"Eine Selbstverteidigung der Arbeiter*innen" - Interview mit Juan Carlos Mechoso


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Vorwort

Kürzlich erreichte uns die traurige Nachricht vom Tod unseres Genossen Juan Carlos Mechoso aus Uruguay. Juan Carlos war seit seiner Jugendzeit in der anarchistischen Bewegung aktiv, war Teil der Gründergeneration unserer Schwesterorganisation Uruguayaische Anarchistische Föderation (fAu) und nahm aktiv am Kampf gegen die Militärdiktatur in seinem Land teil. Mehr Informationen über sein Leben könnt ihr unserem Nachruf entnehmen.

Um an ihn und sein Leben zu erinnern, wollen wir aber nicht nur über ihn reden, sondern Juan Carlos Mechoso selbst sprechen lassen. Deshalb haben wir dieses Interview mit ihm aus dem Jahr 2001 übersetzt, welches in Paul Sharkeys Buch "The Federacion Anarquista Uruguaya (FAU) Crisis, Armed Struggle and Dictatorship, 1967–1985" erschienen ist. Es bietet einen guten Einblick in Juan Carlos Lebensgeschichte, seine Persönlichkeit und die soziale Realität in Uruguay.

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Das Interview

Juan Carlos Mechoso muss nicht lange überredet werden, um sich seinem Thema zuzuwenden - dem Stadtteil El Cerro in Montevideo - ein Thema, das ihm mehr als jedes andere ins Reden bringt und ihn bewegt.

Vor Beginn des Interviews, als die Fotos gemacht wurden, erwähnte er, dass El Cerro etwa 80.000 Einwohner hat und mit der näheren Umgebung 150.000. Dass die Jugendlichen bestenfalls Gelegenheitsjobs finden konnten. Diejenigen, die es schafften, für fünf, sechs oder acht Monate Arbeit zu finden, seien nur wenige, und kaum jemand habe einen festen Job, sagt er und lächelt dann, weil er nach den glorreichen Zeiten in der Vergangenheit gefragt wird, als es keine Arbeitslosigkeit gab und als jede Familie jemanden hatte, der in den Kühlanlagen arbeitete - Swift, Nacional oder Artigas...

"Jemand, der einen Lohn und zwei Kilo Rindfleisch am Tag nach Hause bringt", sagt er und freut sich über unsere Überraschung. "Es gab Familien mit drei oder vier Arbeitern, die in der Kühlung arbeiteten und so viel Rindfleisch nach Hause brachten, dass es sogar verschenkt wurde. Im Viertel und in den Vereinen wurden Grillfeste veranstaltet. Damals war es auch noch so, dass die Arbeiter ihre eigenen Häuschen bauten, wofür massenhaft Geräte, Schreiner- und Verglasungsmaterial benötigt wurde, und in jedem Viertel gab es einen Laden und das Pfandhaus war Teil der lokalen Kultur. Wer kein Geld herausrückte, der wurde schief angeschaut. Als die Entlassungen kamen, waren die Läden voll mit blauen Uniformen und Kleidung."

Von der Firma zur Verfügung gestellt?

"Ja, zwei Uniformen pro Jahr und ein Paar Stiefel. Das war eine von vielen Errungenschaften."

Und wissen die jungen Leute in El Cerro heute davon?

"Sicher. Man hört sie oft über solche Errungenschaften aus den 1930er Jahren sprechen, als ob sie gestern passiert wären. Sie sind im kollektiven Gedächtnis von El Cerro verankert, und die Menschen sprechen immer noch von Ereignissen, Dingen und Lebensweisen, die es heute nicht mehr gibt."

Du bist also mit Deiner Familie nach El Cerro gekommen?

"Wir lebten ursprünglich in Flores im Landesinneren [Anmerkung des Autors: Mechoso wurde 1935 geboren] und wir kamen nach Montevideo, wie viele andere Familien in den 1940er Jahren, und ließen uns in einem bescheidenen Haus in La Teja nieder. Und jeder von uns, der arbeiten konnte, ging zur Arbeit. Ich selbst ging zur Schule und arbeitete. Dann boten sie mir den doppelten Lohn an, wenn ich mehr Stunden arbeitete."

