Teil 2: Die Opposition gegen den Great Reset


Alfred Masur
Aktuelles

Im ersten Teil meines Beitrags habe ich mich mit dem Great Reset aus der Sicht seiner Initiator:innen beschäftigt. Ich habe ihn als Projekt eines Teils des liberalen, westlichen Großkapitals gekennzeichnet, seine Macht zu festigen und auszuweiten – zum Nachteil des Kapitals aufstrebender Schwellenländer sowie der eher nationalistisch orientierten Teile der westlichen Eliten und nicht zuletzt zum Nachteil der Lohnabhängigen und der Kleinbauernschaft weltweit.

Der Begriff geht auf das Weltwirtschaftsforum (WEF) zurück, das im Juni 2020 eine Great-Reset-Initiative (1) startete – begleitet von einem gleichnamigen Buch (2) seines Vorsitzenden Klaus Schwab. Es ging dem WEF darum, die Umbrüche der Covid-Krise zu nutzen, um seine übliche neoliberale Agenda mit nachhaltig-menschenfreundlichem Anstrich erneut in die Offensive zu bringen. Der Ausdruck konnte sich jedoch nicht als Selbstbezeichnung durchsetzen: Annalena Baerbock, Bill Gates, Joe Biden, Marc Zuckerberg usw. sprechen in der Regel nicht davon, dass sie „den Great Reset vorantreiben“ wollen, obgleich sie der Politik des WEF eng verbunden sind und grob derselben Fraktion angehören.

Die Popularität des Schlagworts vom Great Reset ist daher weniger dessen Befürworter:innen, als vielmehr dessen Gegner:innen zu verdanken. Seit dem Herbst 2020 wurde die Phrase vermehrt von Leuten aufgegriffen, die der Politik der liberalen Eliten feindlich gegenüberstehen. Der Begriff erlaubte es ihnen, verschiedene, als bedrohlich wahrgenommene Entwicklungen als Teil eines einheitlichen Plans zu deuten. Im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs beschrieben US-amerikanische Rechte den Great Reset als „globalistischen“ Masterplan, um Trump aus dem Amt zu entfernen und die Ergebnisse seiner Politik rückgängig zu machen. (3) In Europa wurde der Begriff zur selben Zeit von Teilen des rechten Spektrums sowie im Umfeld der Proteste gegen die Coronamaßnahmen verbreitet. Je nach politischer Grundhaltung wurden dabei teils recht unterschiedliche Gegenentwürfe zum Liberalismus des Great Reset entwickelt. Im Folgenden werde ich exemplarisch auf zwei Bücher genauer eingehen, deren unterschiedliche Perspektiven mir jeweils eine bestimmte Fraktion innerhalb der Opposition gegen den Great Reset zu repräsentieren scheinen.

C.E. Nyder: liberale Opposition gegen den Great Reset

Im Mai 2021 erschien das Buch Great Reset: Der Angriff auf Demokratie, Nationalstaat und bürgerliche Gesellschaft von Dr. C.E. Nyder. (4) Der Name ist ein Pseudonym, hinter dem sich laut Klappentext ein Autorenkollektiv verbirgt. Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden das Kollektiv als eine Person behandeln und nur „Nyder“ schreiben, wenn ich die Verfasser:innen des Buches meine. Das Buch ist in der Öffentlichkeit eher unbekannt; im Internet finden sich kaum einschlägige Verweise, Rezensionen oder Kritiken. Es hat jedoch den Vorzug, dass es verschiedene Gedanken, die häufig in anderen Artikeln, Slogans oder social media posts auftauchen, in einer zusammenhängenden Argumentation verbindet. So kann die Auseinandersetzung mit C.E. Nyder dazu beitragen, die Weltsicht eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus besser zu verstehen.

In dem Buch wird das aktuelle Zeitgeschehen vor dem Hintergrund einer vermeintlich besseren Vergangenheit kritisiert: dem westdeutschen Staat in der Zeit des Kalten Krieges der 1950-1980er Jahre. In der damaligen „Bonner Republik“, so Nyder, seien Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und freie Marktwirtschaft noch intakt gewesen und alle Bürger:innen hätten die Möglichkeit gehabt, sich durch Fleiß und Sparsamkeit zumindest ein bescheidenes Vermögen zu erwirtschaften. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem Zusammenbruch des Ostblocks habe es dann kurzzeitig so ausgesehen, als stünde „einer goldenen, demokratischen Zukunft nichts mehr im Wege“ (8), da das Gesellschaftsmodell des liberalen Kapitalismus nun unangefochten herrschen würde.

Schon bald habe sich jedoch herausgestellt, dass dem „freien Westen“ ein neuer Gegner erwachsen sei, der ihn aber nicht wie der Sowjetkommunismus von außen, sondern von innen bedrohe. Seit den 1990er Jahren habe sich in den USA ein neues „Ideensammelsurium“ herausgebildet, die „Ideologie des Globalismus“. In dieser neuen Weltanschauung verbinde sich „der freischwebende Geist der Hippies mit dem unternehmerischen Antrieb der Yuppies“, „der radikale soziale und kulturelle Liberalismus der einen verleiht dem hohlen Materialismus der anderen Seite moralische Tiefe. […] Als Hohepriester der neuen weltlichen Religion identifizieren wir die Spitzen der Tech-Giganten – Leute wie Steve Jobs, Bill Gates, Jeff Bezos oder Jack Dorsey.“ (124) – Es lässt sich in dieser Charakterisierung durchaus den „Geist von Davos“ wiedererkennen, jener Mischung aus neoliberaler Globalisierung und moralischem Menschheitsrettungspathos der kapitalistischen Elite, die sich alljährlich in den Schweizer Bergen trifft. Die von Nyder beschriebene Allianz von Hippies und Yuppies erscheint wie eine amerikanische Variante des Stelldicheins des Unternehmers Klaus Schwab und der Klimarettungsikone Greta Thunberg auf dem Weltwirtschaftsforum.

Die Propagandist:innen des Globalismus hätten ihren Einfluss dies- und jenseits des Atlantiks zunächst eher unauffällig und in kleinen Schritten ausgeweitet. In Laufe des letzten Jahrzehnts hätten sie jedoch eine große Offensive gestartet, um ihrer Ideologie vollends zum Durchbruch zu verhelfen: den Great Reset, der nichts anderes sei als der „Projektname für den weltweiten Umsturz“, der darauf abziele, demokratische Gesellschaften in dystopische Überwachungsstaaten zu verwandeln. (15f.) Wie kommt es, dass ein überzeugter Anhänger des liberal-kapitalistischen Westens wie Nyder dem Führungspersonal eben dieses Westens derart finstere Pläne unterstellt? Schauen wir uns dazu genauer an, was er mit den „Angriffen“ meint, die der Great Reset auf „auf Demokratie, Nationalstaat und bürgerliche Gesellschaft“ begonnen habe.

Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft?

Was versteht Nyder unter der „bürgerlichen Gesellschaft“, die durch den Great Reset bedroht sei? Er meint damit eine soziale Ordnung, die auf Marktwirtschaft und privatem Eigentum beruht. Nur eine solche sei in der Lage, die Freiheit des Individuums zu garantieren: „Diesem Gedanken liegt die Annahme zugrunde, dass echte Wahlfreiheit nur in einem ungeregelten und freien Markt herrscht. Das ergibt sich aus der Überlegung, dass ein Gemeinwesen, das von jedem Einzelnen verlangt, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, diesem auch alle Möglichkeiten zur Entfaltung der individuellen Talente bieten müsse.“ (110) Freiheit besteht für Nyder also in der Möglichkeit, sich auf dem Markt erfolgreich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Warum aber soll ausgerechnet die globale Business-Elite dieses Prinzip infrage stellen?

