Freiheit für Giánnis Michailídis!


Ralf Dreis
Aktuelles Repression Griechenland

Der griechische Anarchist Giánnis Michailídis hat am 29. Juli 2022 nach 68 Tagen den Hungerstreik für seine Freilassung abgebrochen. Dies ist eine Niederlage für Michailídis und die anarchistische Bewegung Griechenlands.

Ralf Dreis stellt den Fall des politischen Gefangenen und die gelaufenen Solidaritätsaktionen, vor dem Hintergrund der autoritären Entwicklung in Griechenland vor und zieht ein erstes Fazit.

Der Verlauf des Kampfes für die Freiheit von Giánnis Michailídis wirft für emanzipatorische Kräfte in Griechenland die Frage auf, wie es gelingen kann, die immer repressiver herrschende Regierung unter Kyriákos Mitsotákis zu stoppen, bevor das Land nach dem Vorbild von Viktor Orbáns Ungarn oder Recep Tayyip Erdoğans Türkei autoritär umgestaltet ist.

Mit spektakulären Aktionen gegen das Schweigen der Mediien

Recht einfach gelang es der Néa-Dimokratía-Regierung, die rechtmäßige Forderung von Michailídis nach Freilassung zu ignorieren. Sie hat ohne Skrupel klargemacht, dass sie bereit ist einen Toten in Kauf zu nehmen, und hat solidarische Mobilisierungen ohne größere Probleme durch Festnahmen, Blendschock-Granaten, Tränengas und Polizeiknüppel niedergeschlagen. Gestützt auf die Diskursmacht der landesweiten regierungsnahen Fernsehsender, Radiostationen und Tageszeitungen schaffte die Regierung es, den Hungerstreik über anderthalb Monate lang nahezu aus der griechischen Öffentlichkeit zu verbannen. Im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen fiel Griechenland inzwischen auf Platz 108 von 180 Staaten zurück. Eine Stärke der anarchistischen Bewegungen Griechenlands, nämlich die Herstellung von Öffentlichkeit und die Mobilisierung breiter gesellschaftlicher Schichten für anarchistische Themen, lief unter diesen Bedingungen ins Leere. Was abends nicht in der Hauptnachrichtensendung läuft, hat auch nicht stattgefunden. Werden dazu noch die Demonstrationen polizeilich zerschlagen, bleiben als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit nur eingeschränkte Möglichkeiten. So gelang es der Solidaritätskampagne lange nicht, größere Aufmerksamkeit zu erlangen. Erst spektakuläre Aktionen wie die Besetzung lokaler Radiosender, Rathäuser und Gewerkschaftshäuser oder Anschläge auf Banken und staatliche Gebäude durchbrachen das Schweigekartell der großen Sender. Doch zu dieser Zeit, ab Mitte Juli, schwebte der hungerstreikende Michailídis, nach mehr als 50 Tagen ohne Nahrungsaufnahme, schon in Lebensgefahr.

Ein Paradebeispiel rachsüchtiger Klassenjustiz

Michailídis, der seit 2013 inhaftiert ist, erfüllt bereits seit Dezember 2021 alle Voraussetzungen, um gemäß dem griechischen Strafgesetz unter Auflagen aus der Haft entlassen zu werden. Er hat drei Fünftel seiner Strafe wegen eines Banküberfalls und anderer Vorwürfe abgesessen, und es sind keine Strafverfahren oder Disziplinarstrafen im Gefängnis gegen ihn anhängig. Obwohl dieses erkämpfte Recht ausnahmslos allen Gefangenen zusteht, wird ihm die Freilassung unter Auflagen verweigert. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft verwarf das zuständige Gericht in Ámfissa die Haftentlassung, da „nicht ausgeschlossen werden kann, das Michailídis erneut straffällig werden könnte“. Der Beschluss reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Entscheidungen der Justiz seit 2019, als die Néa Dimokratía (ND) unter Mitsotákis die Regierungsgeschäfte übernahm. Der Justizapparat spielt eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Regierungsagenda. Die ND arbeitet daran, das Demonstrationsrecht weiter einzuschränken, das Streikrecht zu beschneiden und nicht nur das Hochschulasyl endgültig abzuschaffen, sondern auch eine Universitätspolizeitruppe auf dem Campus zu stationieren. Um all das zu realisieren, wurden Tausende Polizeibeamt:innen neu eingestellt. Anfang August 2022, mitten in den Semesterferien, wurde ein erster Polizeitrupp auf dem Campus in Thessaloníki stationiert. Dass die Justiz „weder blind noch unabhängig, sondern eine Klassenjustiz ist“, wie Unterstützer:innen von Michailídis betonen, wurde in den letzten Jahren immer wieder deutlich. Bei vielen repressiven Entscheidungen ging es darum, die Rechte Inhaftierter zu beschneiden, ihnen zum Beispiel das Studium zu erschweren, Hafturlaub zu streichen, oder, wie im Fall von Michailídis, eine Entlassung auf Bewährung zu verweigern.

