Toter Anarchist nach Bombenexplosion in Athen


Ralf Dreis
Aktuelles Griechenland Repression Athen Níkos Romanós

Am Abend des 31. Oktober 2024 erschütterte eine starke Detonation die Arkadía-Straße des Athener Stadtteils Ambelókipoi. In einer Mietwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses war ein Sprengsatz in den Händen des 36-jährigen Kyriákos Xymitíris explodiert. Der Aktivist der anarchistischen Bewegung war sofort tot. Seine Genossin, die schwer verletzte 33-jährige Mariána Manoúrα, wurde von der Feuerwehr aus der völlig zerstörten Wohnung geborgen und auf der Intensivstation des Krankenhauses Evangelismós notoperiert. Sieht man die Bilder der in Trümmer liegenden Wohnung ist es als pures Glück zu bezeichnen, dass nicht mehr Menschen - auch Unbeteiligte - zu schaden kamen.

Zwei in den Trümmern gefundene Schusswaffen waren laut Polizeiangaben „sauber“, also bisher nicht polizeilich relevant benutzt worden. Identifiziert wurde Xymitíris im Rahmen internationaler Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden anhand von Fingerabdrücken in den Archiven der deutschen Polizei, da er sich 2021 an einer Besetzung der griechischen Botschaft in Berlin beteiligt hatte. Einer Solidaritätsaktion zum Hungerstreik des inhaftierten ehemaligen Mitglieds der bewaffneten Organisation 17. November, Dimítris Koufodínas, mit dem dieser die ihm rechtmäßig zustehende Freilassung erkämpfen wollte. Nach Beendigung der Aktion hatte die Polizei die Fingerabdrücke der Besetzer:innen abgenommen. Ximitíris lebte einige Jahre in Berlin, war Mitglied des 2021 geräumten Meuterei-Kneipenkollektivs und hatte dort auch Mariána Manoúra kennengelernt.

In den folgenden Tagen überboten sich die Fernsehsender in schrillen Tönen mit der üblichen Terrorhysterie. Bilder der zerstörten Wohnung in Endlosschleife, begleitet von wilden Mutmaßungen über angebliche Anschlagsziele und Spekulationen über die bevorstehende „Zerschlagung der neuen Terrororganisation“. Einer Organisation, von der es weder einen Namen, noch Erklärungen, noch Anschläge und geschweige denn Mitglieder gibt. Garant für den Erfolg sei der zuständige „Bürgerschutzminister“ Michális Chrysochoídis, der schon 2002 als damaliger Innenminister maßgeblich an der Zerschlagung der bewaffneten Organisation 17. November beteiligt war. Auch damals sei die vorzeitige Explosion eines Sprengsatzes in den Händen von Sávvas Xirós der Anfang vom Ende der Organisation gewesen.

Da eine terroristische Vereinigung auch in Griechenland mindestens dreier Personen bedarf, ging es nun darum, die fehlenden Mitglieder zu (er)finden. Nach der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft und die zuständige Untersuchungsrichterin wurde zuerst gegen den 31-jährigen Dimítris Papathanasíou, später auch gegen die 30-jährige Dímitra Zaraféta Untersuchungshaft verhängt. Das mit Xymitíris und Manoúra befreundete Paar hatte den beiden die Schlüssel zur Wohnung in der Arkadía-Straße von einem Freund besorgt. Nach Bekanntwerden der Explosion hatten sie sich selbst mit den Behörden in Verbindung gesetzt, wofür die 30-Jährige am 4. November aus der Schweiz anreiste, wo sie an der Universität Bern an ihrer Doktorarbeit schrieb. Beide bestreiten etwas mit der Explosion und den ihnen zur Last gelegten Vorwürfen, wie Waffenbesitz, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Herbeiführung einer Bombenexplosion u.a., zu tun zu haben. Sie verbinde einzig eine persönliche und politische Freundschaft mit Manoúra und ihrem toten Freund. Zaraféta sagte in ihrer Einlassung vor der Untersuchungsrichterin: „Ich fragte einen Freund, der in den Niederlanden lebt, nach den Schlüsseln seiner Wohnung in der Arkadía-Straße, um sie meiner Freundin Mariána zu übergeben, die Besuch aus dem Ausland erwartete.“ Der Besuch habe nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, um ein Zimmer zu mieten. Ihr Bekannter habe zugestimmt und gesagt, sie solle die Schlüssel bei seinen Eltern abholen. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem in Untersuchungshaft sitzenden Papathanasíou, habe sie dies am 22. Oktober getan und sei am 29. Oktober zwecks Studiums zurück nach Bern geflogen. Abgemacht war, dass ihr Freund den Schlüssel zurückgeben würde. Die Aussagen werden sowohl von ihrem Bekannten in den Niederlanden als auch von dessen Eltern bestätigt. Alle drei betonen, dies schon öfter gemacht zu haben, da sich immer mehr Menschen kein Zimmer in Athen leisten könnten. Außer dieser Schlüsselübergabe gibt es auch Wochen später keinerlei belastende Indizien gegen das in U-Haft sitzende Paar.