Den diesbezüglichen Sündenfall – und damit gewissermaßen den Auftakt zum Great Reset – stellt für Nyder der Umgang mit der Weltfinanzkrise von 2008 dar. Damals wurden von vielen Staaten als „systemrelevant“ eingestufte Banken mit Milliardensummen vor der Pleite bewahrt sowie mit anderen drastischen Eingriffen ins Marktgeschehen versucht, einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Nyder kritisiert, dass die Kosten für die Stabilisierung des Finanzsektors auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt wurden: „Diese Summen sind ein Schlag ins Gesicht der deutschen Steuerzahler. Schließlich sind sie es, welche die Bankenrettung bezahlen. Dementsprechend groß ist die Empörung. Völlig zu Recht macht das bittere Schlagwort die Runde: 'Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren!'“ (89) Diese Politik habe sich wenig später bei der Griechenlandkrise bzw. Eurokrise fortgesetzt, als die EU ihre angeschlagenen Südländer finanziell unterstützt und so letztlich die Steuerzahler:innen der wohlhabenderen Staaten für deren Schulden habe haften lassen. Auch die massive und dauerhafte Senkung des Leitzinses, mit der die Europäische Zentralbank seit 2009 die Konjunktur zu stützen versuchte, lehnt Nyder ab. Die Niedrigzinspolitik sollte es Unternehmen ermöglichen, günstig an Kredite zu kommen; sie bedeutet aber auch, dass Normalbürger:innen praktisch keine Zinsen für ihre Ersparnisse mehr bekommen, bzw. sogar dafür bezahlen müssen, ihr Geld bei der Bank zu deponieren. Dadurch würden wir „schleichend enteignet“, kritisiert Nyder: „Einst war Deutschland das Land der Sparer. Doch Sparen lohnt sich hierzulande nicht mehr. Während früher der Zinseszinseffekt dafür gesorgt hat, dass ein Sparbuch und ein Festgeldkonto ausreichten, um Vermögen aufzubauen, steht am Beginn der 2020er Jahre der Strafzins.“ (100)

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Grafik aus C.E. Nyders Buch

Wie hätte der Staat stattdessen auf die Krise regieren sollen? Laut Nyder wäre es das Beste gewesen, einfach dem freien Spiel der Marktkräfte seinen Lauf zu lassen: „Für die Betroffenen ist das Platzen einer Blase selbstverständlich eine Katastrophe. Auf das Ganze gesehen ist ein solcher ökonomischer Crash allerdings notwendig für die wirtschaftliche Fortentwicklung. […] Der Crash beseitigt alte, überlebte Strukturen und schafft so Raum für eine Neuordnung der Verhältnisse, in der frische, junge Konzepte, befreit von den Fesseln des Alten, ihr Glück versuchen können.“ (84) Der „Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft“ der Eliten bestand für Nyder also darin, dass sie, im Interesse des angeschlagenen Finanzkapitals, die reine Lehre der freien Marktwirtschaft verraten und die „schöpferische Zerstörung“ (84) der Krise daran gehindert hätten, ihr Werk zu verrichten. Nyder steht mit dieser Position nicht allein da; eine Kritik an der Krisenpolitik der Bundesregierung aus marktliberaler Sicht war damals in bürgerlichen Kreisen weit verbreitet. Es sei daran erinnert, dass die AfD 2012 ursprünglich als rechtsliberale Opposition zur Griechenland- und Eurorettungspolitik gegründet worden war.

Wie ist diese Kritik zu beurteilen? Nyder hat recht, wenn er beklagt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit gelöst wurde. Es ist allerdings bezeichnend, dass er die Menschen vornehmlich als „Steuerzahler“ und „Sparer“ anspricht, die durch die Krisenlösungsmaßnahmen „enteignet“ würden. Es entgeht ihm dabei eine viel fundamentalere Enteignung: die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft keine Produktionsmittel besitzen und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sprich ihre schöpferischen Fähigkeiten unter fremdem Kommando und zu fremden Zwecken zu verausgaben. Unsere Ausbeutung durch die Lohnarbeit ist eine Grundtatsache des Kapitalismus, die die Voraussetzung für zusätzliche Belastungen wie steigende Steuern und reduzierte Sparzinsen darstellt. Nyder sieht diesen Zusammenhang nicht, da es in seiner liberalen Weltsicht keine Klassen, sondern nur individuelle Marktteilnehmer:innen gibt. Ein Arbeitsvertrag begründet für ihn kein Ausbeutungsverhältnis; er ist für ihn einfach eine freie Vereinbarung zwischen zwei unabhängigen Personen, so unschuldig und natürlich wie wenn Hans sein altes Handy seiner Bekannten Lisa für 100€ überlässt.

Indem er die Ausbeutung der Lohnarbeit ausblendet, entgeht Nyder auch, dass die zunehmende soziale Ungleichheit und Verarmung in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten wohl weniger auf Veränderungen von Steuern und Zinsen, als vielmehr auf einschneidende Umbrüche am Arbeitsmarkt zurückzuführen sind: Seit den berüchtigten Hartz-Reformen der Schröder-Regierung ist hierzulande der Anteil von unsicheren und schlecht bezahlten Jobs stark angewachsen; Deutschland verfügt mittlerweile über einen der ausgeprägtesten Billiglohnsektoren Europas. (5) Immer mehr Lohnabhängige haben überhaupt nicht die Möglichkeit, Geld zurückzulegen – weshalb ihnen die von Nyder beklagten Niedrigzinsen herzlich egal sein dürften.

Auch die von Nyder nahegelegte Alternative, ökonomische Krisen einfach ihren natürlichen Gang gehen zu lassen, anstatt zu versuchen, sie mit staatlichen Mitteln einzuhegen, ist nicht überzeugend. Krisen des modernen, globalisierten Kapitalismus sind von einem anderen Kaliber als die lokal begrenzte, heute fast idyllisch anmutende holländische Tulpenkrise des Jahres 1637 (6), die Nyder als Beispiel heranzieht. Laut einhelliger Meinung sowohl seiner Befürworter:innen als auch seiner Gegner:innen stand das kapitalistische Weltsystem 2008 am Abgrund. Die letzte weltweite Wirtschaftskrise, die weitgehend ungebremst ihren Lauf nahm, war diejenige, die auf den Crash an der New Yorker Börse im Oktober 1929 folgte. 1932 stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf sechs Millionen, 1933 kam Adolf Hitler an die Macht, 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Mit einer gehörigen Portion Zynismus kann all dies als die „schöpferische Zerstörung“ gesehen werden, die notwendig war, um das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit zu ermöglichen. Da sich diese Sichtweise aber schlecht mit Nyders Verehrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verträgt, denke ich, dass er in diesem Punkt nicht zynisch, sondern eher etwas naiv ist.

Die staatlichen Krisenmaßnahmen waren kein Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft. Im Gegenteil, sie waren der verzweifelte Versuch, die bürgerliche Gesellschaft in einer Situation am Leben zu erhalten, in der tiefgreifende soziale Widersprüche ihre Unvernunft immer deutlicher zutage treten lassen. So sehr Nyder zuzustimmen ist, wenn er die Krisenlösung auf dem Rücken der Bevölkerung kritisiert, so entschieden muss ihm widersprochen werden, wenn er dies vom Standpunkt des freien Marktes aus tut. Die einzig sinnvolle Antwort auf kapitalistische Krisen bestünde für die lohnabhängige Klasse in kollektivem, organisierten Widerstand von unten gegen die Zumutungen sowohl des Marktes als auch des Staats. Dies ist allerdings eine Perspektive, die einem wie Nyder, der davon ausgeht, dass auf dem Markt jeden Individuum „seines eigenen Glückes Schmied“ ist, schwerlich in den Sinn kommt.

Angriff auf den Nationalstaat?

Inwiefern bedroht der Great Reset den Nationalstaat? Wie im ersten Teil dieses Artikels beschreiben, schwebt Klaus Schwab und seinen Leuten eine Vision globaler Ordnungspolitik vor, in der tatsächlich Aufgaben und Entscheidungen, die bisher in der Hand von Nationalstaaten waren, zunehmend von internationalen, konzerngesteuerten Organisationen übernommen werden.

Darum geht es Nyder hier aber nicht – er spricht über nationale Identität und Migration. Ihm zufolge sei ein wesentlicher Bestandteil des liberalen Elitenprojekts „ein von langer Hand vorbereitetes Neuansiedlungsprogramm, mit dessen Hilfe Millionen von Armutsflüchtlingen aus Nordafrika sowie aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland und Europa geholt werden sollen“ (147). Beabsichtigt sei dabei eine grundlegende Veränderung der Bevölkerungsstruktur Europas: Die Migrationspolitik sei „der staatlich beförderte und betriebene Versuch, eine alles in allem noch homogene Gesellschaft durch ein multikulturelles Vielvölkergemisch zu ersetzen“ (246). Als Kronzeugen, dass es sich dabei nicht etwa um einen naturwüchsigen Prozess, sondern um eine bewusste Strategie handelt, bezieht sich Nyder unter anderem auf den deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftler Yascha Mounk. Dieser hatte für einige Aufregung gesorgt, als er am 20. Februar 2018 im Interview mit den Tagesthemen davon sprach, „dass wir ein historisch einzigartiges Experiment wagen, und zwar eine monoethnische und monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln“ (7). Da haben wir's!, riefen damals wie Nyder auch viele andere Kritiker:innen der Zuwanderungspolitik, endlich spricht es einer offen aus, dass es sich beim Weg in die multikulturelle Gesellschaft um ein von oben eingefädeltes „Experiment“ handelt, bei dem wir, die angestammte Bevölkerung, als Versuchskaninchen herhalten müssen! Mounks Experiment ist in dieser Interpretation also nichts anderes als der Große Austausch der europäischen Bevölkerungen, vor dem rechte Kreise seit Jahren warnen.

