Fritz Oerter Autobiographie „Lebenslinien“


Helge Doehring
Rezension Geschichte Person

Der 1869 geborene Fritz Oerter war einer der bedeutendsten Kulturschaffenden aus der anarcho-syndikalistischen Bewegung in Deutschland. Dem Fürther Schriftsteller Leonhard F. Seidl gelang es, herzlichen Kontakt zu dessen Enkel Alfred Hierer aufzunehmen, und diesen offenbar mehr von seinem Opa zu begeistern, als ihm vorher schwante. Hierer war noch ein Knabe, als Fritz Oerter 1935 von den Nazis ermordet wurde. Doch hat er beste Erinnerungen an diesen ruhigen, ausgeglichenen und sehr belesenen Menschen. Der im Fränkischen Fürth tätige Oerter richtete an seinem Ort während der Zwischenkriegsjahre eine Leihbibliothek ein. Daraus sind Bestände von 200 Büchern erhalten geblieben. Darüber hinaus gelangten auch Tagebücher Fritz Oerters in Seidls sorgsame Hände. Ein Teil davon ist aus den frühen 1930er Jahren, Fragmente aus dem Jahr 1914. Oerter plante die Abfassung umfangreicher Memoiren, die auch für die Forschung eine starke Bereicherung gewesen wären. Allerdings kam er in seinen Darstellungen kaum über die Zeit der 1890er Jahre hinaus. In den von Seidl im Verbrecher-Verlag 2022 auf etwa 230 Seiten herausgegebenen „Lebenslinien“ (Das Manuskript der Lebenserinnerungen von Fritz Oerter und ein umfangreichers Nachwort) sind diese Fragmente zusammengetragen worden mit Ausnahme der Tagebücher der 1930er Jahre, die extra herausgegeben werden sollen.

Frtiz%20Oerter,%20Quelle%20F%C3%BCrth%20Wiki

Oerter schildert rückblickend aus dem Jahr 1932/33 die Herkunft und die sozialen Nöte seiner Familie, seine Kindheit und Jugend, und in Fürth seinen realschulischen Werdegang, seine Lehre als Lithograph und schließlich erste sozialistische Kontakte. Bereits mit 20 Jahren wurde er auch Vater, zwei weitere Kinder sollten folgen mit der Frau, deren Liebe bis zu seinem Tod halten sollte. Ihre Hochzeit war ihnen gleichgültig, sie sollte lediglich die Anwendung des Kuppeleiparagraphen gegenüber ihrer Wohnungsgeberin verhindern. Im Zuge der Radikalisierung innerhalb der SPD, durch die sog. „Opposition der jungen“, bildete sich auch um Fritz Oerter ein Kreis revolutionärer Aktivisten. Aufgrund Schwarzer Listen fand er in der Region Nürnberg/Fürth keine Arbeit mehr und zog nach Duisburg.

Im Zentrum seiner „Lebenslinien“ steht jedoch eine Veranstaltung der oppositionellen anarchistischen Sozialdemokraten in Mainz Ende 1892. Dort hielt der später weltweit geachtete Anarcho-Syndikalist Rudolf Rocker seine erste Versammlungsrede – mit 19 Jahren! Sie endete „mit Beifall überschüttet“. Auch Rocker selbst erwähnte diese Versammlung und damit auch Fritz Oerter ausführlich in seinen eigenen Memoiren (Rudolf Rocker: Aus dem Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt/M. 1974, S. 85-90). Es ist ein Vergnügen, beide Berichte abzugleichen. Als weiterer Redner kam Fritz Oerter auf das Podest. Die mit Argusaugen überwachende anwesende Polizei ließ alle gewähren. Als dann spontan Bruder Sepp Oerter in seinen aufbrausenden Charaktereigenschaften überschwänglich die Bühne stürmte, sahen sowohl Fritz als auch Rocker unabhängig voneinander großes Unheil auf die Versammlung zukommen. Sepps provokanten Worte und das Prahlen mit internationalen revolutionären Beziehungen führten schließlich zur polizeilichen Auflösung der Versammlung. Dem handgreiflich werdenden Fritz gelang es, die Polizisten von der Verhaftung seines Bruders abzuhalten. Dabei wurde er selbst gestellt, und Sepp folgte dennoch wenige Stunden später. Für den ebenso von Verhaftung bedrohten Rudolf Rocker, auch deshalb ist diese Schilderung so wertvoll, löste es seine Flucht nach Frankreich aus. Rudolf Rocker und Fritz Oerter sahen sich erst knapp 30 Jahre später bei einer Rede des inzwischen weltweit populären Rocker „bei Gelegenheit einer sehr großen Versammlung“ in Nürnberg freudestrahlend wieder; „seither haben wir uns natürlich öfter getroffen“ (S. 91). Solche Jugenderlebnisse schweißen zusammen. Leonhard F. Seidl würdigt diese Szene übrigens in seinem Roman „Vom Untergang“ mit bewegenden Worten.

Oerter schildert dann sehr ausführlich seinen Gefängnisaufenthalt. Er war zu eineinhalb Jahren verurteilt worden. Dort blieb er ungebrochen, im Gegenteil fand er sich unter all den Widrigkeiten bisweilen besser zurecht als im fortwährenden ökonomischen Existenzkampf draußen. Seine Genossen konnten schließlich mit ihm die Entlassung feiern, dennoch verkannte Fritz nicht die Verantwortung für seine treue Familie. Eine Anstellung zu finden, war schwierig, weshalb er sich in der Region Nürnberg die folgenden Jahre bis 1902 selbständig machte. Auch seine politische Arbeit nahm er dort wieder auf, u.a. in der „Gruppe PAN“. Die Befreiung seines Bruders sollte seine einzige „Gewalttat“ bleiben, fortan vertrat Fritz Oerter generelle Gewaltlosigkeit.

