Erneuter Polizeimord in Griechenland


Ralf Dreis
Aktuelles Griechenland Polizeigewalt

In Griechenland protestieren Roma sowie linke und anarchistische Organisationen erneut gegen Polizeigewalt und Rassismus. Anfang Dezember hatte ein Polizeibeamter bei einer Verfolgungsjagd in Thessaloníki einem 16jährigen in den Kopf geschossen, der eine Tankrechnung in Höhe von 20 Euro nicht bezahlt haben soll.

Der 16jährige Rom Kóstas Fragoúlis kämpfte eine Woche lang um sein Leben, am Morgen des 13. Dezember 2022 starb er. Frangoúlis soll eine Woche zuvor, am Montag den 05.Dezember, in den frühen Morgenstunden an einer Tankstelle in Thessaloníkis Industrievorort Kalochóri im Wert von 20 Euro getankt haben und ohne zu bezahlen weggefahren sein. Beamte der motorisierten Polizei-Sondereinheit Dias nahmen die Verfolgung auf. Nachdem Fragoúlis nicht auf Haltezeichen reagiert haben soll, schoss ihm einer der Dias-Beamten in den Kopf.

Wie im Fall der tödlichen Polizeischüsse auf den 18jährigen Rom Nikos Sambánis in Pérama bei Athen vor etwas mehr als einem Jahr, versucht die griechische Polizei, dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben. Von „ständigen gefährlichen Manövern“ und dem „versuchten Frontalzusammenstoß mit einem Dias-Motorrad“ ist im Polizeibericht die Rede. Theófilos Alexópoulos, der Anwalt der Familie Fragoúlis, spricht dagegen von einem „kaltblütigen Mordversuch der Polizei“ durch einen „geraden Schuss von hinten in den Kopf“ und betont, dass es „von Seiten des Jungen keinerlei Angriff gegen die Polizeibeamten“ gegeben habe.

Der griechische Ministerpräsident Kyriákos Mitsotákis von der rechten Partei Néa Dimokratía (ND) fand kein Wort des Beistands für die Familie, sondern verkündete ebenfalls am 05.Dezember, nur wenige Stunden nach den Polizeischüssen, eine steuerfreie Bonuszahlung in Höhe von 600 Euro für alle Polizist:innen zu Weihnachten. Am Nachmittag desselben Tages wurde der Dias-Beamte, der dem 16jährigen in den Kopf geschossen hatte, vom Dienst suspendiert. Inzwischen wird gegen ihn wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz ermittelt. Am Freitag den 09.Dezember wurde der Schütze dann vorerst unter Hausarrest gestellt, inzwischen jedoch mit Entscheid vom 22.12.2022 auf freien Fuß gesetzt. Vor Gericht sagte er, der Jugendliche habe versucht, ein Polizeimotorrad zu rammen, und er habe geglaubt, seine Kollegen seien in Gefahr und deshalb zwei Schüsse abgegeben, „einen Warnschuss in die Luft und einen auf die Reifen des Wagens“. Die Kugel des „Warnschusses“ wurde in der Eingangstür eines Hotels am Tatort gefunden. Bekannt wurde mittlerweile auch, dass die Polizei die Schüsse stundenlang verschwiegen und nur von einem „Verkehrsunfall“ berichtet hatte.

Zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen Roma und der Polizei kam es bereits gegen Mittag des 05. Dezember vor dem Hippokrátion-Krankenhaus in Thessaloníki. Während Ärzt:innen in einer Notoperation die Kugel aus dem Kopf des 16jährigen entfernten, hatten sich Dutzende Angehörige und Freund:innen zur Unterstützung und Anteilnahme versammelt. Sie griffen die martialisch aufmarschierende Spezialeinheit MAT der Bereitschaftspolizei mit Flaschen, Steinen und Stühlen an, die wiederum Tränengas und Schlagstöcke einsetzte. Die Auseinandersetzung beruhigte sich erst, als sich die MAT nach der Intervention von Ärzt:innen zurückzog.