Aber zu welchem Zweck soll dieses Experiment betrieben werden? Laut Nyder gehe es darum, die nationale Identität der europäischen Staaten zu zersetzen. Mit besonderem Eifer täte sich dabei die politische Klasse Deutschlands hervor, die, aus schlechtem Gewissen über die Nazivergangenheit und falsch verstandenem Antifaschismus „dem eigenen Volk, quasi vor Hass glühend, die nationale, kulturelle und religiöse Identität austreiben will“ (147). Gezeigt habe sich das insbesondere in der Grenzöffnungspolitik der Merkel-Regierung während der Flüchtlingskrise von 2015. Letztendlich seien Merkel und Konsorten dabei aber nur die politischen Ausführungsorgane der internationalen, „gobalistischen“ Finanz- und Wirtschaftseliten. Diesen, so Nyder, ginge es bei „Zerstörung der freien und souveränen Völker und Nationen Europas“ letztlich darum, eine künftige „Sklavengesellschaft“ vorzubereiten. (256) Durch die ethnische Durchmischung beabsichtigten die Eliten, die Bevölkerung ihrer Länder in eine Ansammlung einander fremd bis feindlich gegenüberstehender Gruppen und Individuen aufzulösen, die weder zu einem Gemeinschaftsgefühl noch zu kollektivem Handeln in der Lage seien. So hofften sie, uns in eine leicht formbare Masse zu verwandeln, die ihren Plänen keinen Widerstand entgegensetzen können.

Sehen wir uns genauer an, was von diesen Vorstellungen zu halten ist. Zunächst ist unbestreitbar, dass die meisten westeuropäischen Länder in steigendem Maße von Einwanderung geprägt sind. Waren Frankreich, England und Deutschland nach dem 2. Weltkrieg noch weitgehend ethnisch homogen, so begann Ende der 1950er Jahre ein verstärkter Zuzug von Migrant:innen, die vor allem in den größeren Städten wachsende ethnische Minderheiten bildeten. Dieser Trend ist bis heute ungebrochen: In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil im Ausland geborener Einwohner:innen in Österreich von 10% auf 19,5% beinahe verdoppelt, in Norwegen stieg der Anteil von 6,5% auf 15,6%, in der Schweiz ist mittlerweile fast ein Drittel der Einwohner:innen im Ausland geboren. (8) Diese anhaltende Einwanderung verändert die demographischen Verhältnisse drastisch: Seit 2015 ist Frankfurt am Main die erste deutsche Großstadt, in der Migrant:innen und deren Kinder mehr als die Hälfte der Einwohner:innenschaft ausmachen, Nürnberg, Stuttgart und München werden wahrscheinlich bald folgen. Auch in anderen europäischen Metropolen wie London, Brüssel und Amsterdam sind die Angehörigen der bisherigen ethnischen Mehrheitsbevölkerung längst zu einer Minderheit geworden. (9)

Richtig ist auch, dass die Einwanderung der letzten Jahrzehnte von den wirtschaftlichen Eliten in der Regel begrüßt, unterstützt und häufig aktiv organisiert wurde. Schon die Anwerbung der Gastarbeiter:innen in den 1950er bis 1970er Jahren hatte bekanntlich den Zweck, den Bedarf der boomenden Wirtschaft an zusätzlichen Arbeitskräften zu stillen. Auch die Unternehmen des 21. Jahrhunderts sind an Migration interessiert und betreiben entsprechende Lobbyarbeit. Im Jahr 2013 gab das World Economic Forum ein Papier mit dem Titel The Business Case for Migration (10) heraus, dessen erklärtes Ziel es war, auf die zwischenstaatlichen Verhandlungen zum Thema Migration einzuwirken, die unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nation geführt wurden. Für den reibungslosen Ablauf der Geschäfte sei es wichtig, heißt es in dem Text, „dass alle der benötigten Fähigkeiten zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und auf die effektivste Weise verfügbar sind“. (11) Dies sei aber in zahlreichen Staaten mit alternder und schrumpfender Bevölkerung immer weniger der Fall. Und leider würde es den Unternehmen von vielen Regierungen durch bürokratische Hürden und Abschottung der Arbeitsmärkte schwer gemacht, diese Lücken mittels Anwerbung von Mitarbeiter:innen aus dem Ausland zu füllen. Darüber hinaus täten sich sogar „von Australien bis Simbabwe“ politische Parteien damit hervor, im Wahlkampf zusätzliche Beschränkungen für Migration zu fordern.(12) Diese Entwicklung sei für die Interessen der Wirtschaft überaus schädlich. Das Weltwirtschaftsforum fordert daher: „Die Regierungen müssen im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit und des Wirtschaftswachstums den Ton in der Debatte ändern und für Migration werben.(13) Nyder hat also durchaus recht, wenn er die Förderung von Migration als Teil des Great Reset betrachtet – allerdings geht es den in Davos versammelten Milliardär:innen dabei weniger um die „Neuansiedlung von Armutsflüchtlingen“ als vielmehr um die effiziente Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte.

Wie aber sieht es mit dem „Angriff auf die nationale Identität“ aus, den Nyder der globalen Businesselite vorwirft? Ein Vertreter dieser Elite, Peter Sutherland, Ex-Aufsichtsratsvorsitzender der Investmentbank Goldman Sachs und von British Petroleum sowie UN-Sondergesandter für Migration, hielt im Juni 2012 eine Rede vor dem Oberhaus des britischen Parlaments. In dieser beklagte er, dass die aus ökonomischen Gründen dringend notwendige Migration durch die nationalen Befindlichkeiten vieler Europäer:innen behindert würde, die „immer noch ein Gefühl der Homogenität und des Unterschieds zu anderen pflegen“. Die EU sollte daher ihr bestes tun, um solche Vorstellungen zu „unterminieren“. Die nationale Homogenität früherer Tage könne in einer globalisierten Welt nicht überleben; im Interesse des Wirtschaftswachstums müssten die europäischen Gesellschaften sich in „multikulturelle Staaten“ verwandeln. (14)

Ein führender Investmentbanker, der sich dazu aufruft, die nationale Identität zu untergraben – das passt perfekt in Nyders Narrativ! Beim genaueren Hinsehen fällt allerdings auf, dass Nyder hier Zweck und Mittel vertauscht: Während laut seiner Darstellung die massenhafte Einwanderung dazu dient, das Nationalgefühl zu zersetzen, ist der Hauptzweck der Migration laut Sutherland die Bereitstellung von Arbeitskräften; die Veränderung des nationalen Selbstverständnisses sieht er als Anpassung des ideologischen Überbaus an die Notwendigkeiten der ökonomischen Basis.

Bleibt die Hypothese des künftigen „Sklavenstaats“: Dient die ethnische Durchmischung dazu, uns besser zu beherrschen? Zunächst lässt sich zugestehen, dass, wie einst die Sklavenbesitzer:innen der Antike, so auch die modernen Kapitalist:innen ein Interesse daran haben, den Zusammenhalt ihrer Untergebenen zu schwächen, sie einander zu entfremden und zu vereinzeln, um Rebellionen zu verhindern. Zwar taten sich gerade die Deutschen in den letzten Jahrzehnten nicht durch besonders rebellisches Verhalten hervor; die hiesigen Herrschenden mussten wenig Angst haben, dass ihre Projekte durch Widerstand von unten vereitelt wurden. Jedoch befinden wir uns in Zeiten sich verschärfender Krisen: Die Konfrontation der imperialistischen Blöcke spitzt sich zu, Inflation und allgegenwärtige Lieferengpässe kündigen möglicherweise das baldige Ende der relativ privilegierten Position der Lohnabhängigen in der westlichen Welt an. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass unsere Regierungen in einer solchen Situation darüber nachdenken, wie sie die Kontrolle über uns ausweiten können.

Nur: Es ist überaus unplausibel anzunehmen, dass ausgerechnet die Schwächung des Nationalgefühls der Herrschaftsabsicherung dienen soll. Der Nationalismus ist in der bisherigen Geschichte nicht als Motivation für Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung in Erscheinung getreten. Im Gegenteil: Er sorgte dafür, dass die Lohnabhängigen sich entlang ethnischer Linien spalten ließen und sich mit den „Interessen der Nation“ identifizierten, die in Wahrheit stets die Interessen der Reichen und Mächtigen waren. Ich glaube daher auch nicht, dass die Eliten der westlichen Welt künftig auf Nationalismus verzichten werden. Kommen wir noch einmal auf Yascha Mounk zurück, den Propheten des „einzigartigen Experiments“ der multiethnischen Demokratie. In einem neueren Interview erklärt er, dass er „dem Patriotismus zunächst mal sehr skeptisch gegenüberstand“, mittlerweile jedoch erkannt habe, „dass das etwas sehr Wichtiges ist“. In multikulturellen Gesellschaften könne das Nationalgefühl jedoch nicht mehr sinnvoll durch das Band der gemeinsamen Abstammung gestiftet werden. Er plädiert daher für einen inklusiven „Kulturpatriotismus“, zu dem sich Staatsbürger:innen unterschiedlicher Herkunft bekennen können und der sich auf die Verbundenheit mit typischen Sitten und Alltagspraktiken des Landes gründe, in denen sich dessen kulturelle Vielfalt widerspiegle.

