Im April 2022 hat der Oberste Gerichtshof von Asturien, einer Provinz im Nordwesten Spaniens, das bereits im Juni 2021 erlassene Urteil vom Strafgerichtshof Gijon gegen sechs Mitglieder bzw. Sypathisant:innen der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT bestätigt. Im ersten Urteil wurden sieben Mitglieder zu jeweils dreieinhalb Jahren Haft, sowie eine Person zu acht Monaten Haft für die "Nötigung und Behinderung der Justiz" und in Summe zu insgesamt 150.000 € Entschädigungszahlungen an die Konditorei "La Suiza" verurteilt. Grund für den Arbeitskampf war die menschenunwürdige Behandlung einer Mitarbeiterin, die von sexueller Belästigung, sowie dem Zwang trotz Schwangerschaft ein viel zu großes Arbeitspensum bewältigen zu müssen berichtete, wodurch sie fast ihr Kind verlor. Die geleisteten Überstunden wurden nicht ausgezahlt und Urlaubsansprüche verwehrt. Die CNT hatte damals, nachdem sich das Unternehmen nicht auf Verhandlungen mit der Gewerkschaft einlassen wollte, mehrfach öffentlichkeitswirksam vor dem Geschäft mit Streikposten über diesen Fall informiert. Die Urteile werden von der CNT als Angriff auf die Gewerkschaftsbewegung und vor allem auf die feministischen Kämpfe am Arbeitsplatz verstanden. Fünf der sechs verbliebenen Verurteilten sind Frauen*.
Zu Beginn wurden Verfahren gegen 30 Personen wegen unterschiedlichster Vorwürfe erhoben, wovon der jetzt verhandelte Prozess als einziger übrig geblieben ist. Das Unternehmen zeigte alle Aktionen der über fünf Monate stattfindenden Aktionen an und am Ende konstruierte die Staatsanwaltschaft daraus mehrere Anklagen, wozu sogar eine Anklage zum Verbot der CNT, die jedoch früh fallen gelassen wurde, gehörte. Wichtig ist auch in diesem Prozess, die Seilschaften zwischen Unternehmen und staatlichen Strukturen aufzuzeigen. So ist der Sohn des Inhabers der Konditoreikette in Spanien gut positionierter Politiker aus der neuen Generation der Partido Popular, jener Partei, in der sich nach dem Franquismus dessen Anhänger:innen organisierten und die bestens mit den nie aufgebrochenen franquistischen Strukturen in Polizei und Justiz vernetzt ist. Die gesamte Anklage ist darauf aufgebaut, dass die Kundgebungen nicht als solche anerkannt werden, sondern dass diese allein dazu dienten, dem Unternehmen zu schaden und dieses in den Bankrott zu treiben. Daher wird den Kundgebungen im Urteil auch explizit aberkannt unter das Versammlungsrecht zu fallen und sie werden stattdessen zu einer reinen Nötigung des Unternehmens umgedeutet. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass das Geschäft wegen der Aktionen schließen musste, obwohl dies schon seit einem Jahr vorher öffentlich zum Verkauf angeboten wurde. Da im spanischen Recht Schadensersatzforderungen anders als im deutschen Recht auch in Strafprozessen mitverhandelt werden können, war die Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und der Justiz in diesem Verfahren besonders eng. Der Vorsitzende Richter im ersten Prozess war ein alt bekannter Hardliner, der mit seinen Urteilen in einem historischen Kampf im Jahr 2000 gegen die Schließung der Werften in Gijón und die harten Urteile gegen Wehrdienstverweigernde bekannt ist. Dieser verurteilte die Anarchist:innen sogar zu einem Jahr über der im Plädoyer von der Staatsanwaltschaft erhobenen Forderung und gab allen Anträgen auf Schadensersatz des Unternehmens statt bzw. erhöhte diese noch. Der Berufungsprozess führte zwar zu zwei Freisprüchen von CNT Mitgliedern aus anderen Syndikaten, die Urteile gegen die Mitglieder der CNT aus Gijon wurden jedoch bestätigt. Diese haben sich dazu entschieden, notfalls bis vor den europäischen Gerichtshof zu ziehen, da die Anwendung des spanischen Rechts in diesem Fall einen Präzedenzfall darstellen würde, mit einem sehr mächtigen Instrument zur weiteren Repression gegen Basisgewerkschaften, die den Rechtsweg nicht als einziges Mittel der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung sehen. Um auf den kommenden Prozess aufmerksam zu machen, hat die CNT am 24. September eine Demonstration vom spanischen Justizministerium abgehalten, zu der ich einen Reisebericht verfasst habe.