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Sytemische Polizeigewalt

Die Vereinigung griechischer Roma, Ellan Passe, schrieb in einer Pressemitteilung, Politik und Gesellschaft trügen eine Mitverantwortung „an den blutigen Vorfällen mit Vorankündigung“, und von einer Tatenlosigkeit der Regierung „was das Anstreben von Chancengleichheit für junge benachteiligte Roma betrifft, gekoppelt an die durchgängige Straflosigkeit für Polizeibeamte, die in solche Fälle verwickelt sind“. Ellan Passe betonte, dass die Organisation, wie in allen anderen Fällen auch, der Familie von Fragoúlis beistehen werde.

Man werde sich für die vollständige Aufklärung der Umstände und des Tathergangs einsetzen. „Die Wiederholung und die Systematik der Vorfälle von Polizeigewalt gegen junge Angehörige der Roma-Minderheit zeigt inzwischen mehr als deutlich, dass wir hier nicht über Einzelfälle sprechen, sondern über ein systemisches Problem illegaler Polizeigewalt, die verstärkt die Schwächsten trifft.“ Die Roma-Siedlung Agía Sofía im Stadtteil Délta in Thessaloníki, in der Fragoúlis lebte, wurde Anfang der nuller Jahre für 100 Familien aus Containern errichtet. „Inzwischen leben dort 4 000 Menschen unter fürchterlichen Bedingungen“, sagte der Vorsitzende von Ellan Passe, Vassílis Pántzos, der linken Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón (Efsyn). „Viele leben in verrotteten Containern ohne Strom und Wasseranschluss, sind arbeitslos oder sammeln Schrott.“

Noch im Laufe desselben Tags weiteten sich die Demonstrationen auf mehrere Stadtteile im Westen Thessaloníkis aus. Im Stadtzentrum endete eine Demonstration von Anarchist:innen gegen Polizeigewalt im Tränengasnebel. Vor dem Gerichtsgebäude schlugen Polizeibeamte den Vater des 16jährigen zu Boden. In mehreren Athener-Stadtteilen und Vororten errichteten junge Roma brennende Barrikaden und griffen Polizeieinheiten an, die wiederum Blendschockgranaten und Tränengas in die Demonstrierenden schossen.

Verstärkt wurden die Proteste dadurch, dass der erneute Schusswaffengebrauch der Polizei nur einen Tag vor dem 14. Todestag von Aléxandros Grigorópoulos geschah. Der damals 15jährige Grigorópoulos war am 6. Dezember 2008 von einem Polizeibeamten im Athener Szeneviertel Exárchia erschossen worden. In der Folge war es zu mehrwöchigen Unruhen gekommen und jährlich finden seither am 6. Dezember griechenlandweit Gedenkdemonstrationen statt. Wegen der in den vergangenen Monaten eskalierten Polizeigewalt wollten sich ohnehin schon Zehntausende an den diesjährigen Demonstrationen beteiligen.

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„Es geht nicht um Benzin, es geht nicht um Geld, der Bulle hat geschossen, weil er Rom war.“

Während der Gedenkdemonstrationen für Grigorópoulos am Abend des 6. Dezember lieferten sich Demonstrant:innen in Athen und Thessaloníki Straßenschlachten mit der Polizei. Bei den mehrstündigen Auseinandersetzungen in Exárchia nahm die Polizei neun Menschen fest, 16 weitere in Thessaloníki. In Ioánnina griffen Demonstrant:innen das Polizeihauptquartier mit Steinen, Flaschen und Molotowcocktails an, in Vólos wurde ein Parteibüro der ND zerstört. Die Unruhen breiteten sich in den folgenden Nächten auf Roma-Siedlungen in ganz Griechenland aus. An mehreren Stellen wurde die zentrale Nord-Süd-Autobahn mit brennenden Barrikaden blockiert, in Aspópirgos ging eine Reifenfabrik in Flammen auf. Die Parole der Demonstrant:innen lautete: „Es geht nicht um Benzin, es geht nicht um Geld, die Bullen haben geschossen, weil er Rom war.“