Bei Solidaritätskundgebungen wird darauf hingewiesen, dass, wie so oft in Griechenland, persönliche Freundschaften und die Zugehörigkeit zur anarchistischen Bewegung von Polizei und Justiz kriminalisiert werden. Die Anwältin Zarafétas, Anny Paparroúsou, betonte gegenüber der genossenschaftlichen Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón (Efsyn) vom 8. November 2024, dass es sich „um eine willkürliche Verfolgung handele, mit dem Ziel, das Terrorszenario zu stützen. Die Beschuldigung der Bildung und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung kann nicht aufrecht erhalten werden ohne die Beschreibung und Zuordnung bestimmter Taten. Die Unbestimmtheit des §187A (terroristische Vereinigung) darf nicht der Vorwand für Verfolgung ohne Grund sein.“

Die schwer verletzte Manoúra wurde trotz vielfältiger Proteste nach einer zweiten Operation aus dem Krankenhaus ins Gefängnis Korydallós verlegt, obwohl der dortige Frauentrakt über keine Krankenstation verfügt. Trotz ihrer Verletzungen fanden wiederholt Verhörversuche statt, bei denen sie die Aussage verweigerte. Auf Solidaritätskundgebungen vor Krankenhäusern, Radio- und Fernsehstationen wird darauf hingewiesen, dass derartige Verhöre international als Folter geächtet sind.

Der übliche Verdächtige – Freiheit für Níkos Romanós

Am 18. November 2024 wurde dann der europaweit bekannte Anarchist Níkos Romanós verhaftet. Ihn belaste ein einzelner Fingerabdruck, den die „Antiterrorspezialisten“ der Polizei auf einer Plastiktüte mit Munition in der zerstörten Wohnung gefunden haben wollen.

Der heute 31-jährige Romanós war der beste Freund des 2008 von der Polizei ermordeten 16-jährigen Aléxis Grigorópoulos, der in seinen Armen starb. Auf den Mord folgte ein sozialer Aufstand bisher ungekannten Ausmaßes und eine Vielzahl politischer und sozialer Kämpfe. Große Teile der griechischen Jugend radikalisierten sich, besetzten Häuser, gründeten Kollektive. Es bildete sich eine unüberschaubare Anzahl offener und klandestiner anarchistischer Gruppen und Organisationen. Mit drei Genossen wurde Romanós 2013 nach einem gescheiterten Banküberfall zur Finanzierung der Bewegung verhaftet und gefoltert. Im folgenden Prozess wurde er wegen des Überfalls verurteilt, von der Mitgliedschaft in der damals aktiven bewaffneten Organisation „Synomosía Pyrínon tis Fotiás“ (Verschwörung der Feuerzellen) jedoch freigesprochen. Mit einem Hungerstreik und der Unterstützung einer großen Solidaritätsbewegung erstritt er sich 2015 das Recht, in der Haft zu studieren. Nach der Beendigung des mit Auszeichnung beendeten Studiums wurde er 2019 auf Bewährung aus der Haft entlassen.

