichen Sektoren gestreikt – und die Streikbewegung wächst kontinuierlich – am 1. Februar waren 500.000 Menschen auf der Straße, um u.a. für Lohnerhöhungen inmitten einer Krise der Lebenshaltungskosten zu streiken.
Um die Realität dieser Streiks aus erster Hand zu erfahren und zu verstehen, veröffentlichen wir hier im ersten Teil die Übersetzung einer kurzen Analyse der grundsätzlichen Streiksituation im Vereinigten Königreich von der klassenkämpferischen Gruppe Angry Workers
Die Krise nach der Bekanntgabe des „Mini-Haushalts“ (der ehem. Premierministerin Liz Truss und des ehem. Schatzkanzlers Kwasi Kwarteng im September 2022), einschließlich der Abstrafung durch den IWF und der jüngsten Zinserhöhung der Bank of England gegen „Inflationserwartungen“, geben den aktuellen Streiks einen besonderen politischen Kontext. Die Regierung des Vereinigten Königreichs, die sich in einer international schwachen Position befindet, reagiert auf diesen strukturellen Druck, indem sie wiederum Druck auf die lokale Arbeiterklasse und deren Forderungen ausübt, um Märkte und internationalen Regulierungsbehörden zu beschwichtigen.
Zusätzlich zu diesen Zusammenhängen, existiert für die Regierung eine politische Notwendigkeit, bestimmte Streiks niederzuschlagen, da sie entweder wichtige Bezugspunkte für die breitere Klasse und/oder Bollwerke gegen Umstrukturierungen sind. Wir beziehen uns hier vor allem auf die aktuellen Streiks bei der Bahn und der Post. Und dies erklärt auch die Bemühungen der Regierung, den Streik des nationalen Gesundheitssystems NHS von diesen beiden anderen größeren Auseinandersetzungen abzuspalten, indem sie die Pflegepersonalgewerkschaft RCN mit symbolischen, „einmaligen“ Zuwendungen beschwichtigen will.
Zudem finden die Streiks auch in einem gewissen politischen Vakuum statt, da die Labour-Partei sich von den Streiks distanziert und diese sogar mehrmals angegriffen hat. Dies eröffnet eigentlich einen möglichen Raum für die breite Neufindung einer Politik der Arbeiterklasse.
Stattdessen bleiben Kampagneninitiativen wie „Enough is Enough“ Ausdruck einer „Labour ohne Labour“-Politik mit einer symbolischen Plattform von Forderungen. Während weitere gesellschaftliche Themen wie steigende Energie- oder Wohnungspreise in den aktuellen Streiks naturgemäß auftauchen, neigen die Gewerkschaften dazu, sie von den Arbeitskonflikten (und der Macht und Kollektivität der Arbeiter) zu isolieren, da „politische“ Streiks als illegal gelten. Andererseits bleiben Kampagnen wie „Don't Pay“ ohne die Macht der Arbeiter in ihrer Funktion als Arbeiter wirkungslos.
Der politische Kontext dieser Streiks und die strukturellen Restriktionen der Regierung äußern sich in der Verschärfung der Streikgesetze, dies bedeutet z.B., dass Einsätze von Leiharbeitern zugelassen werden oder bestimmte Dienste zu einem Mindestmaß an Einsatz gezwungen werden. Die Notwendigkeit, eine Gesetzmäßigkeit der Arbeiterklasse gegen das bürgerliche Recht durchzusetzen, wird zu einer pragmatischen Erwägung der Streiks, zu einer konkreten Notwendigkeit, um einen Konflikt zu gewinnen. Während einige Gewerkschaftsfunktionäre von der Notwendigkeit sprechen „das Gesetz zu brechen“, schreckt die Gewerkschaft als Institution davor zurück. Es ist unsere Aufgabe, die realistischen Auswirkungen und Limitationen dieser Streikgesetze (z. B. die Nichtverfügbarkeit von Leiharbeitern) zu verstehen und zu überlegen, wie sie praktisch überwunden werden können.
