Dieses Interview wurde mit mehreren Mitgliedern der israelischen anarchistischen Gruppe anarchyin48 geführt. Wir haben ihre Antworten bearbeitet und, wo möglich, zusammengeführt, um einen allgemeinen Überblick über die Vielfalt der Hintergründe und Perspektiven innerhalb der Organisation zu erhalten. Die Gruppe möchte auch darauf hinweisen, dass ihr Name möglicherweise nur vorübergehend ist
Die Gruppe könnt ihr auf Instagram finden.
Erzählt uns ein wenig über anarchyin48 und wie die Gruppe entstanden ist:
Wir sind noch keine offizielle Gruppe. Im Moment sind wir nur ein paar Anarchist:innen mit der Hoffnung und dem Traum, etwas wie (die anarchistische kommunistische Gruppe) "Ahdut" zu schaffen, die es vor ein paar Jahren in Israel/Palästina gab.
Eine/r unserer Genoss:innen hat diese Instagram-Seite zusammen mit einer anderen anarchistischen Meme-Seite erstellt und angefangen Bilder von Demos hochzuladen, auf denen sie zusammen mit einigen anderen anarcho-kommunistischen Personen Fahnen schwenkten. Wir beteiligen uns auch an anderen linken Gruppen wie Food Not Bombs, Standing Together und sogar an der Fauda-Bewegung in Palästina.
Als Reaktion auf diese Antwort fragten wir die Gruppe, was sie von Aufrufen zum Boykott von Standing Together hält, einer Organisation, die die "Normalisierung" Israels fördert.
Darauf antworteten sie: Es ist wirklich ein Problem, dass Standing Together keine klare Position zum Zionismus hat. Dies ist Teil ihres Bestrebens, eine populäre Organisation zu sein. Es ist eine Schande, dass dies zu einer "Normalisierung" des Zionismus geführt hat. Die Menschen im Ausland wissen nicht, dass es auch Post-Zionismus gibt und nicht nur Zionismus oder Anti-Zionismus. Viele in der israelischen Linken sind Post-Zionisten, das heißt, sie wollen, dass Israel existiert, aber nicht als jüdischer Staat. Meiner Meinung nach ist der Post-Zionismus der Versuch, "den Kuchen zu essen und ihn unversehrt zu lassen", denn um ein "anderes Israel" zu sein, kann es nicht dieses Israel sein, denn das Wesen Israels ist der Zionismus.
Wie würdet ihr den Ethnischen und Religiösen Hintergrund der Leute beschreiben, die Anarchyin48 bilden? Wie beeinflussen diese Hintergründe euren Aktivismus?
Wir sind größtenteils Atheist:innen; es gibt Mizrachis und Aschkenasier. Viele von uns sind Jüd:innen aus den Post-UdSSR-Ländern, die also mit dem Kommunismus und dem Anarchismus vertraut sind. Wir haben auch einige palästinensische Genoss:innen, die den Zionismus und den Autoritarismus ablehnen und der Meinung sind, dass es in dieser Region etwas Neues geben muss, das nicht fundamentalistisch oder etatistisch ist.
[Ein Mitglied äußert sich persönlich]:
Ich bin in einem religiösen jüdischen Elternhaus aufgewachsen und habe die Religion nach einiger Zeit verlassen. Ich bin in einem religiös konservativen und faschistischen Umfeld aufgewachsen, und das hat mich beeinflusst und meine Ansichten geprägt, die sehr gegen dieses Denken gerichtet sind.
Wie sieht die tägliche Organisation aus? Was sind eure Prioritäten?
Momentan gehen wir nur zu Protesten gegen den Völkermord in Gaza, schwenken gemeinsam anarchistische Fahnen und fotografieren uns mit zensierten Gesichtern. Aber wir haben Pläne für den Fall, dass wir mehr Leute sind. Wir wollen unseren eigenen Block bei Protesten bilden und mit mehr Anarchist:innen und antiautoritären Linken im Land kommunizieren.
