Rosario, gut 300 Kilometer von Buenos Aires entfernt am Ufer des Fluss Paraná gelegen, ist mit knapp einer Million Einwohner:innen die drittgrößte Stadt Argentiniens. Obwohl das Industriezentrum sozialistisch gesinnten Menschen in Deutschland vor allem als Geburtsort des berühmten marxistischen Revolutionärs Che Guevara bekannt sein dürfte, hat Rosario auch eine lange anarchistische Geschichte. Diese reicht zurück bis zur Entstehung der libertär geprägten argentinischen Arbeiter:innenbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Doch die Zeiten als die Federación Obrera Regional Argentinia mit ihrer libertär-kommunistischen Programmatik die Gewerkschaftslandschaft dominierte und libertäre Ateneos in vielen Arbeiter:innenvierteln Argentiniens zu finden waren, sind lange vorbei.
Trotz seiner relativen heutigen Schwäche lebt der organisierte Anarchismus in Argentinien im Allgemeinen genauso wie in Rosario im Speziellen auch im 21. Jahrhundert weiter fort. Einen signifikanten Teil der Verantwortung dafür hat die Federación Anarquista de Rosario (FAR), eine politische anarchistische Organisation die sich der Strömung des Especifismo zurechnet. Die FAR wurde 2008 von jungen Anarchist:innen gegründet und feiert damit in diesem Jahr ihr 15-jähriges Bestehen. In einem kurzen Text blicken die Genoss:innen auf ihre eigenen Geschichte und ihre Bemühungen, in verschiedenen Kämpfen Gegenmacht von unten aufzubauen, zurück.
Wir haben den Text übersetzt, um ihn auch deutschen Leser:innen zugänglich zu machen und damit Erfahrungen anarchistischer Organisierung über Grenzen hinweg zu teilen. Wir danken den Genoss:innen von Black Rose Anarchist Federation aus den USA für ihre englische Übersetzung des spanischen Originals, die als Vorlage für die deutsche Fassung gedient hat.
Bei der deutschen Übersetzung haben wir uns eng am ursprünglichen Wortlaut orientiert und diesen mit Anmerkungen zum Verständnis ergänzt. Es erscheint uns dabei relevant kurz auf den Titel des Textes einzugehen. Aus einer deutschen Perspektive mag “ein starkes Volk aufbauen” ungewohnt klingen. Der lateinamerikanischen Anarchismus verwendet “pueblo” (im Spanischen) oder “povo” (im Portugiesischen) jedoch nicht als nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungsmechanismus, sondern als Sammelbegriff für alle Unterdrückten der Gesellschaft, für alle, die ein objektives Interesse an der Überwindung der herrschenden Verhältnisse haben. Der “Aufbau eines starken Volks” meint in diesem Sinne die kollektive Kampfkraft der unteren Klassen zu verstärken durch Selbstorganisation, aktiven Kampf und kollektiver Bildung. Mit dieser Anmerkung im Bewusstsein sollte der Text gelesen werden.
Gegen Ende des Jahres 2008 beschloss eine Gruppe junger Anarchist:innen, eine neue politische Organisation zu gründen: die Libertäre Kolonne Joaquín Penina (CLJP) (Anmerkung der Übersetzung: Joaquín Penina war ein spanischer Immigrant der in den 1920er Jahren innerhalb der anarchistischen Arbeiter:innenbewegung Argentiniens und Rosarios aktiv war. Er wurde 1930 hingerichtet nachdem er für das Verteilen von Pamphleten gegen den Diktator Uriburu verhaftet worden war). Die Entscheidung war nicht leicht. Unter den Anarchist:innen in Rosario war die Notwendigkeit einer Organisation, die unsere Bemühungen bündeln und unsere Praxis leiten würde, ein viel diskutiertes Thema. Die Erfahrungen der OAR (Anarchistische Organisation von Rosario) aus den späten 1990er Jahren beeinflussten jedoch die Entscheidung, uns zu organisieren, eine Organisationsstruktur zu schaffen und, was noch wichtiger war, eine Militanz (Anmerkung: Unter Militanz versteht der organisierte lateinamerikanische Anarchismus die Gesamtheit der Aktiven einer politischen Organisation) mit revolutionären Absichten aufzubauen, die versuchte, die sozialen Kämpfe des Augenblicks zu beeinflussen. Damals wurde die CLJP nicht nur durch die Erfahrung der OAR genährt, sondern auch durch den militanten (Anmerkung: Im Sinne von organisierten) Weg von Genoss:innen, die sich diesem Projekt genähert hatten und die Anleitung wertvoller Aktivist:innen, die uns unter anderem wohlwollend vorschlugen, “die Klassiker” wie Bakunin und Malatesta, Goldman, Kropotkin, Berneri zu lesen und mit der fAu (Federación Anarquista Uruguaya), einer Schwesterorganisation Uruguays und einem Leuchtturm des organisierten Anarchismus in Lateinamerika, in Kontakt zu treten.