Du musstest also die Schule abbrechen?

"Ja, in meinem vierten Jahr. Damals arbeiteten die meisten Jungs in den Barrios, und es gab kaum ein Geschäft, an dem nicht ein Schild hing, auf dem stand: 'Hier wird ein Junge gesucht'" (Mechoso bricht in schallendes Gelächter aus).

Wenn das nur so wäre! Es muss das Paradies gewesen sein.

"Ja, das war es. Fast alle Jungs aus dem Barrio arbeiteten. Auch die Erwachsenen und die Jugendlichen, fast alle. Es war schwer, die Schule fortzusetzen."

Du hast in einem Lagerhaus gearbeitet, das, glaube ich, gegenüber der Glasfabrik lag, in der dein Vater arbeitete.

"Ja. In dieser Fabrik gab es häufig Streitigkeiten, weil es dort eine sehr kämpferische Gewerkschaft mit einer anarchistischen Gewerkschaftsführung gab. Bigote' war der Spitzname für einen der Führer. Die große Mehrheit meiner Altersgenoss*innen aus La Cachimba del Piojo, wo wir wohnten, sympathisierte mit den Anarchist*innen."

Du sagst, die Gewerkschaftsmitglieder waren sehr militant. Wie hat sich das gezeigt?

"Ich kann mich daran erinnern, dass die Fabrik von der Polizei abgeriegelt wurde, weil die Arbeiter*innen die Fabrik übernommen hatten und die Chefs als Geiseln festhielten. Ich war mir dessen sehr bewusst, weil mein Vater und mein Bruder dort waren.

Und wie alt warst Du zu diesem Zeitpunkt?

"Elf oder zwölf."

Und wann hast Du angefangen, mit dem Anarchismus zu liebäugeln?

"Alle meine Brüder wurden vor mir Anarchisten. Ich folgte bald darauf, mit 14 Jahren."

Und was bedeutete der Anarchismus für Dich zu diesem Zeitpunkt, was war seine Anziehungskraft für Dich?

"Ich sah es als eine Selbstverteidigung der Arbeiter*innen. Ich hörte, wie zu Hause den ganzen Tag über dieses Thema gesprochen wurde. Darüber hinaus gab es aber auch eine wirksame, gut organisierte Propaganda. Viele anarchistische Arbeiter*innen waren in den Kühlbetrieben beschäftigt, und im Barrio gab es eine Gruppe, die aktiv war. Mein 16-jähriger Bruder war darin aktiv, und ich wurde mit 14 Jahren aktiv."

Du meinst Deinen Bruder, der später ermordet wurde? [Alberto Mechoso]

"Nein, der, den sie umgebracht haben, war jünger als ich. Wir waren zu viert, einer davon war ein Ausreißer aus einem Heim und lebte bei uns."

Also kein leiblicher Bruder?

"Nein, ein Bruder von der Straße. Als er weggelaufen ist, ist er bei uns gelandet und geblieben und wurde ein weiterer Bruder. Er wurde auch ein Anarchist, genau wie wir. Er könnte sogar der Anführer gewesen sein, denn er war ein paar Jahre älter als der Älteste von uns."

Worin bestand diese Propaganda, die du erwähnt hast?

"Gespräche. Viele Gespräche, in denen Ideen erklärt wurden und was Sozialismus ist. Es gab zwei oder drei Orte, an denen wir uns unterhalten haben."

Und wie war die Situation zwischen Sozialist*innen und Kommunist*innen in El Cerro damals?

"Es gab kaum Sozialist*innen. Es gab Anarchist*innen und später auch Kommunist*innen. Die Kommunistische Partei wuchs langsam und hatte sowohl in El Cerro als auch in La Teja Arbeitergruppen."

Woran erinnern Sie sich bei den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Anarchist*innen und Kommunist*innen damals? Was waren die heikelsten Themen?

"Ich schätze, die Anarchist*innen waren kampfbereiter, wenn es um Forderungen und Ansprüche ging und um die Konfrontation mit dem Klassenfeind."