Das klingt weltoffener und humaner als die Blut-und-Boden-Ideologie vergangener Tage. Doch auch der neue Patriotismus ist keineswegs harmlos. „Die Wichtigkeit des Patriotismus sehen wir zum Beispiel gerade in der Ukraine,“ führt Mounk aus. Hier werde deutlich, „dass wir natürlich in Konfliktsituationen es auch schaffen müssen, einen wirklichen Zusammenhalt zu haben“.(15) Ein solcher Zusammenhalt kann aber in kapitalistischen Gesellschaften nichts anderes als der ideologische Kitt sein, der ausbeutende und ausgebeutete Klassen aneinander bindet. So hat auch der bunte Kulturpatriotismus letztlich den Zweck, uns „in Konfliktsituationen“ dazu anzuhalten, für „unser“ Land und „unsere“ herrschenden Cliquen den Gürtel enger zu schnallen und irgendwann auch wieder in den Krieg zu ziehen. Ein schönes Beispiel für diesen neuen Nationalismus ist eine aktuelle Plakatkampagne der deutschen Bundesregierung. „Liebe 80 Millionen, wer Energie spart, stärkt Deutschlands Unabhängigkeit“, heißt es dort. Das 80-Millionen-Volk der Deutschen ist durch eine diverse Gruppe gut gelaunter Menschen dargestellt: Jung und alt sind vertreten, eine Frau mit braunen, lockigen Haaren und etwas dunklerer Hautfarbe soll wahrscheinlich die Menschen mit Migrationshintergrund repräsentieren. Wir sollen uns keine kritischen Gedanken machen über unsere Wirtschaftsordnung, deren Ressourcenverschwendung den Planeten ruiniert und deren imperialistische Konfrontationen jetzt unsere Energieversorgung bedrohen. Stattdessen sollen wir alle fröhlich grinsend unseren individuellen Beitrag leisten, um das Vaterland unabhängiger von Energieimporten zu machen: „Duschkopf wechseln, Eisfach abtauen, Wäsche bei 30 Grad waschen. Jeder Beitrag zählt.“ So sieht zeitgemäßer Patriotismus aus!

Nyder irrt, wenn er den Great Reset für einen „Angriff auf den Nationalstaat“ hält. Er ist vielmehr dessen Modernisierung. Nyder ist ein beleidigter Anhänger des alten Nationalismus, der sich nicht damit abfinden will, dass „die Deutschen“ keine exklusive Abstammungsgemeinschaft mehr sind und der um seine Privilegien fürchtet, wenn immer mehr Menschen fremdländischer Herkunft nicht mehr nur als Putzkräfte oder Fabrikarbeiter:innen, sondern zunehmend auch als Lehrer:innen, Ärzt:innen oder Ingenieur:innen arbeiten. Es ist offensichtlich, dass ein solcher Rassismus keine Basis für Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung darstellt, sondern diesen Widerstand im Gegenteil sabotiert, da er solidarische Mobilisierungen von Lohnabhängigen mit und ohne Migrationshintergrund für ihre gemeinsamen Interessen erschwert.

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Aktuelles Propagandaplakat der Bundesregierung

Angriff auf die Demokratie?

Um ihre bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebte Agenda umzusetzen, experimentierten die liberalen Eliten nach Nyders Überzeugung auch mit einer neuen Art des Regierens, die in ihrer Konsequenz einem „Angriff auf die Demokratie“ gleichkomme. Dies lasse sich gut an Angela Merkels „Politik der Alternativlosigkeit“ zeigen, die die Kanzlerin bei der Finanz- und Eurokrise, aber auch bei der Flüchtlingskrise 2015 sowie im Zusammenhang mit der Klimapolitik angewendet habe. Dieser Politikstil folge stets einem bestimmten Muster: Zunächst werde eine Situation zum Ausnahmezustand erklärt, durch den das Gemeinwesen von existentiellen Gefahren bedroht sei. Vor diesem Hintergrund erkläre die Regierung die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen zur einzig möglichen Lösung der Krise und drücke sie mithilfe der moralischen Erpressung durch, dass andernfalls eine Katastrophe drohe. Der Bundestag werde dabei zum bloßen Abnickverein degradiert bzw. habe sich selbst in eine solche Rolle begeben, in dem die Parlamentarier:innen darauf verzichteten, ihre Aufgabe der Kontrolle der Regierung ernst zu nehmen.

Dieser Politikstil habe dann im Umgang mit der Coronapandemie eine neue Qualität erreicht: Durch die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ am 28. März 2020 habe sich der Bundestag faktisch selbst entmachtet, indem er der Regierung „eine Blankovollmacht für ein Verordnungsregime“ (333) ausstellte. Die Regierung habe dadurch die Möglichkeit erhalten, am Parlament vorbei durch „einsame Entscheidungen im Hinterzimmer“ (333) weitreichende Maßnahmen zu beschließen: „Von heute auf morgen werden Freiheitsrechte wie die Berufsfreiheit, die persönliche Handlungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt, wenn nicht gleich suspendiert.“ (331) Kennzeichnend für das gesundheitspolitische Notstandsregime sei zudem das weitgehende Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit gewesen, da die etablierten Medien die getroffenen Maßnahmen einhellig befürworteten und Kritiker:innen nicht zu Wort kommen ließen. Als dann dennoch mit den Querdenker:innen eine Opposition gegen die herrschende Coronapolitik entstand, seien diese „pauschal als Corona-Leugner, Esoteriker, Dummköpfe, Aluhüte, Antisemiten und Nazis diffamiert“ (337) worden. Die aufgeregte Moralisierung der politischen Debatte habe eine sachliche Diskussion über die Coronapolitik unmöglich gemacht: Wer die jeweiligen Maßnahmen ablehnte, sei als schlechter und gefährlicher Mensch angesehen worden, den man nicht mir Argumenten überzeugen, sondern aus dem öffentlichen Diskurs ausgrenzen müsse.

Die so entstandene „Gesundheitsdiktatur“ könne sich, so Nyders Befürchtung, als ein „Übungslauf“ für eine dauerhafte Einschränkung der Grundrechte auch nach dem Ende der Pandemie erweisen. Möglicherweise planten die westlichen Eliten weitgehende Maßnahmen zur digitalen Überwachung und Verhaltenssteuerung nach dem Vorbild des chinesischen „Sozialkreditsystems“, um künftig jeglichen Widerstand von unten gegen ihre Pläne im Keim zu ersticken (244). Der Great Reset habe, so lässt sich Nyders Position zusammenfassen, die Demokratie zunächst mittels einer Politik wiederkehrender Ausnahmezustände allmählich ausgehöhlt und nutze jetzt den Schock einer weltweiten Pandemie aus, um sie vollends zu beseitigen.

Zunächst scheint an Nyders Darstellung einiges richtig: Merkels Rhetorik der Alternativlosigkeit und die entsprechende Regierungsweise sind jeder aufmerksamen Beobachterin der Politik der letzten Jahre noch deutlich im Gedächtnis. Während der Coronakrise diagnostizierten auch andere Kommentaror:innen angesichts von Notstandsmaßnahmen und Freiheitseinschränkungen die Wiederkehr des starken Staates. (16) – Dennoch sei es verkehrt, wenden linke Gesellschaftskritiker:innen ein, von einer „Gesundheitsdiktatur“ zu sprechen – vielmehr gehörten die beschriebenen politischen Manöver seit jeher zum normalen Funktionieren der bürgerlichen Demokratie. Fanden die wirklich wichtigen Entscheidungen nicht immer schon eher in „Hinterzimmern“ als im Parlament statt? Wurden Grundrechte nicht auch schon bei anderen Gelegenheiten eingeschränkt? Besteht nicht die „Freiheit“, die die Querdenker:innen verteidigen, letztlich bloß in der Freiheit, „den alltäglichen Notwendigkeiten der kapitalistischen Konkurrenz zu gehorchen“ (17), wie die marxistische Zeitschrift Gegenstandpunkt spottet? Kurz: Verklären Leute wie Nyder oder das Querdenken-Milieu nicht den demokratischen „Normalbetrieb“, indem sie behaupten, die bürgerliche Demokratie wäre erst jetzt ihren Idealen untreu geworden?

Es ist wahr, dass die „Volkssouveränität“ in der parlamentarischen Demokratie nicht erst seit Merkels Machtantritt oder der Coronakrise eine Illusion darstellte, die die Herrschaft der besitzenden Klasse verschleierte. Dennoch verkennt die linke Rede vom kapitalistischen „business as usual“, dass es in der Geschichte der Klassenherrschaft manchmal auch qualitative Umbrüche gibt. Ein beträchtlicher Teil der Menschheit eingesperrt, Stillstand der Weltwirtschaft, staatliche Bevormundung bis in die privatesten Lebensbereiche, Polizeidrohnen, die über Parks in deutschen Städten schweben, und „freundliche Hinweise“ auf den vorgeschriebenen Mindestabstand geben (18) – all das scheint mir kein „kapitalistischer Normalbetrieb“ zu sein.

