Im einem tristen Hochhaus der Bremer „Gartenstadt“ Vahr mit der Nummer 11 verbrachte Erna Sauerbrey ihre letzten Lebensjahre, ohne dass die Bedeutung ihrer Person nachträglich jemandem aufgefallen wäre. „Ihre“ moderne und graue Straße wurde nach dem sozialdemokratischen Politiker Kurt Schumacher benannt, der seinerseits um sich herum reichlich Rummel trieb. Sauerbrey hatte einen kurzen, aber betonreichen Weg durch den zunehmenden Straßenverkehr über eine Ampelanlage hin zum Einkaufszentrum „Berliner Freiheit“ und zurück zur Wohnung. Vielleicht fuhr sie auch eine Station mit der Straßenbahn. Ihr Tod wurde lediglich standesamtlich vermeldet, eine Todesanzeige erhielt sie nicht. Sie starb am 4. Juni 1985.(1)
Bescheiden waren die allermeisten Arbeiterinnen und Arbeiter. Um ihre eigene Person machten sie nicht viel Aufhebens, auch wenn ihre mutigen Taten uns heute vollen Respekt abverlangen. Ihnen schien ihr Mut nicht geschichtsträchtig, sondern selbstverständlich und darum schwiegen sie.
Hätte sie keinen „Antrag auf Wiedergutmachung“ stellen müssen, wäre sie noch jetzt eine von vielen Namenlosen, denen wir gleichwohl viel zu verdanken haben. Wir ahnen, dass es für die Untaten von 1933-1945 weder angemessene Entschädigungen noch Wiedergutmachung gibt. Aber vom Naziregime politisch Verfolgte waren finanziell auf „Entschädigungen“ vom Staat angewiesen. Dazu mußten sie in meist langjährigen Verfahren einen entwürdigenden und kräftezehrenden Papierkrieg mit dem „Landesamt für Wiedergutmachung“ führen. Dieses hielt das Prozedere in sogenannten „Entschädigungsakten“ fest. In ihrem Antrag mußte Erna Sauerbrey die Gründe für die politischen Verfolgungen darlegen. Nur dadurch erhalten wir ein kleines Portrait von ihr, das in Leipzig beginnt.
Die Stadt Leipzig mit Umgebung gehörte in den 1920/30er Jahren zu den Hochburgen des Anarcho-Syndikalismus in Deutschland. Eine regionale Studie dazu könnte sich mannigfaltiger und spannender Kapitel erfreuen. Neben der Gewerkschaftsbewegung „Freie Arbeiter-Union Deutschlands“ (FAUD) entstand dort 1928 für das Bildungswesen die „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“, die ein Jahr später auf viele Städte des Reichsgebietes ausgeweitet wurde. Sie war eng an die FAUD angegliedert, veranstaltete öffentliche Lesungen, u.a. mit Theodor Plievier, Helene Stöcker, Bruno Vogel, Rudolf Rocker, Erich Mühsam, Helmut Rüdiger oder Emma Goldman und versorgte die Mitglieder mit günstiger Literatur, auch mit eigenen Verlagsprodukten. Bruno Vogel beispielsweise thematisierte in seinem Erstlingsroman „Alf“ die homosexuelle Liebe. Die Leipziger Gilde hatte ein eigenes Ladenlokal mit Bibliothek für Veranstaltungen und zum Buchverkauf. Unermüdlich aktiv im Kultur- und Bildungsbereich war der lokale Protagonist Arthur Holke,(2) den die Nazis 1940 ermordeten und dem 2013 in der Zentralstraße 11 ein Stolperstein verlegt wurde.(3) Bis 1913 gab er die Zeitschrift „Der Anarchist“ heraus, ab 1930 baute er das Reichsarchiv der FAUD auf.(4) Wenige Jahre bestand auch ein „Syndikalistischer Frauenbund“, der sich für die Interessen der Hausfrauen einsetzte. Führend waren die Leipziger Genossen zudem im Aufbau einer anarcho-syndikalistischen Kinderbewegung durch Paul Bauer, u.a. 1929 mit der Herausgabe der Zeitung „Proletarisches Kinderland“ bzw. „Das Arbeiterkind“.(5) Darüberhinaus wirkten sie in der proletarischen Freidenkerbewegung.(6) Einer freiheitlich-emanzipatorischen Persönlichkeitsentwicklung sollte demnach nicht mehr viel im Wege stehen.
