Ende August diesen Jahres haben anarchistische Organisationen von fünf Kontinenten eine gemeinsame Solidaritätskampagne ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, Aufmerksamkeit und Spenden zu generieren für Anarchist:innen im Sudan, die angesichts des eskalierenden Bürgerkriegs ihr Land verlassen und ins Exil gehen müssen. In diesem Artikel wollen wir die Kampagne noch einmal vorstellen und erklären, warum wir sie als Plattform mit ins Leben gerufen haben.
Die anarchistische Bewegung hat eine lange und vielfältige Geschichte. Menschen, die sich ihr zugehörig gefühlt haben, fanden sich, seit dem Entstehen der Bewegung im 19. Jahrhundert, zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten und in allen Lebenssituationen. Ein historischer Fakt und auch eine große Schwäche der Bewegung war dabei jedoch stets, dass sie vor allem in Europa, den Amerikas, in Australien und Teilen Ostasiens signifikanten Einfluss entwickelte. In weiten Teilen Mittel-, Süd- und Westasiens sowie auf nahezu dem gesamten afrikanischen Kontinent schaffte es der Anarchismus nicht, zu einer wirklichen Bewegung zu werden.
Seit gut drei Jahrzehnten können wir allerdings einen neuen Trend beobachten: Anarchistische Individuen, Initiativen und Organisationen treten an Orten in die Öffentlichkeit, an denen es zuvor entweder gar keine oder nur eine sehr schwache anarchistische Bewegung oder Tradition gab. Zu nennen sind hier beispielsweise Organisierungsbemühungen von Anarchist:innen in verschiedenen türkischen Städten, die Entstehung der Anarchistischen Union in Afghanistan und Iran oder auch einige neugegründete Sektionen der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiter:innen Assoziation - zum Beispiel in Pakistan, Bangladesh oder auf den Philippinen. Welche Gründe es für diese Entwicklung gibt, ist schwer zu sagen und eigentlich nur zu mutmaßen. Möglich ist, dass die stärkere Verbreitung anarchistischer Ideen über das Internet diesen Prozess zumindest begünstigt hat. Die Übersetzung zentraler anarchistischer Schriftstücke in entsprechende Landessprachen dürfte ebenfalls diese Entwicklung beschleunigt haben. So wurde vor kurzem das ABC des Anarchismus, ein Klassiker der anarchistischen Einführungsliteratur, erstmals auf Urdu übersetzt und veröffentlicht. Immerhin eine Sprache, die von gut 250 Millionen Menschen genutzt und verstanden wird, vor allem in Pakistan und Teilen Indiens.
Auf dem afrikanischen Kontinent scheint die anarchistische Bewegung jedoch immer noch sehr am Anfang eines solchen Prozesses zu stehen. Der hoffnungsvolle Aufbau der Bewegung in Südafrika, der mit der Jahrtausendwende einsetzte, ist mit der in die Inaktivität gefallene Zabalaza Anarchist Communist Front, vorerst zu einem unbefriedigenden Stillstand gekommen. In den meisten afrikanischen Staaten gibt es aktuell maximal einzelne Anarchist:innen, die lose vernetzt sind.
Umso eindrucksvoller ist das, was sich seit einigen Jahren im Sudan abspielt. Ende 2018 kam es in dem Land, das an Ägypten im Norden und Eritrea und Äthiopien im Süden sowie im Westen an den Tschad und im Osten an das Rote Meer grenzt, zu Massenprotesten. Die Bevölkerung nahm sich die Straßen, um gegen die 30-jährige Herrschaft des Diktators Omar al-Bashir zu protestieren. Nach einem Putsch des Militärs floh dieser im April 2019. Die sudanesische Armee übernahm die Kontrolle, löste die Regierung auf allen Ebenen auf und setzte eine Militärregierung ein, die sich über die Forderungen der Protestbewegung hinwegsetzte. Später im selben Jahr wurde eine Vereinbarung getroffen, die eine Machtteilung zwischen zivilen und militärischen Vertreter:innen während einer 39-monatigen Übergangszeit zur zivilen Demokratie vorsah. Ein Schritt, den die revolutionären Kräfte in der Protestbewegung von Anfang an ablehnten und stattdessen eine vollständig zivile Verwaltung forderten.
Im Oktober 2021 stürzten Militärs dann mit einem weiteren Staatsstreich, gemeinsam mit den paramilitärischen Kräften der Rapid Support Forces (RSF), die Übergangsregierung und rissen die Macht wieder vollständig an sich. Seitdem spitzte sich der Machtkampf zwischen regulärer Armee und RSF zu. Im April diesen Jahres eskalierte er vollständig, ein Bürgerkrieg begann. Seine Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind massiv: Fast 5.000 Menschen sind in diesem Konflikt ums Leben gekommen. Zweieinhalb Millionen Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, 500.000 von ihnen sind aus dem Land geflohen. Plünderungen und Vergewaltigungen nehmen zu und gehören zum Arsenal der gegen die Zivilbevölkerung eingesetzten Kriegswaffen.
Auch wenn es bis hierhin so wirken mag, als ob es wieder einzig und allein die mächtigen Militärs sind, die die Geschichte schreiben, so ist das doch falsch. Denn der gesellschaftliche Prozess, der sich seit Ende 2018 im Sudan abgespielt hat, ist auch die Geschichte der Menschen von unten, die sich im Kampf für eine bessere Zukunft erhoben haben. Ein zentraler Bezugspunkt dieser Entwicklung sind die Widerstandskomitees. Diese Nachbar:innenschaftsversammlungen haben sich an vielen Orten seit 2013 gebildet. Für die Organisation der Proteste gegen al-Bashir waren sie von großer Bedeutung und auch nach dem Putsch von 2021 waren sie wieder eine zentrale Kraft im Widerstand von unten.