Mag sein, werden hier viele erwidern, aber es war eben auch keine normale Situation, sondern die schlimmste weltweite Pandemie seit der Spanischen Grippe von 1918. Zu den Eindämmungsmaßnahmen habe es erstens keine sinnvolle Alternative gegeben und zweitens markierten sie keinen Übergang zu einer neuen Herrschaftsform, sondern seien lediglich vorübergehende Notstandsmaßnahmen. – Bei beidem wäre ich mir nicht so sicher. Zweifellos ist Covid-19 eine ernstzunehmende Krankheit, die insbesondere für alte und vorerkrankte Menschen gefährlich werden kann. Was aber die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen betrifft, so sind viele Aspekte umstritten: Wie effektiv waren Lockdowns zur Eindämmung des Virus? (19) Wie gravierend waren ihre schädlichen Nebeneffekte (schlechtere Behandlung anderer Krankheiten (20), massive Zunahme von psychischen Problemen (21), Suiziden und häuslicher Gewalt usw.)? War das möglichst flächendeckende „Durchimpfen“ der Bevölkerung tatsächlich eine seuchenpolitische Notwendigkeit? Wie häufig sind schwere Impfnebenwirkungen? (22) Über all diese und viele weitere Fragen wird mittlerweile nicht nur auf randständigen Websites, sondern in der breiten Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Die Maßnahmen scheinen heute längst nicht mehr so alternativlos, wie es anfangs dargestellt wurde.

Eine offene Diskussion über das Für und Wider der Coronapolitik war jedoch im Frühjahr 2020 und auch noch eine ganze Weile später unerwünscht. Im März 2020 erstellte das Bundesinnenministerium unter Mithilfe führende deutsche Wissenschaftler:innen ein Strategiepapier mit dem erklärten Ziel, die Gefahr durch das Coronavirus möglichst dramatisch darzustellen. Zur Rechtfertigung von „Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ wurde in dem Dokument ein „worst case- Szenario“ mit mehr als einer Million Toten allein in Deutschland ausgemalt. Um die „erwünschte Schockwirkung zu erzielen“ empfiehlt das Papier, die Menschen bei ihrer „Urangst“ zu packen und mit entsprechend drastischen Bildern zu arbeiten. (23) Offensichtlich wollte die Regierung in dieser Situation keine mündigen Bürger:innen, die nüchtern abwägen, offen miteinander sprechen und auf dieser Grundlage rationale Entscheidungen treffen. Sie wollte, dass wir in Panik geraten und blind gehorchen.

Und das hat erstaunlich gut funktioniert. Über Monate hinweg durfte es in Sachen Corona in der politischen Öffentlichkeit, aber auch in den sozialen Medien und in privaten Bekannten- und Familienkreisen nur eine Meinung geben. Andersdenkende oder auch nur Zweifelnde wurden ausgegrenzt und als dumm und menschenfeindlich diffamiert. Die von Nyder beklagte Moralisierung der Politik, die eine sachliche Debatte verunmöglicht, hat tatsächlich in erheblichem Ausmaß stattgefunden. Bitter war, dass große Teile der radikalen Linken nicht nur kein kritisches Gegengewicht zu dieser konformistischen Stimmung bildeten, sondern diese sogar aktiv unterstützten. Dies zeigte sich sowohl beim Ausschluss von „Nestbeschmutzer:innen“ aus den eigenen Reihen, als auch beim Umgang mit den Querdenken-Demos, die von außen pauschal als „Nazis“ und „Schwurbler“ beschimpft wurden. Die linke Szene unterstützte damit faktisch die gesellschaftliche Ächtung jeglichen Protests gegen die Coronamaßnahmen, ließ den Rechten innerhalb von Querdenken freie Hand und trug damit ungewollt dazu bei, dass diese die Bewegung tatsächlich immer mehr dominieren konnten. So entstand die absurde Situation, dass wahrnehmbarer Protest gegen autoritäres Staatshandeln in den letzten zwei Jahren maßgeblich von rechts kam und Leute wie C.E. Nyder plötzlich als radikale Gesellschaftskritiker:innen gelten konnten.

Wie plausibel aber ist Nyders These, dass der pandemiebedingte Ausnahmezustand nicht nur vorübergehender Natur sei, sondern sich als ein „Übungslauf“ für einen künftigen totalitären Überwachungsstaat entpuppen könnte? Tatsächlich kommt auch die US-amerikanische NGO Freedom House in einer Studie (24) zu dem Schluss, dass die Pandemie in zahlreichen Ländern als Vorwand genutzt wurde, „um erweiterte Überwachungsbefugnisse und den Einsatz neuer Technologien zu rechtfertigen“. Smartphone-Apps zur Kontaktnachverfolgung ermöglichten staatlichen Behörden häufig direkten Zugriff auf Standortdaten, Anruflisten und andere persönliche Informationen ihrer Bürger:innen. Intelligente Kameras mit Gesichtserkennungssoftware und anderen Verfahren zur biometrischen Datenerhebung hielten im Zuge der Pandemiebekämpfung zunehmend Einzug in den öffentlichen Raum. „Viele der im letzten Jahr eingeführten Hightech-Instrumente sind nicht geeignet, die aktuelle Krise wirksam zu bekämpfen. Stattdessen verstärken sie die bestehende politische Unterdrückung und soziale Ungleichheit“, stellt die Studie fest. Freedom House betont allerdings auch, dass der weltweite Trend zu stärkerer digitaler Überwachung in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt sei. So hätten sich z.B. einige Staaten bei der Konzeption ihrer Kontaktverfolgungs-Apps gegen eine zentrale Datenspeicherung entschieden und wahrten die Anonymität der Nutzer:innen. Auch die deutsche Corona-Warn-App funktioniert nach diesem Prinzip. Dennoch seien auch in demokratischen Ländern zahlreiche problematische Trends zu beobachten, zumal die Geschichte gezeigt habe, „dass neue staatliche Vollmachten für gewöhnlich die ursprüngliche Bedrohung überdauern“.

Vor dem Hintergrund der differenzierten Darstellung durch Freedom House wirkt Nyders Warnung, dass uns in Deutschland schon bald chinesische Verhältnisse drohen könnten, sicherlich übertrieben. Aber auch hierzulande wurden in der Pandemie Maßnahmen normalisiert, die unter anderen Umständen auf erhebliche Widerstände gestoßen wären: Wer hätte z.B. 2019 daran gedacht, dass der Zugang zu zahlreichen öffentlichen Orten von der Abgabe von Kontaktdaten oder der Vorlage eines digitalen Impfnachweises abhängig gemacht werden wird? Staatliche Stellen sammelten Erfahrungen mit neuen Technologien, die Bürger:innen wurden an an neue Verfahrensweisen gewöhnt und es ist durchaus nicht abwegig, dass solche tools künftig auch für andere Zwecke als den Gesundheitsschutz eingesetzt werden könnten.

Fazit: Wenn Nyder den Great Reset als „Angriff auf die Demokratie“ bezeichnet, so stimmt das sicher nicht in dem Sinne, dass sich eine bisher prächtig funktionierende Volksherrschaft plötzlich in eine totalitäre Elitenherrschaft verwandelt. Möglicherweise aber durchaus dergestalt, dass die Herrschaft der liberalen Eliten schrittweise durch neue, autoritärere Handlungsmöglichkeiten ergänzt wird.

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"COVID-19 Risk and Access Control Solution“ – Körpertemperatur- und Gesichtserkennungs-Tool des Schweizer Konzerns DKSH

Alexander Dugin: Großrussische Opposition gegen den Great Reset

Alexander Geljewitsch Dugin, der zweite Gegner des Great Reset, mit dem ich mich beschäftigen möchte, ist von anderem Format als C.E. Nyder. Während Nyder im Grunde ein Niemand ist – wenn auch seine Gedanken von vielen geteilt werden –, so gilt Dugin als wichtiger Vordenker der neuen Rechten in Russland. Er hatte einen Lehrstuhl an der Lomonossow-Universität in Moskau inne und tritt regelmäßig im russischen Fernsehen und Rundfunk auf. Sein Einfluss auf den Kreml ist umstritten: Manche halten ihn für „Putins Einflüsterer“ (25), andere wiederum bezeichnen die Annahme, der „wirre Philosoph“ bestimme Putins Politik, als „haltlos“ (26). Immerhin dient sein Buch Grundlagen der Geopolitik angehenden Generalstabsoffizieren in Russland als Lehrbuch. (27) Im Laufe der Jahre hat er seine politische Position mit verschiedenen Begriffen umschrieben – „Konservative Revolution“, „Nationalbolschewismus“, „Neo-Eurasismus“, „Vierte Politische Theorie“ – aber im Grunde ist sein Programm stets dasselbe: Zurückdrängung des modernen Individualismus, Unterordnung des Einzelnen unter autoritäre Kollektive und traditionelle Hierarchien und Wiederherstellung der alten Größe Russlands.

