Interview: Iranische Anarchisten über die Proteste gegen den Polizeimord an Mahsa Amini


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Veröffentlicht am 23. September 2022 - FedrationTags: Feminismus, International, Iran, Naher Osten von Black Rose/Rosa Negra - International Relations Committee

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Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Mahsa Amini von einer Streife der iranischen Sittenpolizei verhaftet. Mahsa wurde in Teheran aufgrund einer Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften in Gewahrsam genommen. Drei Tage später, am 16. September, informierte die Polizei Mahsas Familie, dass sie angeblich "Herzversagen erlitten" hätte, in ein zweitägiges Koma gefallen und danach verstorben sei. Augenzeugenberichten , einschließlich Angaben ihres eigenen Bruders, bestätigen jedoch, dass sie bei ihrer Verhaftung brutal geschlagen worden sei. Durchgesickerte medizinische Untersuchungen zeigen, dass sie eine Gehirnblutung und einen Schlaganfal infolge eines Schädel-Hirn-Traumas aufgrund der ihr zugefügten Verletzungen erlitten hat, die letztendlich zu ihrem Tod führten. In den Tagen nachdem diese Details öffentlich gemacht wurden, kam es im gesamten Iran zu Massendemonstrationen, die Mahsas Ermordung durch Kräfte der Polizei anprangern. Um diese sich schnell ändernde Lage besser zu verstehen, führten wir ein sehr kurzes Interview mit der Federation of Anarchism Era durch, einer Organisation, die über Sektionen im Iran wie auch Afghanistan verfügt. Dieses Interview wurde zwischen dem 20.09.2022 und dem 23.09.2022 geführt.

Black Rose/Rosa Negra (BRRN): Bitte gebt uns zunächst eine kurze Beschreibung der Anarchist Federation of Era.

Federation of Anarchism Era (FAE): Die Federation of Anarchism Era ist eine lokale anarchistische Föderation, die im sogenannten Iran, Afghanistan und weiteren Ländern aktiv ist. Unsere Föderation gründet auf dem Synthetischen Anarchismus und heißt alle anarchistischen Tendenzen willkommen, außer nationalistischen, religiösen, kapitalistischen oder pazifistischen Neigungen. Unsere langjährige Organisationserfahrung innerhalb extrem repressiver Umgebungen wie dem Iran haben uns dazu gebracht, insurrektionistische Organisations-Taktiken und Philosophien zu entwickeln und einzusetzen. Wir sind eine atheistische Organisation und sehen die Religion als hierarchische Struktur an, die älter und langlebiger ist als fast alle anderen autoritären Systeme und dem Kapitalismus wie auch anderen autoritären sozialen Strukturen, welche die Menschheit heute versklaven, viel zu ähnlich ist. Von unserem Standpunkt aus schließt der Klassenkampf auch den Kampf gegen den Klerus mit ein, der uns unserer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt indem er festlegt, was heilig und was ein Tabu sein soll und diese Festlegung mittels Zwang und Gewalt durchsetzt.

BRRN: Wer war Mahsa Amani? Wann, warum und wie wurde sie getötet?