Auch die Tatsache, dass immer mehr Gewerkschaftsfunktionäre von der Notwendigkeit einer „koordinierten Aktion“ sprechen, zeigt, dass sich die Bürokraten bewusst sind, dass die Streiks sektorenübergreifende Solidarität erfordern. Gute und dauerhafte Siege werden ansonsten nicht möglich sein. In der Praxis untergraben die Gewerkschaften diese Solidarität jedoch allzu oft, z.B. wenn die CWU (Communication Workers Union) einen Konflikt bei BT (British Telecom) „beilegt“, während ihre Mitglieder bei der Post immer noch weiterkämpfen; oder wenn die Gewerkschaft Unison empfiehlt, das Lohnangebot des NHS zu akzeptieren, während die Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing) versucht, einen Arbeitskampf für mehr Lohn zu organisieren. Des Weiteren und in einem größeren Maßstab betrachtet wurden hier auch die jüngsten Streiks z.B. der Hafenarbeiter und andere Auseinandersetzungen in strukturell starken Bereichen nicht zur Unterstützung der Arbeitnehmer in schwächeren Sektoren genutzt.
Ähnlich wie beim "Striketober" in den USA erleben wir eine Zunahme der Streiks im privaten Sektor und eine Generation von Arbeitern, die noch nie zuvor gestreikt haben: vor allem die Tausenden von NHS-Beschäftigten während der jüngsten zweitägigen Streiks.
Neben den verschiedenen pragmatischen Fragen, die die Streiks selbst aufwerfen - die Frage des Verhältnisses zwischen „gesellschaftlichen Fragen“ und Fragen des Arbeitsplatzes, die Herausforderungen der bürgerlichen Streikgesetze und die Notwendigkeit einer organischen Koordination der Streiks - könnte die Tatsache, dass sich neue Arbeiter beteiligen, auch eine neue Dynamik entstehen lassen. Dies alles bedeuten jedoch auch, dass der Macht der Gewerkschaften entgegengetreten werden muss, da diese (um sich an die gesetzlichen Vorgaben zu halten) bestimmen, wie Kämpfe geführt und Entscheidungen getroffen werden.
Quantitativ gesehen hat es seit Ende der 1980er Jahre nicht mehr so viele gleichzeitige Streiks wie jetzt gegeben. Dies scheint politisch wichtiger zu sein als die Tatsache, dass im Jahr 2011 aufgrund einiger weniger großer Arbeitskämpfe mehr Arbeitsstunden verloren gingen als bei den aktuellen Streiks. Während wir eine Zunahme der Streikaktivität im sogenannten privaten Sektor beobachten, was eine neue Entwicklung ist, finden diese Streiks häufig in ehemals öffentlichen Unternehmen statt, die privatisiert wurden, wie etwa die Post oder die Bahnunternehmen. Es gibt außerdem eine regionale Konzentration von Streiks, was bedeutet, dass Differenzen in Bezug auf regionale Entwicklungen noch nicht überwunden sind. Und insgesamt betrachtet werden die meisten Konflikte mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate beigelegt, was ein Indikator für das derzeitige Kräfteverhältnis und die Wirksamkeit der Streiks ist.
Nicht zuletzt stellt die Streikwelle die Frage nach unserer eigenen Rolle als kämpfende Arbeiterklasse, die einen grundlegenden sozialen Wandel hin zu einer klassenlosen Gesellschaft will. Linke Organisationen wollen die Streiks oft nur bejubeln und zur „Ausweitung“ aufrufen, ohne sich ausreichend auf die internen Fragen und Probleme der Streiks zu konzentrieren und ohne eine allgemeine Strategie hinsichtlich der Wirksamkeit des Streiks zu diskutieren. Sie nutzen die Streiks vor allem als Resonanzboden und Rekrutierungsfelder und wollen niemandem auf die Füße treten, vor allem nicht den Gewerkschaftsfunktionären. Es mangelt deutlich an Foren, in denen die Arbeiter ihre eigenen Streiks selbstkritisch reflektieren können. Neben der unmittelbaren praktischen Unterstützung sollte es derzeit unsere Hauptaufgabe sein, bei der Schaffung solcher Räume mitzuhelfen.