Dieser Mann veröffentlichte im Oktober 2021 das Buch Das Große Erwachen gegen den Great Reset (28). Um seine Gegnerschaft zur aktuellen Politik der liberalen Eliten zu erklären, holt er etwas weiter aus. Seit jeher sei es das historische Ziel des Liberalismus gewesen, „das Individuum von allen Formen kollektiver Identität zu befreien“ (D 10). Begonnen habe dieses Zersetzungswerk bereits mit einer Vorform des Liberalismus, der Reformation: „Die Kirche als 'mystischer Körper Christi' wurde zerstört und durch Freizeitvereine ersetzt, die durch das freie Einverständnis von unten geschaffen wurden.“ (D 9) Nachdem die Heiligkeit der sozialen Ordnung erst einmal entweiht und die Menschen auf die Idee gebracht worden waren, ihre Beziehungen selbstbestimmt zu gestalten, konnte es nur noch bergab gehen. Durch die Machtübernahme des Bürgertums im 18. und 19 Jahrhundert seien die Menschen aus ihren traditionellen Bindungen an Stand, Stamm und Sippe herausgelöst und der Konkurrenz des kapitalistischen Marktes unterworfen worden. Nach dem Sieg über seine kollektivistischen Gegner des 20. Jahrhunderts, den Kommunismus und den Faschismus, habe sich der Liberalismus in den 1990er Jahren noch einmal radikalisiert. Er sei in eine neue Phase übergegangen und habe sich die Zerstörung der letzten verbliebenen kollektiven Identitäten vorgenommen: Erstens wolle er im Zuge der Globalisierung die nationale Identität zersetzen. Zweitens dränge er mithilfe der „Genderpolitik“ auf die Abschaffung der traditionellen Geschlechtsidentitäten. Drittens strebe der Liberalismus als logischen Endpunkt seiner historischen Mission danach, auch die Kollektividentität der Menschheit aufzulösen, indem künftig auch „Cyborgs, Netzwerke der künstlichen Intelligenz und Produkte der Gentechnologie“ den Status einer „Person“ erhalten könnten. (D 14)

Dieser radikalisierte Liberalismus, den Dugin auch als „Liberalismus 2.0“ (D 79) bezeichnet, habe jedoch in den letzten Jahren zunehmenden Widerstand in Form „populistischer Bewegungen“ hervorgerufen. „Bei ihnen handelte sich es um jene, welche die jüngsten Ziele der Liberalen zurückwiesen und Genderpolitik, Masseneinwanderung und Abschaffung der Nationalstaaten sowie der Souveränität nicht akzeptierten.“ (D 21) Der Gipfelpunkt dieser Entwicklung sei die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gewesen, welche die Vorkämpfer:innen des neuen Liberalismus zutiefst verunsichert habe. Um dieser Herausforderung zu begegnen, hätten die liberalen Führungskräfte wiederum den Great Reset als Gegenoffensive gestartet, der 2020 vom Weltwirtschaftsform proklamiert worden sei. Der Ausbruch der Coronapandemie sei für sie ein willkommener Anlass gewesen, um „unter dem Deckmantel der Sanitärhygiene […] die Kontrollstrukturen der globalistischen Eliten über die Weltbevölkerung“ (D 4) zu verstärken. Der erste Etappensieg des Great Reset sei dann die Ablösung Trumps durch Joe Biden im Weißen Haus gewesen, der die populistischen Kräfte zwar geschwächt, aber keineswegs besiegt habe.

Dugin begrüßt das Auftauchen des Populismus ausdrücklich als Beginn eines „Großen Erwachens“ (D 31) der Massen gegen die Pläne der liberalen Herrschenden. Diese Bewegung stehe jedoch erst ganz am Anfang, sei „spontan, größtenteils unbewusst, intuitiv und blind“ (D 32). Es fehle ihr noch an einem wirklichen Verständnis der gegenwärtigen Situation. Der tiefere Grund dafür bestehe darin, dass die „populistische“ Opposition gegen die liberalen Eliten selbst noch auf dem Boden des Liberalismus stehe: So wollten Trump und seine Anhänger:innen „den Liberalismus in seiner globalistischen Form ad acta“ legen und „zur Ära der Nationalstaaten zurückkehren“ (D 22), aber „sie denken nicht einmal im geringsten über eine ausformulierte Kritik des Kapitalismus nach“ (D 37). „Sie versuchen, die vorherige Stufe derselben liberalen Demokratie, desselben Kapitalismus vor seinen späteren und entwickelteren Stufen zu retten. Und das birgt in sich selbst einen Widerspruch.“ (D 37) Solange die Opposition gegen den Great Reset diesen Widerspruch nicht überwinde, habe sie keine Chance, die gegenwärtige Weltordnung wirklich herauszufordern.

Die von Dugin am Beispiel des Trumpismus formulierte Kritik lässt sich ebenso gut auf unseren C.E. Nyder anwenden: Auch Nyder möchte zu einer heilen Welt der Vergangenheit zurück, in der es noch wirkliche Marktwirtschaft, Volkssouveränität und einen ethnisch homogenen Nationalstaat gegeben habe. Es erkennt nicht, dass die liberale Gesellschaft früherer Tage aufgrund ihrer eigenen Dynamik in den heutigen Zustand übergegangen ist. In Dugins Begriffen ist er ein Vertreter des Liberalismus 1.0, der über keinerlei „ausformulierte Kritik des Kapitalismus“ verfügt und daher den aktuellen Weltlauf weder adäquat analysieren noch Wege aufzeigen zeigen kann, um diesen zu ändern. Dazu passt, dass Nyder außer der „Besinnung“ auf die Werte des Grundgesetzes keine praktischen Vorschläge macht, wie die von ihm kritisierten Zustände überwunden werden könnten. Das Buch endet mit dem Schlusssatz: „Nur Treue zur Verfassung, Freiheit und Brüderlichkeit können uns die Werkzeuge an die Hand geben, um anstehenden Probleme wenn schon nicht zu beheben, so doch in Würde zu überleben!“ (351)

Mit einer solch fatalistischen Perspektive gibt Dugin sich nicht zufrieden. Es gebe durchaus einen Ausweg aus der Misere, jedoch brauche die Opposition gegen den Great Reset dazu eine neue ideologische Grundlage. Sie dürfe nicht länger den Neoliberalismus vom Standpunkt einer älteren Form des Liberalismus oder einer anderen westlichen Ideologie, wie des Nationalismus oder Sozialismus, kritisieren. „Um aus diesen Grenzen herauszukommen, laden wir Sie ein, über den Westen hinauszugehen. Also, willkommen im Osten. […] Willkommen im Islam, willkommen in Indien, willkommen in der großen, alten chinesischen Zivilisation, willkommen in Afrika.“ (D 61) In all diesen Kulturen seien noch uralte Traditionen lebendig, denen der westliche Individualismus fremd sei und die den Einzelnen fest in religiös legitimierte Hierarchien einbinden. An derartiger „Inspiration aus dem Osten“ (D 61) sollten sich die populistischen Bewegungen Europas und Nordamerikas orientieren.

Aber die nicht-westlichen Kulturräume hätten für das „Große Erwachen“ mehr als nur philosophische Denkanstöße zu bieten. Insbesondere China, Indien und einige islamische Staaten hätten sich auch zu bedeutenden wirtschaftlichen und militärischen Mächten entwickelt, die in der Lage seien, die geopolitische Dominanz des Westens herauszufordern. Dazu müssten sie aber laut Dugin den Einfluss westlicher Ideologien auf ihre eigenen Gesellschaften bekämpfen, ihre Streitigkeiten untereinander zurückstellen und sich zu einem Block mit einer gemeinsamen Strategie zusammenschließen. Um die unipolare Weltordnung des Liberalismus unter Führung der USA herauszufordern, müsse die „Multipolarität […] zum wichtigsten Referenzpunkt und dem Schlüssel der Strategie des Großen Erwachens“ (D 38) werden. Unter „Multipolarität“ versteht Dugin das Konzept der Aufteilung der Welt in mehrere Großräume, die jeweils den Einflussbereich einer regionalen Hegemonialmacht bilden. Jede dieser Weltregionen solle ihre eigene kulturelle, wirtschaftliche und politische Ordnung bilden und sich in die Belange der anderen nicht einmischen. Wenn sich die nicht-westlichen Staaten auf eine solche multipolare Weltordnung als gemeinsames Ziel einigten und ihre geopolitischen Bemühungen koordinierten, könnte es ihnen gelingen, die „Diktatur der liberal-kapitalistischen Eliten“ (D 37) über den Globus zu brechen. Auch die westlichen Gegner:innen des Great Reset würden für diese Strategie eine wichtige Rolle spielen, indem sie die Hegemonie des Liberalismus in dessen Kernländern von innen heraus destabilisieren. Mithilfe ihrer mächtigen östlichen Verbündeten könnten sie dann daran arbeiten, die „Würde der vormodernen christlichen Gesellschaften“ (D 67) wiederherzustellen. Die Führungsrolle innerhalb der antiwestlichen Koalition soll aber Dugins Heimatland Russland zukommen: Dessen historische Mission liege „nicht nur darin, eine aktive Rolle im Großen Erwachen einzunehmen, sondern auch darin, an seiner Spitze zu stehen“ (D 47).