Schwerbewaffnete und vermummte Polizisten der Antiterroreinheit EKAM und der Sondereinheiten OPKE und MAT stürmten am 08. Dezember eine Vielzahl von Häusern und Wohnungen von Roma in Athener Stadtteilen wie Liósia und Asprópirgos. Wie Bürgerschutzminister Tákis Theodorikákos (ND) betonte, sollten dabei „Verantwortliche für die Auseinandersetzungen der vergangenen drei Tage“ gefunden werden. In Asprópirgos kam es dabei zu sieben Festnahmen wegen geringem Drogenbesitz. Unterdessen kam es auch in der fünften Nacht in Folge zu Straßenschlachten u.a. in Schistó und anderen Athener Stadtteilen. In Asprópirgous wurde auf Polizeieinheiten der Sondereineit OPKE mit Schrotflinten geschossen. Im Zentrum von Athen griffen Anarchist:innen am 10. Dezember die berüchtigte Polizeiwache am Omónia-Platz mit Molotowcocktails an. Dabei wurde der Eingangsbereich beschädigt, drei davor geparkte Polizeiwagen brannten aus. Nachdem die behandelnden Ärzt:innen am 13. Dezember den Tod des 16jährigen bekannt gegeben hatten, kam es in vielen griechischen Städten erneut zu großen Demonstrationen. In Thessaloníki waren bis zu 12.000 Menschen auf der Straße, in Athen an die 10.000. Erneut kam es in beiden Städten zu Auseinandersetzungen mit den martialisch auftretenden Polizeitruppen. Dabei wurden 36 Menschen n Thessaloníki festgenommen und 23 in Athen.

Zur Entscheidung des Gerichts, den Polizeischützen am 22. Dezember auf freien Fuß zu setzen, erklärt Ellan Passe gegenüber Efsyn: „Die Tatsache, dass nicht davon ausgegangen wird, dass ein Polizist, der einen Minderjährigen erschossen hat, erneut Straftaten begehen könnte, und dass abermals nicht untersucht wird, ob seiner Tat ein rassistisches Motiv zugrunde liegt, beunruhigt uns zutiefst (…)“ Die 600-Euro-Bonuszahlung für Polizeibeamt:innen zu Weihnachten wird allgemein als Belohnung für die unter dem Vorwand der Durchsetzung von Recht und Ordnung stattfindende und immer mehr ausufernde Polizeigewalt gesehen. Vor den geplanten Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 scheint die ND mit Unterstützung der ihr freundlich gesinnten Fernsehkanäle entschlossen, ganz auf autoritäre Propaganda und Repression zu bauen: brutal geräumte Häuser, nach Festnahmen misshandelte Demonstrant:innen, Schwerverletzte durch Kopftreffer mit Tränengasgranaten sowie schwerverletzte und erschossene Roma. Dabei ist der Polizeiapparat erwiesenermaßen hochkriminell: Berichte über Folter und Vergewaltigung auf Polizeiwachen, Beamte, die an Zwangsprostitution beteiligt sind, Kinderpornografie, Schutzgelderpressung, Bestechung und Kontakte zu Rechtsradikalen sind alltäglich.

Zu schweren innerparteilichen Konflikten bei der linken Oppositionspartei Syriza - und in geringerem Ausmaß in der kommunistischen KKE – hat inzwischen das Bekanntwerden der Tatsache geführt, dass beide Parteien im Parlament für die Bonuszahlungen an Polizeibeamt:innen gestimmt haben. Mit der Begründung nie gegen Lohnerhöhungen für die arbeitende Bevölkerung zu stimmen, versuchen die Parteiführungen die Welle der Empörung in den eigenen Reihen zu beschwichtigen. Mit der Erklärung „Nicht in unserem Namen“ wehren sich tausende Mitglieder und Anhänger:innen von Syriza gegen den „Bonus für die Mörder in Uniform“ und fordern „600 Euro Bonus für alle im Gesundheitssektor, die Feuerwehr, Lehrer:innen und alle anderen Berufsgruppen“.

Ralf Dreis

Ralf Dreis, Gärtner, Neugriechisch-Übersetzer, freier Journalist und Anarchist, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland und Griechenland, ist Mitglied der FAU und in der anarchistischen Bewegung beider Länder aktiv.

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