Seinen in der allgemeinen (Arbeiter-) geschichte viel bekannteren Bruder Sepp Oerter schildert er als impulsiv, etwas kurzsichtig, Übermütig, spontan handelnd, als ewig wuselnden Aktivisten, der schon in Jugendjahren in die USA ging, um dort Kontakte zu führenden Anarchisten aufzunehmen und von dort Zeitschriften nach Deutschland zu schmuggeln. Sepps Umgang mit Geld gestaltete sich stets flexibel, ihm solches anzuvertrauen, bedeutete ein hohes Risiko. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm er in Braunschweig den Posten des Ministerpräsidenten, trat dann der USPD bei, veruntreute auch dort Gelder und schied 1922 im Krach. Schließlich wurde er Anhänger der Nazis, bevor er 1928 starb. Eine traurige Anekdote lag darin, dass er seinen Sohn seinem Bruder zu Ehren einst auch Fritz nannte. Der Filius jedoch war ebenso angetan von den Nazis und schrieb in deren Sinne Gedichte. Der Anarcho-Syndikalist Fritz Oerter unterlag somit mancher Verwechselungsgefahr und übte sich in Richtigstellungen.

Der Anarcho-Syndikalist Fritz Oerter hingegen hatte einen Sohn, der den Kriegseinsatz 1915 verweigerte und dafür zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Die folgenden biographischen Notizen in den „Lebenslinien“ bleiben fragmentarisch, jedoch als bestens angeordnetes Quellenwerk wertvoll. Oerter engagierte sich nach 1918 im Vollzugsausschuß des Fürther Arbeiterrat.

Die Bayerische Räterepublik 1919 sah er mangels revolutionärer Substanz ebenso frühzeitig als gescheitert an. Er war abermals Mitglied im Vollzugsausschuß des Fürther Arbeiterrates. Nur vier Tage hielt hier die Räterepublik, für Oerter eine Farce. Nur ein breit getragener sozialer Generalstreik könnte eine Revolution stabilisieren.

Bei der Arbeiterschaft genoss er stets hohes Vertrauen. Als 1920 reichsweit gegen den Putsch von Kapp und Lüttwitz gestreikt wurde, beriefen sie ihn an die Spitze der Streikleitung. „Aber er musste schon in den ersten Tagen erkennen, daß von einer sozialen Tendenz nicht das Mindeste zu verspüren war und alles nur darauf hinauslief, den sozialdemokratischen Ministern in Berlin ihre Sessel zu bewahren.“ (S. 191)

Die Zusammenstellung „Lebenslinien“ umfasst neben den biographischen Skizzen auch sozialpolitische Texte und Gedichte Oerters, eine Auskunft über einen faszinierenden Postkartenbestand Oerters, der vor einigen Jahren überraschend im Internet auftauchte, jedoch schon verkauft war, bevor ich meinen Geldbeutel bemühen konnte. Und schließlich weitere Andeutungen über Oerters Tagebücher der frühen 1930er Jahre, auf die wir uns jetzt schon freuen dürfen. Sie verraten, u.a. einen Prinzipienbruch Oerters: „5. März. [1933] Wahlsonntag. Obwohl ich sonst gegen das Wählen und gegen den Parlamentarismus bin, habe ich diesmal doch gewählt.“ (S. 220)

Zu Haft und Tod heißt es: „Am 3. September 1934 wird der alte, kranke Fritz Oerter verhaftet und für acht Tage in Schutzhaft genommen. Vermutlich wurde er gefoltert. Seine Wohnung wurde durchsucht, seine Bücherei geplündert. ‚Die Bücher aus der Leihbücherei des Großvaters trieben auf der Pegnitz davon’, berichtet Alfred Hierer. ‚Die müssen die Nazis dort hineingeworfen haben.’ (S. 221)

Titel%20Lebenslinien

  • zum Buch: Fritz Oerter: Lebenslinien. Herausgegeben von Leonhard F. Seidl, Verbrecher Verlag, Berlin 2022, 240 Seiten, 20 Euro. ISBN 978-3-95732-525-9
  • Zum Weiterlesen: Fritz Oerter: Texte gegen Krieg und Reaktion, Lich 2005

Helge Döhring

Helge Döhring, geb. 1972, Historiker und Literaturwissenschaftler, lebt in Bremen. Buchveröffentlichungen zur syndikalistischen und anarchistischen Arbeiterbewegung: „Syndikalismus in Deutschland 1914-1918“ (2013), zum „Anarcho-Syndikalismus in Deutschland 1933-1945“ (2013) und „Organisierter Anarchismus in Deutschland von 1918 bis 1933“ (drei Bände, 2018-2020), sowie zur „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ (2011), zu den „Schwarzen Scharen“ (2011); kommentierte Bibliographie zur syndikalistischen Presse in Deutschland (2010). Regionalstudien zum Syndikalismus für Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Ostpreußen, Schlesien und Schleswig-Holstein. Verfasser des Buches „Anarcho-Syndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung“ (2017). Mitarbeiter und Mitbegründer des Instituts für Syndikalismusforschung und Mitherausgeber des Jahrbuchs „Syfo – Forschung&Bewegung“.

Vorheriger Beitrag Nächster Beitrag