FAE: Mahsa Amini, in ihrer Familie Jina genannt, war ein ganz normales 22-jähriges kurdisches Mädchen aus der Stadt Saghez (Saqez) in Kurdistan. Sie ist mit ihrer Familie nach Teheran gereist, um andere Familien zu besuchen. Am 13. September wurde sie, während sie mit ihrem Bruder, Kiaresh Amini, unterwegs war, von der Sittenpolizei aufgrund eines "nicht ordnungsgemäßen Hidschāb" verhaftet. Ihr Bruder versuchte, gegen die Festnahme Widerstand zu leisten, aber die Polzei setzte Tränengas ein und schlug ihn ebenfalls. Viele andere in Gewahrsam befindliche Frauen wurden Zeuginnen dessen, was im Polizeiwagen passierte. Auf dem Weg zum Polizeipräsidium kam es zwischen verhafteten Frauen und Polizisten zu einem Streit. Mahsa Amini war eines der Mädchen, die gegen ihre Verhaftung protestierten. Sie sagte, dass sie nicht aus Teheran käme und daher freizulassen sei. Die Polizei setzte körperliche Gewalt ein, um alle verhafteten Frauen zum Schweigen zu bringen. Mahsa wurde ebenfalls geschlagen. Augenzeugen zufolge schlugen die Polizisten Mahsas Kopf hart an die Seitenwand des Polizeiwagens. Bei der Ankunft am Quartier der Sittenpolizei (Moral Security Agency) war sie noch bei Bewusstsein, aber die anderen verhafteten Frauen sahen, dass es ihr sichtlich schlecht ging. Die Polizei war völlig gleichgültig und beschuldigten sie, ihren Zustand nur vorzuspielen. Die Frauen protestierten, dass Mahsa die medizinische Hilfe bekommen müsse, die sie brauchte. Der Protest wurde von der Polizei mit Gewalt beantwortet. Mahsa Amini wurde ein weiteres Mal brutal von der Polizei geschlagen und verlor an diesem Zeitpunkt das Bewusstsein. Die Polizei bemerkte das und versuchten sie mittels Herzdruckmassage und Hochlagern und Massage ihrer Beine wiederzubeleben. Nachdem diese Reanimationsversuche versagten, griff die Polizei die anderen Frauen an um alle Mobiltelefone und Kameras zu beschlagnahmen, mit denen der Vorfall hätte aufgenommen werden können. Nach langer Verspätung und dem Wiederauffinden der verlorenen Schlüssel für den Rettungswagen wurde Masha in das Kasra-Krankenhaus gebracht. Die Klinik, in die Mahsa Amini eingeliefert wurde, behauptete in einem Instagram-Post, dass Mahsa bei Einlieferung bereits hirntot gewesen sei. Dieser Instagram-Post wurde später gelöscht. Am 14. September erzählte ein Twitternutzer mit einem Freund, der im Kasra-Krankenhaus arbeitet, die Geschichte, dass die Polizei den Ärzt*innen, Pfleger*innen und Angestellten bedrohte, dass sie auf gar keinen Fall Bilder oder Videos aufnehmen dürften, aber Mahsas Eltern über die Todesursache ihrer Tochter zu belügen hätten. Die Angestellten des Krankenhauses waren eingeschüchtert und folgten den Anweisungen der Polizei. Sie belogen die Eltern dahingehend, dass Mahsa in einen "Unfall" verwickelt gewesen sei und nun seit zwei Tagen mit lebenserhaltenden Maßnahmen auf der Intensivstation läge. Mahsa wurde am 16. September für tot erklärt. Die medizinischen Scans, die von Hacktivist*innen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, zeigen als Todesursache Knochenbrüche, Blutungen und Hirnödeme.

BRRN: Spielte die Tatsache, dass Mahsa eine Kurdin war, eine Rolle in ihrer Verhaftung und ihrem Tod?

FAE: Zweifellos spielte die Tatsache, eine Kurdin in Teheran zu sein, eine Rolle an Mahsas späterem Tod. Aber dies ist eine Realität, die alle Frauen im Iran erfahren. Wir müssen nicht lange suchen, um Videoaufnahmen zu finden, auf denen die Sittenpolizei Frauen zusammenschlägt und in Polizeiwagen zwingt, Frauen aus fahrenden Autos auf die Straße wirft, und auf denen sie von Hidschāb-tragenden Frauen aufgrund ihres "unanständigen Hidschābs" belästigt werden. Diese Videos zeigen nur einen kleinen Bruchteil jener Hölle, die Frauen im Iran erfahren. Dass Mahsa am Tag ihrer Verhaftung mit ihrem Bruder unterwegs war, war kein Zufall. In der patriarchalen Gesellschaft des Irans müssen Frauen einen männlichen Verwandten, sei es der Vater, der Ehemann, Bruder oder Cousin bei ihren Erledigungen mitnehmen um sich die Sittenpolizei vom Hals zu halten und möglicherweise übergriffige Individuen in der Öffentlichkeit abzuschrecken. Junge Pärchen dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht beim einander nahe kommen sehen lassen, andernfalls riskieren sie von der Sittenpolizei geschlagen und verhaftet zu werden. Frauen aufgrund des Tragens von Lippenstift und Nagellack zu verhaften war eine Realität, an die sich viele von uns Millennials im Iran plastisch erinnern. Die Bedrohung, Opfer eines Säureangriffs aufgrund eines "schlechten Hidschābs" zu werden, ist ein weiterer Albtraum, den Frauen im Iran erdulden müssen. Alle Frauen leiden unter dem Patriarchat und der religiösen Autokratie.

BRRN: Wie haben die Menschen im Iran von Mahsas Tod erfahren? Was war die anfängliche öffentliche Reaktion?