Es ist offensichtlich, dass Dugins Programm das genaue Gegenteil dessen ist, was wir – kommunistische Anarchist:innen, antiautoritäre Sozialist:innen – politisch erreichen wollen. Die Idee, dass Menschen ihre Beziehungen „durch das freie Einverständnis von unten“ gestalten könnten, ist für Dugin die Wurzel allen Übels – für uns dagegen das Grundprinzip, auf dem wir eine künftige, bessere Gesellschaft aufbauen wollen. Im Gegensatz zu Dugin werfen wir dem Kapitalismus nicht vor, dass er die Individuen aus den Kollektiven und Hierarchien der Vergangenheit befreit hat. Wir kritisieren, dass er dies nicht gründlich genug getan hat: Zwar wird in modernen, liberalen Gesellschaften den Menschen nicht mehr auf Schritt und Tritt von Stammesältesten oder religiösen Autoritäten vorgeschrieben, wie sie zu leben haben. Aber dennoch sind ihrer Selbstbestimmung meist enge Grenzen gesetzt, weil die Klassenverhältnisse ihnen die dafür nötigen materiellen Mittel vorenthalten und die alten Kollektividentitäten wie Nation und Geschlecht in veränderter Form nach wie vor ihr Leben bestimmen und einschränken.

Im Gegensatz zu C. E. Nyders Traum von einer Rückkehr zu einer vergangenen Epoche des Liberalismus hat Dugins geopolitisches Projekt aber durchaus reale Aussichten auf Erfolg. „Ein antiwestlicher Block entsteht, so mächtig wie noch nie“, berichtet Welt-Herausgeber Stefan Aust über das 14. Gipfeltreffen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), am 23. Juni 2022. „Es sind höchst unterschiedliche Länder und Politiker, die hier in der Ablehnung westlicher Vormacht und Werte vereint scheinen.“ Angesichts des Ukraine-Konflikts stellten sich die BRICS-Führer mehr oder weniger offen auf die Seite Russlands und arbeiten daran, durch verstärkte wirtschaftliche Kooperation die westlichen Sanktionen ins Leere laufen zu lassen. Und andere Länder des globalen Südens orientieren sich wirtschaftlich und politisch mittlerweile stärker an den BRICS-Staaten als am Westen. „Der Wind hat sich gedreht“, kommentiert Stefan Aust: „Kein Land in Lateinamerika beteiligt sich an den Sanktionen gegen Russland, auch kein Land aus Afrika. In Asien sind es lediglich Japan, Südkorea und Taiwan.“ (29) Das von Dugin propagierte „Große Erwachen“ gegen den Great Reset ist also keine vage Zukunftsprojektion – es scheint bereits begonnen zu haben. Nur dass dabei wohl eher China als Russland die Führung übernimmt, was Dugins Nationalstolz zweifellos schmerzen wird.

Auch die Wiederbelebung von Traditionen und Lebensformen der Vergangenheit wird sich im Rahmen des antiwestlichen Bündnisses wahrscheinlich nicht in dem Maße verwirklichen, wie Dugin sich das wünscht. Den „antikapitalistischen“ Tönen in Dugins Schriften zum Trotz beruht die Macht des östlichen Herausforderer des Westens selbstverständlich auf der Ausbeutung von Lohnarbeit und der Akkumulation von Kapital. Die Führungen dieser Länder bemühen sich in jeder Hinsicht um eine Modernisierung ihrer Gesellschaften, um mit dem Westen konkurrenzfähig zu werden. Die chinesische Führung ist an Künstlicher Intelligenz mehr interessiert als an Konfuzius und für die iranische Theokratie ist die Entwicklung des Ölpreises wichtiger als die Auslegung des Koran. Forderungen Dugins wie die folgende: „Große Industriestädte sollten ausgelöscht werden – die Bevölkerung sollte sie verlassen und ein echtes Leben auf dem Land führen“ (77) werden daher in den Herrschaftszentralen in Moskau, Peking oder Teheran bloß Kopfschütteln auslösen.

Aber eine erfolgreiche Ideologie muss nicht in allen Punkten mit der Realität übereinstimmen. Sie muss nur hinreichend plausibel sein, um Menschen für ein Handeln gemäß einheitlicher Ziele zu mobilisieren. „Große Geopolitik braucht große Ideen“ (D 113) fordert Dugin. In diesem Sinne könnten die Architekt:innen der künftigen „multipolaren Weltordnung“ durchaus auf seine Theorie zurückgreifen, um ihrer Politik höhere Weihen zu verleihen. So lässt sich vielleicht auch der oben erwähnte Streit über das Verhältnis von Putin und Dugin ganz zwanglos auflösen. Nämlich dergestalt, dass es für Putin gar keinen Widerspruch darstellt, sich Dugins Ideen als Rechtfertigungsideologie seines Imperialismus zu bedienen, während er bei Organisation der ökonomischen und militärischen Grundlagen seines Staates nicht im Traum daran denkt, auf dessen Phantasien zu hören. Die Herren Xi, Modi, Bolsonaro und so weiter werden es mit ihren chinesischen, indischen und brasilianischen Dugins wahrscheinlich ähnlich halten.

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Die versammelten Führer der BRICS-Staaten beim virtuellen Gipfeltreffen im Juni 2022

Den falschen Gegensatz zurückweisen

Der Konflikt, den ich hier als Gegensatz zwischen dem Great Reset und seinen Feind:innen beschrieben habe und der sich innenpolitisch als Liberalismus versus (Rechts)populismus und weltpolitisch als Gegensatz von alten Industrieländern und aufstrebenden Schwellenländern darstellt, scheint die zentrale Auseinandersetzung unserer Tage zu sein. Er tritt bei unterschiedlichsten politischen Themen auf und nötigt zu einer klaren Positionierung: Bist du für Trump oder Biden, für bezahlbares Benzin oder Klimaschutz, für Querdenken oder die Coronamaßnahmen der Regierung, für Russland oder die NATO? Neutralität wird nicht geduldet, wer eine dritte Position einzunehmen versucht, wird schnell der Zusammenarbeit mit dem Feind verdächtigt. Kritik am liberalen Mainstream wird häufig als Unterstützung des Rechtspopulismus wahrgenommen und Kritik am Populismus als Unterstützung der Regierung.

Tatsächlich ist das nicht nur eine Frage der Wahrnehmung – es gibt eine reale Tendenz, dass zunächst unabhängige oder gemäßigte Stimmen von den tonangebenden Kräften aus einem der beiden großen Lager vereinnahmt werden bzw. diesem in die Hände spielen, selbst wenn die Akteur:innen das gar nicht beabsichtigen. So hat die Fraktion der AfD um Bernd Lucke, die die Regierungspolitik von einer marktliberalen Position der bürgerlichen Mitte aus kritisierte, letztlich den Aufstieg der rechtsradikalen Kräfte in der Partei befördert, von denen sie später verdrängt wurde. Überzeugte Demokrat:innen, die auf Querdenken-Demos als unorganisierte Einzelpersonen mit dem Grundgesetz in der Hand gegen den autoritären Staat protestierten, trugen zu einer Bewegung bei, die letztlich vor allem rechte Gruppen als Rekrutierungsfeld diente, deren Staatsvorstellungen noch autoritärer sind als die kritisierten Maßnahmen. Liberale Kritiker:innen des Great Reset wie C.E. Nyder könnten den Aufstieg antiwestlicher Bewegungen fördern, die von einem Bündnis Europas mit Russland und China träumen und im Zweifelsfall die von Nyder verteidigten „westlichen Werte“ noch schneller beerdigen würden als die Davoser Clique um Klaus Schwab.

Während bürgerliche Kritik am liberalen Mainstream dazu tendiert, gewollt oder ungewollt der radikalen Rechten zu nützen, tendieren viele Linke in den letzten Jahren dazu, die Politik des liberalen Mainstream zu unterstützen. Fridays for Future erklärte Parlamentswahlen zur „Klimawahlen“ und rief mehr oder weniger offen zur Unterstützung der Grünen auf, der Partei eines vermeintlich „ökologischen“ Kapitalismus. Antifagruppen trugen mit ihrer pauschalen Diffamierung von Querdenken als „Coronazis“ dazu bei, jede Kritik an der Coronapolitik der Regierung zu dämonisieren und in die rechte Ecke zu stellen. Anlässlich des Ukrainekriegs werfen viele Linke frühere antimilitaristische Positionen über Bord und ergreifen im Namen der „Verteidigung der Demokratie“ mehr oder weniger offen Partei für die NATO, bis hin zur Forderung nach Waffenlieferungen an die ukrainische Regierung. (30) Woher kommt dieser zunehmende linke Konformismus? Zum einen scheint es eine gewisse Affinität des Moralismus der neueren Regierungskampagnen zum Moralismus der linken Szene zu geben. Des Weiteren trägt die übertriebene Furcht, den Rechten in die Hände zu spielen, zur Kritikunfähigkeit der Linken bei: So werden z.B. Mutmaßungen über bösartige Pläne mächtiger Personen der liberalen Seite wie Klaus Schwab, Bill Gates oder George Soros oft reflexartig als rechte „Verschwörungstheorien“ abgetan, anstatt der Sache erst einmal auf den Grund zu gehen, die Quellen zu studieren und zu einer differenzierten eigenen Einschätzung zu kommen (so wie ich es in diesem Text versucht habe). Und schließlich nähert sich die identitätspolitische Fixierung der Szene auf den Kampf gegen Diskriminierungen und Privilegien unter Ausblendung der Klassenverhältnisse auch objektiv dem bürgerlichen Liberalismus an, der ja ebenfalls dafür ist, dass alle Menschen möglichst gleichberechtigt auf dem kapitalistischen Markt miteinander konkurrieren können.