Erna Sauerbrey wurde als uneheliches Kind am 25. Februar 1913 in Köthen geboren und wuchs in Leipzig auf.(7) Sie zählte erst zehn Jahre, als Willi Domprobst und Arno Feist – Mitglieder der Leipziger „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend“ (SAJD) – während einer Protestkundgebung auf dem Augustusplatz von der Polizei erschossen wurden. Feist war erst 16 Jahre alt.(8)
Die „Reichsinformationsstelle“ (Sekretariat) der Organisation sowie ihr kleiner Verlag „Junge Anarchisten“ befanden sich in den 1920er Jahren u.a. in Leipzig, betrieben vom Multifunktionär Richard Thiede. Dort gaben sie im ersten Jahr ihres Bestehens ihre Monatszeitung „Junge Anarchisten“ in mehreren tausend Exemplaren Auflage heraus. Innerhalb der Jugendorganisationen ist generell eine weitgehend gleichberechtigte Aktivität von jungen Frauen und Männern überliefert. Ob das auch für Leipzig galt? Erna Sauerbrey jedenfalls trat dort ein und sollte für später nützliche Kontakte knüpfen können. Hörte sie Rudolf Rocker, der am 1. Mai 1928 sprach? Hörte sie Emma Goldman, die noch im März 1932 auftrat?(9) Keine Frage: In Leipzig war mächtig was los.
Erna Sauberbrey engagierte sich in FAUD, SAJD, bei der proletarischen Freidenkerjugend und als Betreuerin in der anarcho-syndikalistischen Kindergruppe. Von 1927 bis 1929 machte sie am Leipziger Pestalozzi-Fröbel-Seminar eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, arbeitete jedoch auch als Bürokraft und wurde 1932 erwerbslos.(10) Zu Beginn der 1930er Jahre kamen bereits viele Funktionäre der örtlichen FAUD und der anarcho-syndikalistischen Kulturorganisationen aus der Jugendbewegung, so auch der Leipziger Nachwuchstheoretiker Gerhard Wartenberg, der 1931 vor den Nazis warnend die Broschüre „Über Hildburghausen ins Dritte Reich“ verfasste. Überhaupt entwickelten die Anarcho-Syndikalisten im Rahmen ihrer vielfältigen regionalen Strukturen eine rege publizistische Tätigkeit. In Leipzig hatten die FAUD, die Gilde freiheitlicher Bücherfreunde und die Gemeinschaft proletarischer Freidenker Anfang 1933 jeweils noch wenige hundert Mitglieder, der Syndikalistische Frauenbund und die Kindergruppe 50 und die SAJD 25 Mitglieder.(11)
Gegen die Ernennung von Nazis und Deutschnationalen in die Reichsregierung 1933 kam kein Generalstreik zustande, wie ihn die FAUD forderte. Die Sozialdemokraten wollten abwarten und sich ggf. mit den Nazis arrangieren. Daraufhin organisierten auch die Kommunisten keine überregionalen Streikaktionen. So blieb nur die Auflösung der anarcho-syndikalistischen Organisationen, um Vermögenswerte zu retten, sowie die Umstellung auf die Illegalität. Es zeichnet insbesondere auch die Nachwuchsarbeit aus, dass nach 1933 die Geschäftskommission der FAUD nach Leipzig verlegt werden konnte. Ferdinand Götze (geb. 1907) war 1933/34 ihr Obmann, seit 1934 der ehemalige Jugendfunktionär Richard Thiede (geb. 1906). Erna Sauerbrey war 20 Jahre jung und zahlte in die illegalen Unterstützungsfonds für verfolgte Genossen und deren Angehörige ein. Vermutlich hatte sie bereits regionale Kontakte, u.a. zur regionalen SAJD-Funktionärin Hilde Bauer nach Chemnitz. Die dortige Widerstandsgruppe der FAUD spezialisierte sich auf illegale Grenzgänge. Das beinhaltete u.a. Fluchthilfe und das Einschleusen illegaler Zeitschriften. Dazu fuhren sie über den tschechischen Grenzposten Schmiedeberg zum Verbindungsmann Hans Pöschl, im Winter mit Skiern. Das ging verhältnismäßig lange gut, da die anarcho-syndikalistischen Organisationen im Gegensatz zu den kommunistischen Widerstandsgruppen nicht mit Spitzeln durchsetzt waren. Die Chemnitzer tarnten sich als Skatgesellschaft. Ihr Netzwerk sollte erst 1935/36 nach und nach aufgerollt werden, wobei die belastenden Hinweise von außen kamen. Bis dahin kamen Tarnschriften („Eßt deutsche Früchte“ oder „Deutschtum im Ausland“) aus den Niederlanden. Dort befand sich seit 1933 die Auslandsleitung der FAUD, die mit den Genossen in Amsterdam ein Büro unterhielt, Flüchtende versorgte und Zeitungen druckte. Diese wurden von den Chemnitzern unter der Leitung von Alexander Bochtler an die illegale Geschäftskommission nach Leipzig gegeben und von dort weiterverteilt.(12)