Wirklich? Mehr als die Kommunist*innen?

"Ja. Zu diesem Zeitpunkt, ja. Die Kommunist*innen waren gemäßigter."

Vielleicht war der [Zweite Welt-]Krieg ein Faktor.

"Ja, natürlich. Obwohl die Kommunist*innen ihren Klassenansatz nie aufgegeben haben, gab es zu diesem Zeitpunkt eine Vereinbarung über das Leben und Leben lassen. Andererseits gab es eine scharfe Kontroverse mit den Anarchist*\innen, da letztere jegliche Verbindung zur russischen Revolution abgebrochen hatten."

Aber sie hatten die Revolution aus gewerkschaftlicher Sicht befürwortet.

"Zu Beginn. Aber zu diesem Zeitpunkt war jede Hoffnung, dass die Revolution, wie behauptet wurde, eine neue Zivilisation bringen könnte, längst verflogen."

Mehr als 25 Jahre waren vergangen.

"Ja, die Reibereien innerhalb der Gewerkschaften nahmen zu, als sich die ersten kommunistischen Gruppen im ganzen Land ausbreiteten, als sie sich der Dritten Internationale anschlossen und als die CGT gegründet wurde. Der Rest der Anarchist*innen war sehr kritisch."

Was waren die Hauptunterschiede? Hatten sie vielleicht etwas mit der Ablehnung oder Akzeptanz der Sowjetunion zu tun?

"In gewisser Weise ja, denn die Hauptkontroverse drehte sich um die Frage 'Sozialismus plus Freiheit oder autoritärer Sozialismus'. Und dieser Streit war von Anfang an im Gange, als die Gewerkschaft gegründet wurde. Heutzutage ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft eine Selbstverständlichkeit. Damals aber war sie ein Abzeichen der freiheitlichen Denkweise. Eine Möglichkeit, sich auf föderaler Ebene zu organisieren.

Und was wollten die Kommunist*innen?

"Eine zentralistische Form der Organisierung, mit dauerhaften Führern, mit wenig Beteiligung des Volkes."

Sie meinten, das sei der einzig effiziente Weg, um den sozialen Kampf zu führen. Das zeigt, wie groß das Misstrauen gegenüber der Beteiligung aller sein kann. Das grenzt an das, was heutzutage oft als "Anarchie" bezeichnet wird. Anarchie bedeutet 'Unordnung', 'Chaos' und 'Verwirrung'. Oder wie wir hier unten auf der River Plate sagen: 'Lockerheit'.

"Der Anarchismus behauptet und hat historisch argumentiert, dass wir uns darauf verlassen müssen, dass die Bevölkerung sich beteiligt und versucht, diese Beteiligung mit der Zeit größer und intensiver zu machen. Menschen wachsen durch Beteiligung. Das ist unsere Überzeugung. Je größer die Beteiligung, desto größer das Wachstum und der Lernprozess."

Das ist eines der Hauptargumente, die der Feminismus für die Beteiligung anführt.

"Ganz genau. In der Nationalbibliothek habe ich eine Zeitung, El Obrero, aus dem Jahr 1884 gelesen, die eine spektakuläre feministische Perspektive enthält, die so aktuell ist, als wäre sie von gestern. Die frühesten feministischen Argumente in diesem Land kamen aus anarchistischen Kreisen."

Sie waren nicht damit einverstanden, dass die Frauen auf die Revolution warten sollten, um sich zu befreien und die Position einzunehmen, für die sie geboren wurden. Ich erinnere mich, dass gesagt wurde, dass der feministische Kampf an sich sinnlos sei. Was sagte diese Zeitung aus dem 19. Jahrhundert?

"Darin hieß es, dass die Frauen neben dem Klassenkampf und der Überwindung des Kapitalismus einen zweigleisigen Krieg zu führen hätten, da sie sich von dem Patriarchat, das sie zu Hause ertragen mussten, befreien müssten. Und letzteres sei ein Kampf, der weitergeführt werden müsse, da die Leistungen derjenigen, die sich zu linken Ideen bekennen, sehr oft hinter ihren Vorstellungen zurückbleiben. Und ein weiteres Thema, das angesprochen wurde, war der Naturschutz.