FAE: Wie wir vorhin ausgeführt haben, gab es zu viele Augenzeugen. Keine Drohung hätte das Durchsickern der Geschichte von Mahsas Tod verhindern können. Es sollte erwähnt werden, dass der Arzt, der sich um Mahsa gekümmert hatte, sowie der Fotojournalist, der Mahsas Zustand und die Qualen ihrer Familie festhielt, beide verhaftet worden sind. Ihr derzeitiger Zustand und Aufenthaltsort sind unbekannt. Die anfängliche Reaktion war Empörung. Die Leute teilten bereits Mahsas Geschichte vom 14. September, aber da war die Empörung noch nicht stark genug für Proteste und Revolten. Die Leute dachten noch, Mahsa läge noch im Koma und dass es Hoffnung auf Genesung gäbe. Dann wurde sie am 16. September für tot erklärt. Als erstes gab es kleine Kundgebungen vor dem Kasra-Krankenhaus, die von der Polizei aufgelöst wurden. Die Funken des jetzigen Aufständes wurden in Saghez, Mahsas Heimatstadt, entzündet.

BRRN: Welche Größenordnung haben die jetzigen Demonstrationen? In welchen Regionen des Landes haben sich die Demos konzentriert?

FAE: Die Lage ist sehr dynamisch und ändert sich ausnehmend schnell. Zum Zeitpunkt als wir dieses schreiben, haben die Flammen des Aufstandes 29 der 31 Provinzen des Iran in Brand gesetzt. Ein Hauptcharakteristikum dieses Aufstandes ist, dass er sich in den großen Städten des Iran, wie Teheran, Täbris, Isfahan, Ahvaz, Rascht und anderen sehr schnell ausbreitete. Ghom und Maschhad, die ideologischen Festungen des Regimes, haben sich dem Aufstand angeschlossen. Die Insel Kisch, das kapitalistische Zentrum des Kommerz für das Regime, hat ebenfalls revoltiert. Dies ist der facettenreichste Aufstand, den wir in den letzten Jahren erlebt haben. Am 23. September planen die Syndikalisten einen Generalstreik um die Proteste zu unterstützen. Das Regime hat seinerseits eine bewaffnete Demonstration für den selben Tag geplant. Es passiert viel.

BRRN: Wie hat der iranische Staat auf diese Demonstrationen reagiert?

FAE: Die erste Reaktion des Regimes war weniger brutal als wir von früher kannten. Ein Grund ist, dass sie auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Sie haben keine derart starke Reaktion erwartet. Wichtiger ist jedoch, dass Ibrahim Raisi zur Zeit bei den Vereinten Nationen weilt. Die Abwesenheit höherer Autoritätsträger, die öffentliche Verbreitung von Mahsa und den Protesten, und der Druck der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf dem Regime haben ein Massaker bis jetzt verhindert. Aber versteht uns nicht falsch. Die Polizei hat seit dem ersten Tag der Proteste viele Leute getötet und verwundet. Manche davon waren 10-jährige Kinder und 15-jährige Teenager. Aber wir haben auch den November 2019 erfahren, als das Regime viele Tausend Menschen in drei Tagen massakrierte. In sämtlichen früheren Auständen war die Polizei nicht das direkte Ziel des Zorns der Menschen. Dieses mal nicht. Dieses Mal sind sie die Bösewichte, und die Menschen sind nun auf ihr Blut aus. Das zermürbt sie körperlich und geistig, was wir als gute Nachricht auffassen. Jetzt gerade erfahren Saghez und Sanandadsch skrupellose Niederschlagung. Das Regime hat Panzer und schwere Militärfahrzeuge hinbeordert, um den Aufstand dort Niederzuschlagen. Es gibt zahlreiche Berichte, denen zufolge mit scharfer Munition auf Protestierende geschossen wird. Die Proteste laufen noch. Polizeiautos werden umgeworfen. Polizeiposten werden bestiegen und niedergebrannt. Wir müssen uns lediglich bewaffnen indem wir ihre Arsenale plündern. Dann beginnen wir eine komplett neue Phase der Revolte.

BRRN: Ist es zutreffend zu sagen, dass die Demonstrationen feministischer Natur sind?