Zur Zeit geht es darum, so viele Organisationen/Personen wie möglich zu erreichen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, sie zu Demonstrationen gegen die Besatzung und den Krieg einzuladen und so mit ihnen in Kontakt zu treten und Aktionen zu organisieren. Wir arbeiten auch an einem Telegram-Kanal namens mash'hirot, über den wir radikale Inhalte verbreiten und die Öffentlichkeit mit anarchistischen Ansichten konfrontieren.
Wie sieht die Landschaft der anarchistischen Gruppen in Israel aus? Seid ihr mit anarchistischen Gruppen wie Radical Haifa vernetzt?
Wir haben keine Verbindung zu Radical Haifa, aber einer von uns kennt den Gründer, der angibt, dass die Organisation nicht mehr aktiv ist (obwohl er immer noch das tut, was er als Einzelperson tun kann). Im Moment bringen wir nur Fahnen mit und kommen zu den von the radical bloc, Looking the Occupation in the Eye und Standing Together organisierten Protesten. Wir stehen auch in Kontakt mit Kompas.
Die meisten Anarchist:innen hier sind leider keine Aktivist:innen, weil sie sehr müde und deprimiert sind und normalerweise ihre eigenen persönlichen Probleme haben, aber es gibt immer noch einige anarchistische Aktivist:innen unter der radikalen Linken hier, die auch sehr klein ist. Ich würde sagen, 1% der Israelis sind Nicht-Zionisten, und das ist sehr schlecht, obwohl wir unsere eigenen Organisationen wie die Kommunistische Partei und einige NGOs wie Zochrot haben. Es gibt auch eine lokale Punkszene, die mit dem Anarchismus und Antifaschismus verbunden ist.
Stehen ihr im Kontakt mit palästinensischen Gruppen, anarchistischen oder anderen?
Ja, wir haben viele palästinensische Genoss:innen und Freunde. Einige von uns sind sogar Mitglieder von palästinensischen Organisationen, die antizionistische Jüd:innen aufnehmen, wie Fauda. [Fauda ist] die anarchistische Bewegung in Palästina, die eher insurrektionär als kommunistisch ist.
Wir knüpfen Verbindungen zu anderen Organisationen und Gruppen. Im Moment gibt es aufgrund der Situation nicht viele anarchistische Aktivitäten in Israel, vor allem nicht unter Palästinenser:innen. Der Staat schweigt und verfolgt sie. Deshalb sind sie heutzutage nicht so aktiv. Mit denen, die wir treffen, versuchen wir uns zu verbünden.
Wie hat sich der 7. Oktober auf die Gespräche ausgewirkt, die in radikalen Kreisen rund um Israel geführt werden? Hat er die Bewegung gestärkt oder geschwächt?
Der Angriff der Hamas hat alles schrecklich gemacht. Die allgemeine politische Meinung im Land hat sich stark nach rechts verschoben, und der "Widerstand" gegen die Regierung wurde gebrochen. (Das waren hauptsächlich Liberale, ich weiß also nicht, ob das wirklich zählt). Dennoch ist der echte Widerstand nach wie vor antizionistisch und kriegsgegnerisch.
Der Aufstand im Gazastreifen könnte so gut sein, wenn er nicht mit solchen Kriegsverbrechen verbunden wäre. Heute ist es schwieriger denn je, die Israelis davon zu überzeugen, nicht mehr an den Zionismus zu glauben. Wir haben Menschen verloren, die bei diesem Angriff starben, und wir haben auch Menschen in ideologischer Hinsicht verloren. Einst waren sie alle so radikal und revolutionär gesinnt, und jetzt sind viele von ihnen wie der durchschnittliche zionistische Mensch am rechten Rand geworden. Natürlich geben wir, die wir unsere Ansichten nicht geändert haben, der israelischen Entität die Schuld an allem und haben beschlossen, dass wir als Anarchist:innen heute mehr denn je zusammenhalten sollten.
Für jede Person die den Krieg nicht unterstützt, ist es schwierig, aber für uns war dies erst der Anfang. Aufgrund dieser Situation beschlossen wir, dass es an der Zeit ist, zu handeln und uns zu vereinen. Deshalb begannen wir, Treffen und Aktionen zu initiieren, und so entstand die Gruppe.