Seltsam, dass diese Themen schon vor über hundert Jahren angesprochen wurden.

"Ja. Innerhalb der Gruppe gab es eine größere Sorge um den Menschen. Ich würde sagen, dass die Revolution eine viel breitere Front umfasste. Sie haben mich gefragt, um welche Punkte es sich handelte. Es ging vor allem um Beziehungs- und Organisationsformen, auch um die Art der Beziehungen zwischen den Aktivist*innen. Da es keine Führer gab, stand alles für alle zur Diskussion. Die Ansichten derjenigen, die am meisten respektiert wurden, hatten ein gewisses Gewicht, aber das bedeutete natürlich nicht, dass ihre Ansichten nicht auch hinterfragt wurden."

*Ich stelle mir vor, dass bei der Diskussion konkreter Probleme die Unterschiede, die sich aus den unterschiedlichen Positionen unter den Anarchistinnen ergaben, ein gewisses Gewicht gehabt hätten.**

"Das ist eine Tatsache. Unter den Anarchist*innen gab es Nuancen, die mit unterschiedlichen strategischen Ansätzen einhergingen. Ich meine die politisch organisierten Anarchist*innen."

Warst Du selbst zum Beispiel ein Befürworter der politischen Organisation als Priorität?

"Ja, ich war für eine spezifisch anarchistische Organisation, für eine bestimmte Form der politischen Arbeit, die sich von der der Anarchosyndikalist*innen unterschied, die der Meinung waren, dass die Gewerkschaftsarbeit ausreichte, um die Emanzipation der Arbeiter*innen zu erreichen und anschließend das soziale Leben neu zu organisieren. Innerhalb dieser Strömungen trafen wir auf Spanier*innen, die nach dem Bürgerkrieg herübergekommen waren und sich hier niedergelassen hatten, während andere nach Argentinien weiterzogen. Von Anfang an besuchten diese Leute El Cerro und La Teja, um uns Vorträge zu halten."

Du hast die Schule nach vier Jahren Grundschule verlassen, aber hast eine Bildung, um die Dich mancher Akademiker beneiden könnte. Vor einiger Zeit sprachst Du über Foucault, der keine leichte Lektüre ist. Ich habe die Tonbänder gewechselt und Du hast etwas gesagt. Was sagtest Du da über Formen der Unterdrückung?

(lacht) "Ich weiß es nicht. Irgendein Blödsinn."

Nein, nein. Das war kein Unsinn.

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"Ich habe gesagt, dass es Formen der Unterdrückung im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich gibt, die bis zu den ideologischen Wurzeln zurückreichen und, da sie den Körper der Gesellschaft auf allen Ebenen durchdringen, es dem System ermöglichen, nicht auf direkte Repression zurückzugreifen. Es sind die Bürger selbst, die die Ideologie, die dem System dient, aufrechterhalten und reproduzieren."

Interessant. Die Frage ist: Wie bist Du dahin gekommen, wo Du jetzt bist?

"Wie viele Anarchist*innen bin ich durch Lesen und Gespräche hierher gekommen. In der Nähe von hier gab es das Ateneo Cerro, wo Vorlesungen, Vorträge und Debatten stattfanden."

Welche Art von Lektüre?

"Alles Mögliche. Die Genoss*innenen drängten uns zum Beispiel, die Geschichte von Griechenland bis zur Ersten Internationale zu lesen, die Polemik von Bakunin mit Marx, die Entstehung der Arbeiterbewegung und gute Literatur. Kropotkin natürlich, ein Theoretiker der Anarchie, der z.B. ein Buch über Gefängnisse geschrieben hat, das ähnliche Ansichten wie Foucaults "Überwachung und Bestrafung" vertrat."

Aber Kropotkin lebte vor einem Jahrhundert.

"Er war zwar ein russischer Fürst. Aber als sich die Anarchist*innen 1872 von der Ersten Internationale trennten, war er in den nachfolgenden Bewegungen weiter aktiv."