„Die griechische Justiz ist wie eine Schlange, sie beißt nur die Barfüßigen.“ (Michális Kritharídis, Mera25)

Während Michailídisʼ Hungerstreiks sorgten Haftentlassungen von Mördern, Totschlägern und Vergewaltigern für Empörung nicht nur in linken und anarchistischen Kreisen. So entschied dasselbe Amtsgericht in Ámfissa, das Michailídisʼ Freilassung verweigerte, am 5. Juli, den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Polizisten Epaminóndas Korkonéas freizulassen, der 2008 im Dienst den 15-jährigen Aléxandros Grigorópoulos erschossen hatte. Nach dem Mord hatten wochenlange soziale Unruhen das Land erschüttert. Korkonéas saß zehn Jahre im Gefängnis. Kurz zuvor war dem Antrag von Athanásios Chortariás auf Haftverschonung bis zum Berufungsprozess stattgegeben worden. Er ist einer der beiden Täter, die 2018 den LGBT-Aktivisten Zak Kostópoulos umbrachten und deshalb wegen Totschlags zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt wurden. Chortariás, ein Immobilienmakler und Pressesprecher der rechtsextremen Patriotischen Front in Athen, saß nach der erstinstanzlichen Verurteilung ganze zwei Monate in Haft; sein Mittäter darf die Strafe sowieso zu Hause absitzen. Auch der wegen sexuellen Missbrauchs, Körperverletzung und der Vergewaltigung von Kolleginnen verurteilte Schauspieler Pétros Filipídis und der wegen wiederholter Vergewaltigung männlicher Minderjähriger erstinstanzlich zu zwölf Jahren Haft verurteilte ehemalige Intendant des Staatstheaters in Athen, Dimítris Lignádis, sind bis zu den Berufungsverhandlungen auf freiem Fuß. Beide gehören zum Athener Kulturestablishment und persönlichen Umfeld von Mitsotákis. Im Fall Filipídis begründete das Gericht die Entscheidung damit, dass dieser nicht mehr gefährlich sei, da „zukünftige mögliche Opfer ihn nun kennen und ihm aus dem Weg gehen“ könnten.

Groteskes Urteil und Schikanen gegen Michailídis

Michailídisʼ Verfolgung begann 2011, als Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in der Synomosía Pyrínon tis Fotiás (Verschwörung der Feuerzellen) gegen ihn erlassen wurde. Er war mit Mitgliedern der „Feuerzellen“ politisch verbunden und persönlich befreundet, bestritt aber jede Beteiligung an der Organisation und tauchte unter, um nicht verhaftet zu werden. Nach zwei Jahren auf der Flucht wurde er nach einem gescheiterten Banküberfall zusammen mit drei Genossen gefasst. Sie wurden misshandelt und Bilder ihrer blutigen und blau geschwollenen Gesichter in der Presse veröffentlicht. Im Prozess wurde der Vorwurf der Mitgliedschaft in den „Feuerzellen“ fallen gelassen. Stattdessen wurde Michailídis für den gescheiterten Banküberfall, versuchten Totschlag und „individuellen Terrorismus“ zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er sagt dazu: „Außerdem wurde ich wegen versuchten Totschlags an einem Polizeibeamten verurteilt, obwohl ich unbewaffnet war. Laut Anklage hatte ich versucht, ihn mit Hilfe des Polizeiautos zu ermorden, das ich mir geschnappt hatte, um der Verhaftung zu entgehen. (…) Der Fall und die hohe Strafe sind bis heute die einzige Anwendung des Gesetzes über ‚individuellen Terrorismus‘ in der griechischen Gerichtschronik.“ Ohne Grund wurden ihm 2019 der Ausgang, um seinem Studium nachzugehen, und der reguläre Hafturlaub gestrichen. Daraufhin flüchtete Michailídis aus dem Gefängnis, wurde jedoch kurz darauf erneut verhaftet. Nach dem negativen Bescheid im Februar 2022 erfolgte im Mai die zweite Ablehnung seines Antrags auf Haftentlassung, ohne dass die Richter eine zeitliche Höchstgrenze bis zur Freilassung bestimmt hätten. Dazu benutzten sie den argumentativen Trick, dass der Gefangene zwar die formalen, nicht jedoch „die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Haftentlassung erfüllt“. Ihnen fehlt eine Reuebekundung, um dem Gefangenen, seinen Genossinnen in Freiheit und der griechischen Gesellschaft als Ganzer zu zeigen, dass es dem Staat gelingt, auch seine entschiedensten Gegnerinnen zu brechen. Als das Revisionsgericht in Lamía am 67. Tag des Hungerstreiks seinen Einspruch ablehnte, war der Abbruch der einzige Weg, um sein Leben zu retten. Seine Anwält:innen und die Bewegung werden weiter für seine Freilassung kämpfen. Bei Hungerstreiks in Griechenland geht es immer um die Durchsetzung von Rechten oder der Freiheit der Gefangenen, nicht um die Schaffung von Märtyrer:innen. Denn klar ist: Wir brauchen lebende Genoss:innen, keine toten Held:innen. Klar ist aber auch, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir unsere Genoss:innen aus den Knästen frei bekommen.

Ralf Dreis

Ralf Dreis, Gärtner, Neugriechisch-Übersetzer, freier Journalist und Anarchist, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland und Griechenland, ist Mitglied der FAU und in der anarchistischen Bewegung beider Länder aktiv.

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