Freitag abends ist der Vorabend der Demonstration und ich sitze zusammen mit spanischen Genoss:innen aus der eher subkulturell geprägten Szene irgendwo in Madrid. Freitagabend wird sich in der Bar getroffen und ich schaue immer mal wieder auf die Uhr, um bloß nicht am morgen vor der Entscheidung zu stehen, nach viel zu wenig schlaf im Bett zu bleiben. Angekündigt sind morgen Busse aus fast ganz Spanien und die CNT hat dazu aufgerufen, die Straßen Madrids mit Anarchosyndikalist:innen zu fluten. Auch wenn die CNT inzwischen nur noch 8000 Mitglieder hat, verglichen mit Deutschland sind das ungefähr acht mal so viele wie die FAU bei der Hälfte der Einwohner:innen, bin ich optimistisch. Als ich in die Runde frage wer morgen dabei ist kommt die erste Ernüchterung. Nur eine Person überlegt, der Rest wird sicher nicht kommen. Aber ich hatte sowieso damit gerechnet allein dort hin zu gehen. Also ziehe ich mich irgendwann raus. Voller Vorfreude auf den morgigen Tag.
Als ich am Plaza de España nahe dem Justizministerium aussteige, ist noch nichts von der
anstehenden Demonstration zu sehen. Auf dem Weg zum Justizministerium, dem Startpunkt der
Demo, sehe ich vereinzelt schwarz-rote Fahnen. Als ich um die Ecke zum Ministerium biege, schallt
es schon durch die Straßen. Es ist ein beeindruckendes Fahnenmeer, auf das ich zugehe. Die
hunderten schwarz-roten und schwarz-lila Fahnen der CNT füllen die Straße und die Menge
skandiert "Aquí está el anarcosindical" (Hier ist der Anarchosyndikalismus). Die Teilnehmenden
sind im Schnitt zwischen 30 und 40 Jahren alt und auch wenn subkulturelle Kleidung natürlich für
Kenner:innen spanischer Punkbands immer mal wieder ersichtlich ist, tragen die allermeisten
Menschen normale Alltagsbekleidung. Es ist eben eine Gewerkschaftsdemo, nur eben von einer der
wohl geschichtsträchtigsten und kompromisslosesten Vereinigung von Arbeitnehmer:innen in
Europa. Denn die CNT lehnt bis heute Betriebsräte ab, was zur Spaltung der
anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung in Spanien führte, in der die CNT nun eher das
kleinere Geschwisterkind der mehr als zehnmal so großen, ebenfalls anarchosyndikalistischen CGT
ist.
Auf der Demonstration sind Handys und Kameras überall präsent. Zahlreiche Fotograf:innen aus
der Linken sind gekommen und auch die Demonstrierenden machen fleißig Fotos und Videos. Sie
möchten gesehen werden, nicht nur auf der Straße, sondern überall. In den sozialen Netzwerken, in
Zeitungen, denn es geht darum, die eigene Geschlossenheit und Solidarität zum Ausdruck zu bringen
und maximale mediale Aufmerksamkeit zu bekommen. Der Druck auf die spanische Justiz muss
erhöht werden wenn auch die übrigen Urteile fallen sollen. Immer wieder rufen die Leute "No
somos delincuentes, somos trabajadores" (Wir sind keine Verbrecher:innen, wir sind
Arbeiter:innen).
Dann setzt sich die Demonstration in Bewegung. Sie ist nahezu vollständig durchorganisiert.
Sichtbar sind mindestens 12 Syndikate aus verschiedensten Städten mit eigenen Bannern, die alle
vor dem Block getragen werden. Der Pritschen-Lautsprechwagen fährt vorne weg, eine Genossin
hat das Mikrophon in der Hand, doch die Anlage ist nicht sonderlich laut gestellt, da jeder Block
eigene Megaphone dabei hat. Es wird durchgehend gerufen und teilweise auch gesungen. Zweimal
erklingt auch ein spanischer Punksong. Die Lautstärke unterscheidet sich vom Anfang zum Ende
der Demonstration kaum. Die Menschen sind wütend und entschlossen. Niemand hält sich heute
zurück. Als die Demonstration in die nächste große Straße einbiegt, versuche ich zu zählen.
Ungefähr 2000 Personen sind vom Justizministerium aus abgebogen, da die Demonstration immer
wieder anhält, dauert es fast 15 min bis alle an mir vorbeigezogen sind. Danach widme ich mich der
Stimmung und den Inhalten. Vereinzelt sind Mitglieder von kommunistischer Jugend, der Partei
Podemos und der CGT, sowie Mitglieder der Partei Izquierda Unida und der Plataforma de
Afectados por la Hipoteca, die sich gegen Zwangsräumungen engagiert, zu sehen. Auch mehrere
anarchistische Plattformen der Antirepressionsarbeit, sowie feministische Zusammenhänge sind auf
der Demonstration anwesend.