Ich bin neulich aus dem Bus gestiegen und bis zu Deinem Haus gelaufen und habe mir die heruntergekommenen kleinen Häuser und die Bucht dort drüben angesehen. Ich möchte, dass Du uns ein Bild davon malst, wie El Cerro einst war. Wohlhabend, lebendig, kämpferisch. Erzähl uns ein wenig davon, wie El Cerro war, als Du 15 warst.

"Wir lebten in El Cerro und suchten unsere Unterhaltung in El Cerro. Die Leute gingen nicht so oft in die Stadt selbst. Damals gab es einen Scherz. Wenn jemand einen neuen Anzug kaufte, wurde er gefragt: 'Gehst du dann ins Zentrum? An Sonn- und Feiertagen schlenderten wir die Grecia-Straße entlang, als wären wir auf dem Land. Es gab einige Kinos, Tanzlokale, ein Theater in der Nähe der Kurve in der Grecia-Straße. Und es gab viele Cafés, in denen man die ganze Nacht bei zwei oder drei Tassen Kaffee sitzen konnte. Linke Cafés, in denen die Linken einkehrten."

Der Feind waren weder die Blancos noch die Colorados. Denn die Rechte als solche war nicht existent. [Blancos und Colorados (Weiße und Rote) das Zweiparteiensystem in Uruguay]

"Es gab keine rechten Parteien, obwohl es innerhalb der Parteien rechte Personen gab ... Echegoyen zum Beispiel war ein Rechter." [Echegoyen: Martin Recaredo Echegoyen, Vorsitzender der Blanco-Partei]

Nardone war auch ein Rechtsaußen. Und später Pacheco. [Nardone: Benito Nardone, Radiomoderator, der 1958 zum Präsidenten gewählt wurde: Er erwies sich als herbe Enttäuschung für seine konservativen Wähler. Pacheco: Jorge Pacheco Areco, Präsident und Vorsitzender der Colorado-Partei].

"Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wir trafen uns immer in diesen Cafés, wo wir über alles redeten, auch über Politik. Eines der Cafés war das Mirambell und das andere, dort drüben, war das Viacaba."

Erzähl mir von den Demonstrationen, wenn es einen Kampf gab.

"Die Demonstrationen der Fleischarbeiter-Gewerkschaft waren riesig, die Beteiligung war wirklich riesig. Sie wurden von den Gauchos [Cowboys] angeführt."

Sogar die Gauchos waren daran beteiligt?

"Ja, die Jungs, die auf den Kühlschiffen arbeiteten, kamen auch. Auf Pferden folgten sie dem Lautsprecherwagen der Gewerkschaft, der die Marseillaise in voller Lautstärke spielte."

Kein Gesang?

"Nein, nur die Musik. Wenn die Leute die Marseillaise hörten, wussten sie sofort, dass eine Propaganda-Aktion der [Gewerkschafts-]Föderation oder eine Straßendemonstration im Anmarsch war. An der Spitze des Zuges stand auch eine Maschine, die Raketen in den Himmel schoss. Den Cowboys - viele von ihnen mit Ponchos, weißen Halstüchern und grauen Sombreros - folgten Radfahrer*innen und dann Menschen zu Fuß. Ganze Familien, jung und alt. Sie tranken Yerba Mate [der Mate-Tee ist das Nationalgetränk Uruguays], während sie gingen."

Alle auf dem Weg zum Palast... [das Parlamentsgebäude in Montevideo]

"Das endgültige Ziel war der Palast, wo sie manchmal übernachteten. Entlang der Esplanade wurden Zelte aufgestellt. Und dann tauchte die Polizei auf und löste die Sache auf. Das war in den frühen 1950er Jahren."

Gerade als Uruguay einen wirtschaftlichen Abschwung erlebte.