Obwohl Romanós in seiner Einlassung vor der Untersuchungsrichterin am 22. November erklärte, dass er keine/n einzige/n der Mitbeschuldigten kenne und nichts mit dem Fall zu tun habe, wurde Untersuchungshaft gegen ihn verhängt. Romanós hatte betont, immer die Verantwortung für die von ihm begangenen Taten übernommen zu haben und dies selbstverständlich auch heute zu tun, wenn er etwas mit der Sache zu tun hätte. „Sowohl die tatsächlichen Umstände des Falls, als auch mein Charakter und meine persönlichen Lebensumstände beweisen, dass ich ohne jeden Zweifel vor Gericht erscheinen und mich dessen Urteil stellen werde. Es gibt keinen Grund, dort nicht zu erscheinen, da ich nur so meine Unschuld beweisen kann.“

Nach Bekanntwerden der Verhängung von U-Haft, kam es vor dem Gerichtsgebäude zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und hunderten Demonstrant:innen. In griechischen Städten fanden aus Solidarität mit den in Untersuchungshaft Einsitzenden Demonstrationen und Kundgebungen statt, vereinzelt wurden Radiostationen sowie Zeitungsredaktionen besetzt. Die Demonstrant:innen verurteilten die „Konstrukte der so genannten Antiterrortruppen unter Anleitung des Bürgerschutzministers Chrysochoídis und der Orchestrierung der Massenmedien“. In ihrer Presseerklärung vom 23. November befürchtet die linke Oppositionspartei Syriza „die Rückkehr alter Polizeipraktiken“. Die „Verhaftung der üblichen Verdächtigen“, wie in den 1980er und 90er Jahren, passten nicht zu einem Rechtsstaat. Die Unschuldsvermutung müsse für alle gelten, sie dürfe nicht für „politische Freunde oder Feinde unterschiedlich gehandhabt“ werden. Die mit elf Parlamentariern von Syriza abgespaltene Neue Linke verurteilte mit scharfen Worten die Verhaftung von Romanós. „Allgemein schwindet das Vertrauen in den Rechtsstaat rapide“, so der Parlamentarier Násos Iliópoulos am 24. November gegenüber Efsyn. „Momentan gibt es null Vertrauen in das Funktionieren der staatlichen Institutionen. Eine Demokratie darf weder blinde Rache üben noch menschliche Leben mit fadenscheinigen Indizien zerstören“, so Iliópoulos, der sich bei der Staatsanwaltschaft als „prominenter Entlastungszeuge“ für Romanós meldete. Die außerparlamentarische Méra25 verurteilte in einer Erklärung die „Rachejustiz des Repressionsstaates der Mitsotákis-Regierung an Níkos Romanós“ und forderte seine sofortige Freilassung. „Ein Fingerabdruck auf einem beweglichen Gegenstand wie einer Plastiktüte“ könne kein Kriterium für die Verhängung von U-Haft sein. Auch Gewerkschaftssektionen wie die Journalist:innen-Vereinigung ESIEA und die Fangruppen mehrerer Fußballvereine fordern die sofortige Freilassung von Romanós. Am 30. November gegen einen weiteren Aktivisten der anarchistischen Bewegung Untersuchungshaft verhängt. Ein verwischter Fingerabdruck des 26-Jährigen soll sich auf der selben Plastiktüte wie der von Romanós befinden. Auch er bestreitet jegliche Verwicklung in den Fall.

"Wer im Kampf fällt, wird unsterblich sein"

Die Inschrift eines Transparents zum Tod von Kyriákos Ximitíris steht exemplarisch für die perverse Heldenverehrung von Mitgliedern bewaffneter Gruppen in Griechenland. Öffentliche Kritik am Umgang mit Sprengstoff oder am Konzept des bewaffneten Kampfes ist aus der anarchistischen Bewegung bisher kaum zu vernehmen. Der Schock über den Tod des von vielen geschätzten Genossen Xymitíris, und die folgende staatliche Repression, scheinen bisher keinerlei Widerspruch zuzulassen. Im Gegenteil, in Flugblättern und Redebeiträgen, auf Demos oder Transparenten wird der „Widerstand mit vielfältigen Mitteln“ verteidigt, womit auch Waffen gemeint sind. Dabei dürfte 2024, und den weltweiten Entwicklungen der letzten Jahre längst klar sein, dass wir im Kampf gegen die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit nicht noch mehr Waffen und tote Helden, sondern lebendige, phantasievolle Genoss:innen voller Lebensfreude und Widerstandsgeist brauchen. Was bleibt, ist die Frage, wie weiter im Kampf gegen die autoritäre Mitsotákis-Regierung und die Barbarei des alles zerstörenden Kapitalismus?

Ralf Dreis, Vólos

Ralf Dreis

Ralf Dreis, Gärtner, Neugriechisch-Übersetzer, freier Journalist und Anarchist, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland und Griechenland, ist Mitglied der FAU und in der anarchistischen Bewegung beider Länder aktiv.

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