Der neue Kalte Krieg zwischen der „unipolaren“, US-dominierten Weltordnung und ihren „multipolaren“ Herausforderern unter chinesischer Führung ist nicht nur deshalb fatal, weil er die Gefahr größerer militärischer Auseinandersetzungen bis hin zu einem Dritten Weltkrieg in sich birgt. Die weltpolitische Konfrontation ist vor allem deshalb verhängnisvoll, weil sie die historischen Möglichkeiten der Epoche einfriert. Sie verdeckt, dass der wirkliche Widerspruch der Gegenwart nach wie vor der Antagonismus von Kapital und Arbeit ist: zwischen den Profitinteressen der Herrschenden und den Lebensinteressen der Lohnabhängigen oder, anders ausgedrückt: Zwischen dem Marsch dieser Gesellschaftsordnung in Richtung immer krasserer sozialer Spaltung, totalitärerer Kontrolltechnologie und ökologischem Kollaps – und der Perspektive der Aneignung und bewussten Umgestaltung der Produktion durch die vereinigten Produzent:innen.

Würde dieser wirkliche Konflikt wieder auf die Tagesordnung gesetzt, so würde sich zeigen, dass die zu Unterschieden ums Ganze stilisierten aktuellen Gegensätze – „demokratischer Westen“ vs. „russische Barbarei“ etc. – nur Varianten desselben Unheils sind. Die Fraktionen der herrschenden Mächte würden dies bestätigen, indem sie sich im Falle des Auftretens einer revolutionären Kraft augenblicklich gegen diese verbünden und ihre Konflikte untereinander zurückstellen würden, weil die gemeinsame Grundlage ihrer Herrschaft bedroht wäre.

Im Prinzip müsste es also darum gehen, den falschen Gegensatz von Great Reset und „Großem Erwachen“ zurückzuweisen und einen dritten Pol in der Auseinandersetzung aufzubauen: den des revolutionären Proletariats. Dieser müsste in allen sozialen Auseinandersetzungen einen konsequenten Klassenstandpunkt einnehmen: für die autonome Selbstorganisation der Lohnabhängigen und Unterdrückten und gegen alle Fraktionen der Herrschaft, östlich oder westlich, populistisch oder liberal. Ob die radikale Linke in ihrer gegenwärtigen Verfassung dazu viel beitragen kann, ist allerdings fraglich.

In dieser desolaten Lage wäre es schon ein wichtiger Schritt, die sich gegenwärtig abspielenden gesellschaftlichen, geopolitischen und technologischen Umbrüche überhaupt zur Kenntnis nehmen und zu versuchen, sie zu verstehen. Und natürlich sollten wir uns im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten in soziale Auseinandersetzungen einmischen, wo immer wir das schaffen. Sich in reale Konflikte um alltägliche Dinge wie Lohn, Arbeitsbedingungen, Mieten etc. zu involvieren, kann vielleicht auch helfen, dem scheinbar übermächtigen Druck zu widerstehen, sich mit einer Seite der offiziellen Konflikte zu identifizieren. An Gelegenheiten zu solchen Einmischungen wird es in Zukunft nicht mangeln, da sich die sozialen Widersprüche im Westen spürbar zuspitzen. Die Probe aufs Exempel könnte schon im kommenden Herbst und Winter auf uns zukommen, wenn die Wut über explodierende Heizkosten die Bevölkerung auch hierzulande auf die Straßen treibt.


(1) World Economic Forum: The Great Reset, Abruf: 05.08.2022.

(2) In der deutschen Fassung lautet der Titel Der große Umbruch. (Klaus Schwab, Thierry Malleret: Covid-19: Der große Umbruch, Cologny / Genf 2020).

(3) Quinn Slobodian: How the 'great reset' of capitalism became an anti-lockdown conspiracy, The Guardian, 04.12.2020, Abruf: 24.04.2022.

(4) C.E. Nyder: Great Reset. Der Angriff auf Demokratie, Nationalstaat und bürgerliche Gesellschaft, Rottenburg 2021. Im Folgenden werde ich Zitate aus dem Buch durch eine Seitenzahl in Klammern direkt im Text angeben.

(5) Alexandra Fedorets: Ein Nährboden für gesellschaftliche Polarisierung, 09.10.2021, Abruf 03.06.2022.

(6) Wikipedia, Stichwort: Tulpenmanie, Abruf: 03.06.2022.

(7) Das Interview bei youtube, Abruf: 27.06.2022.

(8) OECD Data: Foreign born population 2000-2019, Abruf: 11.06.2022.

(9) Michael Rasch: In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen, Neue Züricher Zeitung, 09.07.2019, Abruf: 11.06.2022.

(10) World Economic Forum: The Business Case for Migration, Colony 2013, Abruf: 29.06.2022.

(11) Ebd., S. 12.

(12) Ebd., S. 5.

(13) Ebd., S. 41.

(14) Brian Wheeler: EU should 'undermine national homogeneity' says UN migration chief, BBC, 21.06.2012, Abruf: 29.06.2022.

(15) Yascha Mounk im Gespräch mit Liane von Billerbeck: Kulturpatriotismus als Bindeglied, 01.04.2022, Abruf: 30.06.2022.

(16) Vgl. Adrian Kreutz: Der Leviathan und das Virus, Der Freitag, 01.04.2020, Zugriff: 29.09.2020

(17) Merkels Land im Härtetest, in: Gegenstandpunkt 1-22, S. 60.

(18) Coronavirus: Polizei setzte an Ostern auch Drohnen ein, Die Welt, 14.04.2020, Abruf: 06.07.2022.

(19) Zur Debatte um die Effektivität von Lockdowns und deren Nebenwirkungen vgl. Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen, München 2022, S. 299-316.

(20) Corona-Pandemie - Massiver Anstieg bei anderen Krankheiten, Tagesschau, 02.11.2021, Abruf: 16.07.2022.

(21) WHO sieht starken Anstieg psychischer Krankheiten durch Corona, Die Welt, 17.06.2022, Abruf: 16.07.2022.

(22) Corona-Impfung: Gibt es mehr schwere Nebenwirkungen?, RedaktionsNetzwerk Deutschland, 08.07.2022, Abruf: 16.07.2022.

(23) Zum Zustandekommen des Strategiepapiers vgl. Anette Dowideit, Alexander Nabert: Wenn der Staatssekretär Wissenschaftler zu „maximaler Kollaboration“ aufruft, Die Welt, 08.02.2022, Abruf: 12.07.2022. Das „Geheimpapier“ wurde von der Website fragdenstaat.de online gestellt (Abruf 12.07.2022) und daraufhin auch vom Bundesinnenministerium selbst veröffentlicht.

(24) Freedom House: Freedom on the Net 2020. The pandemic's digital shadow, New York 2020, Abruf: 06.08.2022.

(25) Kerstin Holm: Auf diesen Mann hört Putin, FAZ, 16.06.2014, Abruf: 21.07.2022.

(26) Eva Hausteiner: Putins Dämon?, Die Zeit, 04.09.2014, Abruf: 21.07.2022.

(27) Vgl. Christian Neef: „Jeder Westler ist ein Rassist“, Der Spiegel, 14.07.2014, Abruf: 14.07.2022.

(28) Alexander Dugin: Das Große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021. Im Folgenden werde ich Zitate aus dem Buch durch eine Seitenzahl in Klammern mit einem vorangestellten D direkt im Text angeben.

(29) Stefan Aust: Ein antiwestlicher Block entsteht, so mächtig wie noch nie, Die Welt, 26.06.2022, Abruf: 22.07.2022.

(30) Z.B. Udo Knapp: Gibt der Westen auf?, TAZ, 18.07.2022, Abruf: 24.07.2022 oder Andreas Exner: „Immer wieder Kalter Krieg“ – Anachronismen und Illusionen der Linken, 20.03.2022, Abruf: 24.07.2022.

Alfred Masur

Der Autor lebt in Dortmund und arbeitet im Bildungssektor.

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