"Ja, die Kühlfleischindustrie befand sich in einer Krise, und die ausländischen Unternehmen begannen sich zurückzuziehen. Die Fleischarbeiter-Gewerkschaft war schwer angeschlagen und fast tödlich getroffen und hatte aufgehört, eine Rolle zu spielen. Das Ateneo Cerro hat die Fahne der Agitation hochgehalten. Es kamen Expert*innen aus verschiedenen Bereichen und hielten Vorträge. Über Humor, Kino und Geschichte. Einige dieser Kurse dauerten sechs Monate. Gleichzeitig wurden Positionen gegenüber den Mobilisierungen der Arbeiter*innen und den Befreiungsbewegungen in ganz Lateinamerika eingenommen ... in Guatemala, Santo Domingo und den Kämpfen in Kuba im Vorfeld der Revolution. Eine Reihe von libertären Künstler*innen wie Carlos 'El Gaucho' Molina und Zitarrosa [Alfredo Zitarrosa (1936-1989), ein sehr populärer Sänger, Komponist und Schriftsteller, dessen Lieder in Uruguay nach 1971 verboten wurden und der aus dem Land vertrieben wurde] tauchten auf, um zu spielen und zu singen. Und an den Wochenenden gab es Gespräche mit den spanischen Exilant*innen. Sogar der Rektor der Universität tauchte auf: Er wurde von Gomensoro [möglicherweise Jose Gomensoro, Dozent für Medizin an der Universität von Montevideo] und Gatti vorgestellt und hielt bei einer Straßenkundgebung einen Vortrag über den Faschismus. Das Ateneo war immer wachsam und aktiv, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in ganz Lateinamerika."

Worauf konzentriert sich das Ateneo in diesen Tagen?

"Eines der Dinge, die ich im Moment für wichtig halte, ist die Notwendigkeit, der Fragmentierung entgegenzuwirken, die durch unsere neuen historischen Umstände verursacht wird."

Die Untergrabung der Stärke der Arbeiter*innenklasse.

"Ganz genau. Das Ateneo muss jetzt alles daran setzen, die verstreuten Kräfte zu bündeln, um das Gefüge der sozialen Solidarität wiederherzustellen. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass der Mensch nicht zum Gefangenen des Kollektivs wird.

"Das Kollektiv darf ihn nicht einmauern, sondern muss ihn stützen", lautet einer Deiner Grundsätze.

"Richtig. Wir sind für die Individualisierung, aber das hat natürlich nichts mit dem bürgerlichen Individualismus zu tun."

Der ist im Moment sehr stark ausgeprägt.

"Und er hat eine Reihe von Praktiken hervorgebracht, die die Macht einer winzigen Fraktion stärken, die machen kann, was sie will, während die breite Masse, die atomisiert ist, viel von ihrer Macht verloren hat. Was wir durch das Ateneo suchen, ist ein Weg, um zusammenzukommen und uns mit allen anderen sozialen Einrichtungen in El Cerro zu koordinieren, um eine starke soziale Bewegung zu schaffen, die Antworten auf die Probleme unserer Zeit gibt, vor allem wenn man bedenkt, dass die traditionellen politischen Mechanismen heutzutage nicht mehr greifen."

Wie sehen Sie die Leistung des Establishments in diesem Zusammenhang?

"Das Establishment ist sehr viel versöhnlicher geworden. Wir haben einen besonders rücksichtslosen Kapitalismus, der vom Finanzkapital angeführt wird, und wir haben Staaten, die diesem Kapital überall auf der Welt Freiräume schaffen und Gesetze zu seinem Schutz erlassen. Was haben Menem, Cavallo [Menem: Carlos Saul Menem, peronistischer Präsident von Argentinien in den 1990er Jahren. Cavallo: Domenico Cavallo, argentinischer Wirtschaftsminister in den 1990er Jahren] und andere in Argentinien getan, außer die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Kapital tun kann, was es will? Und ein weiterer wichtiger Punkt: Es wird nicht mehr als Imperialismus bezeichnet."

Es wurde umgetauft in Globalisierung.

"Und in dieser Änderung der Terminologie liegt die Falle, die verschleiert, was wirklich vor sich geht, die wirkliche Maschinerie am Werk. Wir sollten die Worte 'Klasse', 'Kampf', 'Konfrontation' und 'Imperialismus' nicht mehr verwenden. Gleichzeitig haben sie um diese Lüge herum einen Konsens heraufbeschworen. Wie Chomsky es ausdrückt: "Noch nie waren so viele Intellektuelle des höchsten Kalibers so gefügig und bequem innerhalb des Systems wie jetzt. Und auch nicht so produktiv für seine Werte."