Auch junge Anarchist:innen haben sich an den Nachbarschaftskomitees und anderen Formen des Protests und der Organisierung beteiligt. Viele von ihnen haben sich im Zuge der Ereignisse von 2018 politisiert, bei denen sie sich auf Demonstrationen und in den Universitäten getroffen haben. Sie gründeten einige erste Kollektive an zwei Universitäten des Landes und traten so an die Öffentlichkeit, um ihre Ideen zu verbreiten.
Schon immer waren oppositionelle politische Bemühungen im Sudan einer brutalen Repression ausgesetzt. Diesen Preis haben viele Menschen, auch die Anarchist:innen, lange in Kauf genommen. Doch mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs ist die Gefahr enorm gestiegen. Viele Anarchist:innen sehen aktuell keine Perspektive mehr, vor Ort Widerstand zu leisten, und wollen sich in Sicherheit bringen, um woanders ihren Kampf fortsetzen zu können.
An diesem Punkt setzt unsere internationale Kampagne an. Als internationale Koordination verschiedener Organisationen, die sich der plattformistischen und especifistischen Tradition des Anarchismus zurechnen, nahmen wir im Februar 2022 Kontakt zu einer Gruppe sudanesischer Anarchist:innen auf. Seitdem sind wir mit ihnen im Gespräch geblieben. Als wir von ihrer Lage erfuhren, entschlossen wir uns, sie bei ihrer schwierigen Flucht außer Landes nach unseren Möglichkeiten zu unterstützen. Aktuell bedeutet das vor allem, Geld zu sammeln, das die Genoss:innen für Visa, Reiskosten, Mieten im Zielland etc. dringend weiter benötigen.
Wir richteten ein Spendenkonto ein und veröffentlichten einen gemeinsamen Aufruf, den wir seitdem nach Kräften in unseren jeweiligen Regionen verbreitet haben. Kürzlich erschien beispielsweise in der anarchistischen Zeitung Graswurzelrevolution ein Interview, in dem wir die Kampagne vorstellten.
Seit der Veröffentlichung des Aufrufs konnten wir schon mehr als 3000 Euro für die Genoss:innen sammeln. Doch es braucht noch mehr Geld, um sie wirklich in Sicherheit zu bringen. Wir freuen uns deshalb, wenn ihr den Aufruf verbreitet, spendet oder zum Beispiel Veranstaltungen organisiert, bei denen ihr gemeinsam Geld sammelt. In Kürze werden wir einen Vortrag bereitstellen, der bei solchen Veranstaltungen gehalten werden kann.
Als Plattform sehen wir es als unsere Aufgabe an, neben dem Aufbau einer klassenkämpferischen, organisierten anarchistischen Bewegung in unserer Region, auch den weltweiten Aufbau und Wiederaufbau des Anarchismus zu unterstützen. Das ist der Grund, warum wir uns mit anderen anarchistischen Organisationen seit unserer Gründung im Rahmen der internationalen Koordination vernetzen, Erfahrungen austauschen und einander so gut es geht praktisch unterstützen. Diese Zusammenarbeit erlaubt es uns aber nicht nur, die revolutionäre Arbeit in "unseren" Regionen zu stärken, sondern auch dort mit vereinten Kräften zu helfen, wo sich die anarchistische Bewegung erst entwickelt und anfängt eine bewusste politische Kraft zu werden.
Wir glauben, dass dabei der Unterstützung von bereits aktiven Einzelpersonen und Gruppen eine große Bedeutung zukommt. Hier ist schon eine erste Ausgangsbasis gegeben. Es ist unsere Aufgabe, zu ihnen Kontakt aufzunehmen, in den Austausch mit ihnen zu gehen, die Erfahrungen der hiesigen Bewegung zur Verfügung zu stellen, aber auch - und das wird am Beispiel der sudanesischen Genoss:innen sehr deutlich - von ihnen und ihrem Kampf zu lernen. Hier bei uns sollten wir Öffentlichkeit für ihre Arbeit schaffen und - gerade in den vergleichsweise wohlhabenden Ländern Europas, Nordamerikas und Ozeaniens - Spenden zu ihrer Unterstützung sammeln. Und wenn sie Repression ausgesetzt sind, dann gilt es ihnen nach allen Kräften zur Seite zu stehen. So wie jetzt, wo die sudanesischen Anarchist:innen ins Exil gehen müssen.
Die jetzige Kampagne kann dabei im besten Fall die sudanesischen Genoss:innen unterstützen und gleichzeitig für uns selbst als Orientierung dienen, wie wir zukünftig auch in anderen Situationen praktische internationale Solidarität organisieren können. Wir wissen, dass es in der BRD viele andere Anarchist:innen und Revolutionär:innen gibt, die bereits und viel länger als wir solche Solidaritätsarbeit für unterschiedliche internationale Kämpfe - Rojava, Chiapas, Iran, Belarus, Russland, Ukraine - leisten. Auch für die Revolution im Sudan gab es in den letzten Jahren seitens der Diaspora und revolutionärer Gruppen - zum Beispiel den Genoss:innen von Perspektive Selbstverwaltung - eine aktive Solidaritätsarbeit. Mit all diesen Personen und Gruppen würden wir gerne in Zukunft stärker in Kontakt treten, von ihnen lernen und die Möglichkeiten für Zusammenarbeit ausloten. Sehr freuen uns sehr darüber, wenn Personen und Gruppen, die auch daran Interesse haben, sich an uns wenden.
Lasst uns gemeinsam den Internationalismus stärken!
Solidarität mit den Genoss:innen im Sudan!