Hier finden sich weitere Spuren von Erna Sauerbrey, die sich seit 1934 allen Gefahren zum Trotz in diese Aktivitäten einbrachte. Das ging bis Juli 1935 gut, denn wurde sie mit anderen Genossen verhaftet. Nachdem sie acht Tage in Haft verbrachte – die Polizei nahm sie anscheinend nicht weiter ernst – nutzte sie die noch intakte Fluchtroute über Schmiedeberg:
„Sie fuhr am 20.7.1935 in die Tschechoslowakei, wo sie in Schmiedeberg bei einem Mitglied der ‚Freien Arbeiter Union Deutschlands‘ wohnte und mit mehreren in Deutschland lebenden Angehörigen dieser Organisation in Verbindung stand. Gegen Ende August 1935 begab sie sich zunächst nach Prag und zwei Tage später nach Paris. Hier nahm sie an dem internationalen Anarchistenkongreß teil. Anschließend fuhr Erna [Sauerbrey] nach Holland und war von 1935 bis 1937 Mitglied der ‚Föderation der deutschen Anarchosyndikalisten in Amsterdam. Diese Organisation hatte sich nach 1933 aus deutschen Emigranten der ‚Freien Arbeiter Union Deutschlands‘ in Amsterdam gebildet.“(13)
Dort bangte sie um ihren Aufenthaltsstatus, bekam aber immerhin eine Arbeitsstelle als Haushaltshilfe beim international angesehenen Anarcho-Syndikalisten Albert de Jong. Auch der Wuppertaler Anarcho-Syndikalist Helmut Kirschey mußte sich in Amsterdam illegal verdingen und desöfteren seine Herbergen wechseln. Bei de Jong lernten sich die beiden 22jährigen 1935 kennen und verliebten sich ineinander. Noch Jahrzehnte später fand er herzliche und wertschätzende Worte für sie, die einzigen bekannten Zeugnisse über ihre Persönlichkeit:
„Erna war ziemlich klein, hatte genau die richtigen weiblichen Rundungen und war unglaublich aufgeweckt. Sie hatte aschblonde Haare und genau so eine kurze Frisur, wie ich sie mochte. Erna war ziemlich burschikos und übernahm die Initiative, auch im Bett. […] Weil sie tagsüber arbeitete, trafen wir uns nur abends. Die meiste Zeit verbrachten wir auf meinem Zimmer, manchmal gingen wir auch ins Kino oder ins Theater. Ich hatte kein Geld, deshalb war sie es meist, die bezahlte. Erna kannte die meisten der bekannteren deutschen Syndikalisten, vor allem solche, die zur Landesleitung in Deutschland gehörten. Mehrere Male reiste sie als Kurier nach Deutschland.“(14)
Kirschey gelangte nach Spanien und kämpfte dort für die soziale Revolution. Erna war es 1937 durch eine Heirat gelungen, die niederländische Staatsbürgerschaft zu erhalten, hieß Kolthek und gebar 1938 eine Tochter. Doch schon seit 1939 lebten sie getrennt. Sie war ohne Unterhalt und zwecks Erwerbslosenunterstützung gezwungen, im April 1941 nach Deutschland zurückzuziehen; und zwar nach Bremen zu ihren Eltern. Da sie illegale Flugblätter verteilt haben soll, wurde sie am 23. Juni 1941 von der Gestapo erneut verhaftet. Das Oberlandesgericht Dresden verurteilte sie am 22. Januar 1942 wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu drei Jahren und drei Monaten Haft. Diese mußte sie von Februar 1942 bis September 1944 im Zuchthaus Waldheim/Sachsen ertragen (wo bis 1943 übrigens auch Richard Thiede einsaß).(15) Danach kam sie in „Schutzhaft“ ins Lager Guxhagen bei Kassel und im März 1945 frei.(16)
Erna Sauerbrey wohnte wieder bei ihren Eltern.(17) Von 1946 bis 1948 arbeitete sie in Bremen als Kinderpflegerin bei der AWO im Kindererholungsheim Etelsen, in der Kindertagesstätte Hemelingen und in der Kinderkurstätte Lankenau. Schläge in der Haft führten zu nachhaltigen körperlichen Schäden.(18) Ihre Politisierung zeigte sich jedoch nachhaltiger als dass sie aufgab und so fand sie Anschluß an die Ortsgruppe Bremen der „Föderation freiheitlicher Sozialisten“ (FFS).(19) Dies war die Nachfolgeorganisation der alten FAUD. Auch die „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ wurde wieder aufgebaut. Deren Bundesleitung übernahm jetzt der ehemalige SAJD-Funktionär Bernhard Koch aus Bremen. Dieser hatte auch starken Anteil an der 1949 erfolgten Herausgabe der Hauptwerks von Rudolf Rocker: „Nationalismus und Kultur“. Zwar trafen sich die Überlebenden noch während der 1950er Jahre und engagierten sich sozialpolitisch. Doch als einheitliche Bewegung konnten sie sich nicht neu formieren. Erna Sauerbrey dürfte sich jedoch in sehr angenehmer und geistig reger Gesellschaft befunden haben. Dennoch bleiben die letzten Jahrzehnte ihres Lebens im Dunkeln.(20)
Anmerkungen