Welcher Zweck steckt Ihrer Meinung nach hinter diesen Änderungen der Terminologie?

"Um uns davon abzuhalten, über diese Dinge nachzudenken. Um uns eine Darstellung zu bieten, die nicht den Tatsachen entspricht. Sie verhindern eine korrekte Analyse der Dinge. Gaston Bachelard hat dazu einige interessante Untersuchungen angestellt."

Das gehört also in dieselbe Kategorie wie 'das Ende der Ideologie', das 'Ende der Geschichte' und 'die Unmöglichkeit des Sozialismus'?

"Und wie 'es gibt keine Klassen mehr' und 'die Zeiten sind vorbei'. Wie Chomsky sagt: 'Wenn es eine Sache gibt, die selbstverständlich ist, dann ist es die Existenz von Klassen.'."

Ein amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler wie Chomsky, Kenneth Galbraith, stellt in seiner Geschichte der Wirtschaftswissenschaften fest, dass "die Wirtschaftswissenschaften eine Wissenschaft sind, die von denjenigen kultiviert wird, die das sagen, was die Reichen gerne hören wollen." Und: "Monetäre Maßnahmen sind politisch und sozial nicht neutral."

"Stimmt, das ist eine weitere Sache, die sie uns schlucken lassen wollen. Einer der Theoretiker des Thatcher'schen Konservatismus sagte, es sei gut, wenn die Sozialdemokratie von Zeit zu Zeit gewinne, "um etwas ideologischen Sauerstoff einzuführen". Das weckte natürlich gewisse Erwartungen in der Bevölkerung, die es möglich machten, unmittelbare Forderungen an den Langfinger zu stellen."

Schauen wir noch ein wenig weiter in die Vergangenheit zurück. Zurück in die Zeit der Diktatur. Sie selbst hatten einen Bruder, der in Orletti [Einem Folterlager der argentinischen Militärdiktatur in Buenos Aires] umgekommen ist.

"Ja, mein Bruder [Alberto "Pocho" Mechoso] ist einer derjenigen, die in Orletti verschwunden sind, zusammen mit Gerardo Gatti und León Duarte. Zusammen mit einem anderen Genossen, Perro Pérez [Washington 'Perro' Perez, FAU- und PVP-Aktivist], waren sie zum Beispiel die Gründer der FAU. Wir waren zusammen mit ihnen in einer Reihe von Aufgaben aktiv ... die ROE und die OPR (eine bewaffnete Organisation, die eine Reihe von Operationen durchführte)."

So zum Beispiel die Entführung des Industriellen Molaguero, die Entführung der Ehefrau von Costa-Gavras, Michele Ray, oder der Diebstahl der Fahne der "33 Orientales" [ein Symbol der urugayaischen Unabhängigkeitsbewegung, die von OPR-33 gestohlen und nie mehr wiedergefunden wurde] und die Entführung von Cambón, dem Vertreter einer Reihe von Papierfabriken. Was steckte hinter der Entführung von Molaguero?

"Molaguero war ein Industrieller, der Schuhe herstellte, ein echter Feudalherr, der Leute entließ, die Gewerkschaft schikanierte und sogar Leute schlug. Damals ließ Alfaro einen Artikel über die bösartige Behandlung der Arbeiter durch ihn drucken. Der Mann war Mitglied der JUP [Juventud Uruguaya de Pie: Wachsame Uruguayische Jugend] und wurde im Zusammenhang mit einem Streit entführt."

Damals wurde behauptet, dass Ihr ihn gefoltert hättet.

"Das ist eine komplette Lüge. Unsere Einstellung zu solchen Dingen war sehr klar. Die Folterung einer wehrlosen Person war nicht in Ordnung. Nicht nur wegen der Folgen für das Opfer, sondern auch wegen der Auswirkungen auf den Kämpfer. Er war das einzige Entführungsopfer, das behauptete, gefoltert worden zu sein, und er hat gelogen. Was die Entführung der Reporterin Michele Ray angeht, so ging es darum, die Gründe für unsere Nichtteilnahme an den Wahlen publik zu machen. Wir verbrachten die Nacht damit, uns mit ihr zu unterhalten. Sie war sehr gut über die Situation in Lateinamerika informiert und unser Gespräch war sehr angenehm."