FAE: Ja, absolut. Wie bei allen anderen Aufständen, gab es Entwicklungen und Bewegungen, die unter der Oberfläche stattfanden. Man kann sagen, dass das rezente harte Durchgreifen bei Hidschābs und die gesteigerte Brutalität der Sittenpolizei als Antwort auf die spontane, autonome und feministische Selbstorganisation der Frauen des Iran sind. In diesem Jahr begannen iranische Frauen Geschäfte und Personen, wie beispielsweise Cafés zu blacklisten, die den Hidschāb streng vorschreiben. Die Bewegung war dezentral und ohne Anführer*innen, mit der Absicht sichere Orte für Frauen und Menschen der LGBTQ-Gemeinschaft zu schaffen. Die brutale Unterdrückung erreichte in diesem Moment den Höhepunkt, als Frauen überall ganz vorne dabei sind, ihre Kopftücher verbrennen und ohne Hidschāb Polizisten verprügeln. Das Hauptmotto des Aufstandes ist außerdem "Frau, Leben, Freiheit", ein Slogan aus Rojava, einer Gesellschaft deren Ambitionen auf anarchistischer, feministischer und säkulärer Ideologie gegründet sind.

BRRN: Welche politischen Elemente (Organisationen, Parteien, Gruppen) sind in den Demonstrationen vertreten, sofern überhaupt welche dabei sind?

FAE: Viele Organisationen, Parteien und Gruppen versuchen, die Proteste für sich einzunehmen oder zu ihrem eigenen Vorteil bei jedem Aufstand zu beeinflussen. Die Mehrheit von ihnen traf auf ein unüberwindbares Problem während dieses Aufstandes. Erstens: Die Monarchist*innen. Resa Pahlavi, der stinkfaule Sohn des sehr toten früheren Schah des Iran, ein Individuum, dass durch gestohlenes Geld und Mediennetzwerke außerhalb des Irans gestützt wird, rief einen nationalen Trauertag inmitten öffentlicher Empörung und anfänglicher Proteste aus anstelle seine Ressourcen zur Unterstützung der Revolte einzusetzen. Die Menschen sehen in ihm endlich den Scharlatan, der er eigentlich ist. "Tod den Unterdrückern, ob Schah oder Führer!", wurde überall im Iran gehört. Zweitens: Die Volksmudschahedin (MEK, Mujahedin Kalk). Die MEK haben ein ideologisches Problem mit diesem Aufstand. Sie sind eine Sekte, deren weibliche Mitglieder gezwungen sind, rote Kopftücher zu tragen. Ihre Ursprungsgeschichte beinhaltet die Vermischung marxistischer und islamistischer Ideologien, das Hijacking durch Marx-Leninisten vor 1979, und die Entwicklung der heutigen Sekte im Dienst kapitalistischer und imperialistischer Staaten. Aber die Frauen im Iran verbrennen ihre Kopftücher und den Koran. Die MEK haben in diesem politischen Klima nichts zu melden. Drittens: Die kommunistischen Parteien, die Rojava verachten und immer schlecht davon sprechen. Ihre widerlegte und verrostete Klassenanalyse hilft ihnen nicht, die Herzen der Menschen hier zu gewinnen. Trotz ihrem Gerede und ihrer Propaganda, dass sie Fürsprecher*innen des Säkularismus und des Feminismus seien, haben sie nicht einen einzigen Slogan zum Thema der Frauenbefreiung. Und ihre Ideologie hinderte sie daran, sich den "Frauen, Leben, Freiheit!"-Chören anzuschließen. Sie hatten nichts zu sagen, also hielten sie den Mund. Daher ist ihre Präsenz in den heutigen Protesten viel schwächer. Die anarchistische Bewegung im Iran wächst. Dieser Aufstand, ohne Anführer*innen, feministisch, antiautoritär, und mit dem Rufen von Rojavas Slogans, führte dazu, dass Anarchist*innen, sowohl im Zusammenhang mit der Föderation als auch solche, die nicht im Bund mit der Föderation stehen, eine starke Rolle in diesem Aufstand spielen. Leider sind aber auch viele von ihnen verhaftet und verwundet worden. Wir arbeiten daran, dass antikapitalistische Potential dieser Bewegung Wirklichkeit werden zu lassen. Weil die Islamische Republik ein Todeskult ist, und Religion, Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus ihre ideologischen Stützpfeiler sind. Wenn wir leben wollen, müssen wir frei sein; und das kann ohne die Befreiung der Frauen als allererstes nicht gelingen.

BRRN: In Solidarität. Danke euch für eure Zeit.

FAE: Solidarität.

Übersetzt mit der Hilfe des anarchismus.de Kollektivs

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