Die ersten Jahre unserer Organisation waren von einem starken Engagement für soziale Militanz (Anmerkung: Gemeint ist hier die Beteiligung der Anarchist:innen an gesellschaftlichen Kämpfen) geprägt, das wir auch heute noch beibehalten, das aber damals unsere Linie prägte. Wir sagten: Schluss mit dem Coffeeshop-Anarchismus und dem Universitätsanarchismus, der Anarchismus ist eine Ideologie und ein politisches Projekt, der aus dem Kampf der Menschen selbst entsteht, und da gehört er hin. Unser Anarchismus ist der der Straßenblockaden, Versammlungen, Streikposten, Streiks und Mobilisierungen. Er ist auch der des Verteilens von Flugblättern und des täglichen Gesprächs mit unseren Kolleg:innen und Nachbar:innen. Auf diese Weise sind wir in der Lage, eine politische Organisation aufzubauen, die es uns ermöglicht, den täglichen Kampf zu führen, ohne jemals unser Endziel, die soziale Revolution, aus den Augen zu verlieren.
Im Laufe der Jahre hat sich die Kolonne, wie wir sie intern nannten, als ein Instrument erwiesen, das verbessert werden muss. Als wir die Erfahrungen der Anarchistischen Föderation Uruguays und der Organisationen Brasiliens hörten und daraus lernten, beschlossen wir 2015, den Schritt zu wagen, uns als Föderation zu organisieren. Die Kohärenz und die Notwendigkeit, ein Instrument zu schaffen, das über die Menschen, die es bilden, hinausgeht, mit einer Organisationsstruktur, einem Aktionsprogramm und unserer eigenen Analyse der Realität, haben uns dazu gebracht, auf unserem ersten Kongress 2015 die FAR zu gründen. In diesem Fall haben wir Dinge formalisiert, die wir bereits entwickelt hatten, aber bis dahin ohne die notwendige “Legalität”, und wir wurden ermutigt, mit Ernsthaftigkeit und Ehrgeiz unsere Strategie für den Aufbau zu entwerfen. Es war ein Kongress, der auch ein bedeutendes Wachstum unseres sozialen Einflusses ermöglichte, da wir über Aktivist:innen verfügten, die sich voll und ganz der gewerkschaftlichen Aufgabe widmeten und später auch dem Studierendensektor, zusammen mit der Unterstützung unseres Aufbaus im Nachbarschaftssektor, die von Anfang an vorhanden war.
In den Jahren 2018 und 2021 trafen wir uns dann erneut zu unserem zweiten und dritten Kongress, um den Bleistift weiter zu spitzen und unsere Praktiken so neu auszurichten, dass sie den konjunkturellen Veränderungen und den Veränderungen in der historischen Phase Rechnung tragen. Wir bauten auch einen parallelen Prozess der Organisierung auf internationaler und nationaler Ebene auf, den wir für äußerst wichtig und relevant für das halten, was wir eine neue Welle des organisierten Anarchismus nennen können. Auf internationaler Ebene, von breiteren Koordinierungen bis zur Neugründung der CALA (Coordinación Anarquista Latinoamericana) und auf nationaler Ebene die Entstehung von Organisationen in verschiedenen Teilen des Landes, wie die OAC (Organización Anarquista de Córdoba), OASC (Organización Anarquista de Santa Cruz) und OAT (Organización Anarquista de Tucumán), mit denen wir seit einiger Zeit Räume der Organisierung aufrechterhalten können.
Dieser Jahrestag findet in einem komplexen Moment für uns alle statt, die wir die Realität verändern wollen. Apathie, Individualismus und Zersplitterung sind epochale Merkmale, die sich fast auf die gesamte neoliberale Ära zurückführen lassen. Die Pandemie hat sie jedoch vertieft, verschärft und war irgendwann ein Wendepunkt in der Entwicklung der Dinge. Es ist die Aufgabe unserer Organisation, unsere Praktiken unter Berücksichtigung dieser Tatsache neu zu ordnen, um die sozialen Kämpfe in dem von uns gewünschten Maße zu beeinflussen und zu ihnen beizutragen.
Wenn sie versuchen, die Idee zu verkaufen, dass Wahlen der einzig mögliche Weg nach vorne sind, obwohl niemand glaubt, dass dabei etwas Gutes herauskommt, ist es die Aufgabe des Anarchismus, präsent zu sein und sich im Kampf zu engagieren, aus einer ideologischen Perspektive, um diejenigen von uns zu vereinen, die von einem anderen Morgen träumen, von Sozialismus und Freiheit. Angesichts des Opportunismus der institutionalistischen und possibilistischen Militanz (Anmerkung: Hiermit sind politische Aktivist:innen der “progressiven” Linken oder Sozialdemokratie gemeint, die aus reformistischer Perspektive auf Posten in Staat oder Parlament abzielen) werden wir unsere revolutionäre und kämpferische Perspektive einbringen, um an jedem Arbeitsplatz, in jeder Fakultät und in jeder Nachbarschaft den Angriffen auf unsere Siege und Rechte zu begegnen. Angesichts derer, die keine Hoffnung für die Zukunft sehen, wird es unsere Aufgabe sein, die Saat der Organisation, des Sozialismus und der Freiheit zu säen, für die Kämpfe von heute und morgen…
Es lebe die Anarchie!
Es lebe die FAR – 15 Jahre!
Hoch mit denen, die kämpfen!
Für Sozialismus und Freiheit!