Erzählen Sie uns von den Genoss*innen, die in Orletti "verschwunden" sind.

"Diese Genoss*innen wurden Opfer der sogenannten Operation Condor [gemeinsame Aktion verschiedener rechter lateinamerikanischer Diktaturen und ihrer Geheimdienste in Kooperation mit der CIA um gegen linke Bewegungen in der Region vorzugehen]."

Erzählen Sie uns von dem Vorfall, als die Behörden Perro Pérez nach Orletti brachten, um eine Information zu bekommen, das die an der Operation Condor beteiligten Uruguayer in Buenos Aires suchten.

"Es geht los. Unsere Leute haben in Argentinien einen Industriellen entführt und ein Lösegeld von zehn Millionen Dollar für ihn bekommen. Ich war zu der Zeit im Gefängnis. Die Militärs - Gavozzo und Cordero und der Rest - bekamen Wind von dem Geld und wollten einen Anteil. Zu der Zeit hielten sie Gerardo Gatti und Duarte in Orletti fest. Perro Pérez, ein bekannter und sehr aktiver Anarchist und FUNSA-Angestellter, einer der aktivsten Teilnehmer am Streik von 1972, war in Buenos Aires.

Untergetaucht.

"Nein, er lebte offen, weil es keinen Haftbefehl gegen ihn gab. Er hatte einen Zeitungsladen an einer Straßenecke, von dem er sich und seine Familie ernährte. Eines Tages tauchte einer der uruguayischen Militärs auf und bot an, seine Kameraden aus Orletti gegen zwei Millionen freizulassen, und schlug vor, ihn nach Orletti zu bringen, um die Details zu klären. Sie brachten ihn nach Orletti - natürlich mit verbundenen Augen. Perro bat darum, Gerardo Gatti zu sehen, aber man sagte ihm, er sei nicht da. Dann fragte er nach Duarte, und sie holten ihn. Er konnte ihn kaum wiedererkennen. Er sah grässlich aus. Die Kleidung war zerfetzt und seine Füße waren nackt. Perro schaute auf seine Füße und sagte: "Wieso hast du keine Schuhe an? Daraufhin meldete sich der Soldat, der zugehört hatte, zu Wort und sagte grinsend: "In diesem Zimmer gibt es Schuhe". Als Leon später in das Zimmer ging, waren dort mehr als fünfzig Paar Herren- und Damenschuhe. Perro Pérez hatte ein Gespräch mit Duarte. Er unterbreitete den Vorschlag der uruguayischen Militärs und erklärte sich bereit, wiederzukommen, um die Antwort zu hören. Sie holten ihn ein paar Tage später ab. Wie die Antwort lautete, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass sie sich umarmten, bevor sie sich trennten, und Duarte ihm ins Ohr flüsterte: "Verschwinde von hier. Sie werden dich umbringen. Noch am selben Tag beantragten Perro und seine Familie bei der schwedischen Botschaft Asyl und überlebten. Duarte und Gatti waren "verschwunden". Duarte wusste, dass sie, ob mit oder ohne Geld, umgebracht werden würden.

Und Perro ist jetzt tot.

"Ja, er kam 1986 oder 1987 aus Schweden zurück, um an einer Ehrung für Duarte teilzunehmen. Er sagte seinen Teil und setzte sich dann hin. Und fiel zehn Minuten später tot um. Sein Herz hat versagt."

Interview geführt von Maria Esther Gillo im Jahr 2001.

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“die plattform”, ist eine anarchakommunistische Föderation für den deutschsprachigen Raum. Unser Ziel ist die Überwindung aller Formen der Unterdrückung und Herrschaft und der Aufbau einer herrschafts-, klassen- und staatenlosen Gesellschaft auf Grundlage des anarchistischen Kommunismus.

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