Während der Demonstration nimmt sich eine Frau das Mikrophon und sagt, "Wir Frauen
brauchen keine Blumen, wir brauchen Benzin. Wir sind unbeugsame Kämpfer:innen, die sich nicht von der Repression unterkriegen lassen. Es waren die Genoss:innen aus Xixón (Gijon auf Asturisch),
aber es hätte auch jede:r andere sein können.", was zu großer Begeisterung in der Demonstration
führt. Auf der Calle de Preciados, kurz vorm Touristenmagneten Sol, bemerke ich, dass in der
Parallelstraße auch noch eine Demonstration für Tierrechte mit ein paar hundert Personen
stattfindet. Auch andere Teilnehmende der Demo schauen sich mal die andere Veranstaltung an,
deren Teilnehmende sichtlich überrascht von der Menge an Anarchist:innen sind. Allgemein trifft
die Demonstration vor allem auf verwunderte Madrider, die die sehr offensiven Parolen der
Demonstration wohl erstmal verarbeiten müssen. Vereinzelt wird sich mit dem Fall solidarisiert
aber der Großteil der Leute ist eher verblüfft. Als sich die Demonstration ihrem Ende nähert, fangen
die Teilnehmenden anzusingen: "Lo llaman democracia no lo es es una dictadura eso es" (Sie
nennen es Demokratie, das ist es nicht, es ist eine Diktatur, das ist es.), diese Parole stammt vor
allem aus der "Transición", dem Übergang von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie und
ist auf Demonstrationen der jüngeren sozialen Bewegungen sehr selten zu vernehmen. Als die
Demonstration vor der Glorieta de Carlos V. in Atocha, einem der vielen Monumente zu Ehren
eines spanischen Königs, endet, wird die Bühne des Lautsprecherwagens erstmals betreten. Es
folgen Redebeiträge über die Situation von Zwangsräumungen, die Lage von Migrant:innen in
Arbeitskämpfen und natürlich die feministischen Perspektiven auf diesen. Zum Schluss betreten die
Verurteilten die Bühne. Die Menge von immer noch ungefähr 1000 Personen skandiert geschlossen
"No estais solo" (Ihr seid nicht allein). Mehrere Minuten stehen die Anarchist:innen auf dem
Lautsprecherwagen so und warten darauf, mit ihrer Rede zu beginnen. Sowohl die Menschen auf
dem Wagen als auch die Menschen auf der Straße sind tief ergriffen von diesem Moment. Eine
Person auf dem Lautsprecherwagen hat eine große Sonnenbrille aufgesetzt, an deren Rändern
vereinzelt Tränen ins Gesicht laufen. Als die Genoss:innen sprechen ist in jedem Satz zu hören wie
dieser Moment gewirkt hat. Jedes mal wenn das Mikro übergeben wird, wird noch einmal für
ungefähr eine Minute gerufen. Die Genoss:innen reden von der Solidarität, die sie erfahren haben,
wie die CNT die Demonstration und Busse aus dem ganzen Land organisiert hat, wie sie das
Verfahren psychisch und physisch jeden Tag belastet, sie manchmal gar nicht wissen, ob sie am
morgen aufstehen wollen. Aber, so sagen sie, was der Staat und die Unternehmen niemals verstehen
werden, das ist die Solidarität, die die Arbeiter:innenklasse entwickeln kann und sie als
Stellvertreter:innen der Bewegung dazu befähigt über sich selbst hinauszuwachsen und den Kampf
jeden Tag von neuem wieder aufzunehmen. Sie wollen nicht aufgeben und glauben, dass sie diesen
Kampf gewinnen werden.
Im Nachgang der Demonstration gibt es noch einige Veranstaltungen der CNT mit Kulturprogramm. Es ist ein Tag der Vernetzung und der Solidarität und wenn der Staat eins mit seinem Angriff auf die CNT erreicht hat, dann auf jeden Fall eine neue Einheit der in den letzten Jahren zwar wieder erstarkten, aber nicht unbedingt geschlossen auftretenden CNT. Wenn diese es schafft, diesen Schwung mitzunehmen, kann sie viel erreichen, denn auf die auch in Spanien fortschreitende Prekarisierung und Vereinzelung der Arbeiter:innen hat die CNT mit ihrem Ansatz der Einzelfallhilfe im Zweifel durch den Kampf auf der Straße gute Voraussetzungen für erfolgreiche Arbeitskämpfe. Dabei sind Angriffe auf die Gewerkschaftsbewegung wie aktuell in Gijon ein klares Zeichen, dass der Staat die Anarchosyndikalist:innen als Bedrohung wahrnimmt. Doch wird die CNT sicher nicht davon abhalten weiter zu kämpfen und Strategien für die Arbeitskämpfe unserer Zeit zu entwickeln.