In Tel Aviv gefundenes Graffiti, die Worte „Haarschnitt für die Regierung“ erscheinen vor einer Zeichnung einer Guillotine und einem anarchistischen „A“-Symbol.
Wie verbreitet sind eurer Meinung nach nicht-zionistische oder antizionistische Meinungen in Israel, und wie werden diese Meinungen von der Regierung unterdrückt?
Antizionismus ist sehr, sehr unpopulär. Wir sind buchstäblich die Minderheit der Minderheiten. Wir sind kaum tausend Menschen, und wir sind auch sehr, sehr schwach. Das zionistische Regime ist so diktatorisch, dass es uns immer sanktioniert. Ich glaube nicht, dass die israelische Polizei in den nächsten Jahren eine explizit antizionistische Demonstration tolerieren wird. Menschen, die sich öffentlich gegen den Zionismus aussprechen, haben Schwierigkeiten, wenn sie versuchen, einen Job zu finden.
Die Regierung verfolgt Facebook- oder Instagram-Konten und entlässt sogar Palästinenser:innen, die ihre Trauer über die Morde in Gaza zum Ausdruck bringen. Natürlich versuchen sie auch, antizionistische Jüd:innen zum Schweigen zu bringen und ihnen ihre Plattform zu entziehen. Diese Meinung ist für die meisten Menschen in Israel zu einer unzulässigen Meinung geworden.
Was denkt ihr über diejenigen, die sich wie Tal Mitnick weigern, in der IDF zu kämpfen?
Wir haben großen Respekt vor ihm und anderen Verweiger:innen.
Einige unserer Mitglieder mögen mit ihren pazifistischen Neigungen nicht einverstanden sein, respektieren sie aber dennoch sehr, besonders heutzutage, weil der Konsens hier darin besteht, „das Vaterland zu verteidigen“. Die Verweiger:innen haben zumindest ein Gewissen, während die meisten Israelis einen Völkermord befürworten.
Wie erhofft ihr euch eine Lösung des Konflikts, sowohl kurz- als auch langfristig?
Unsere Mitglieder haben da unterschiedliche Meinungen. Einige glauben an einen kurzfristigen Waffenstillstand und eine langfristige gemeinsame anarchistische Revolution in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen. Ein Mitglied bemerkte, zu glauben, wir müssten eine gemeinsame Volksmiliz für beide Völker bilden, um sie vor den Zionist:innen und der Hamas zu schützen, anstatt vor dem anhaltenden Blutvergießen.
Was ist eure Vision als Anarchist:innen für die Zukunft der Region, sowohl für Palästinenser:innen als auch für Israelis?
Wir wünschen uns einen multikulturellen, dezentralen Raum in Palästina wie in Rojava (Syrisch-Kurdistan/Nordostsyrien).
Wir wollen, dass Araber:innen und Jüd:innen hier solidarisch zusammenleben, aber weil die Palästinenser:innen unter einem Unterdrückungsregime leben, das ihnen alles nimmt und sie vertreibt, wird der Kampf komplexer.
Einige Mitglieder könnten sagen, wir müssen den Palästinenser:innen erlauben, ihren eigenen Staat zu gründen oder in einem binationalen Staat zu leben. Das ist komplex, weil unsere allgemeine Vision als Anarchist:innen die einer gemeinsamen Gesellschaft ist, die auf Solidarität basiert und ohne die Notwendigkeit einer Regierung existiert. Aber im Moment begeht das israelische Regime so viele Ungerechtigkeiten und Morde, dass wir keine andere Wahl haben, als mit dem bestehenden palästinensischen Kampf zu kooperieren und zu hoffen, später weitere jüdisch-arabische anarchistische Bewegungen zu erschaffen.
Wie können Anarchist:innen im Ausland eure Ziele sowie die Leidenden in Gaza und im Westjordanland unterstützen? Gibt es Organisationen, denen sie eurer Meinung nach Geld spenden sollten?
Anarchist:innen auf der ganzen Welt können uns helfen, indem sie unsere Botschaften und die Kämpfe, an denen wir teilnehmen, verbreiten. Teilt die Antikriegsproteste in Israel (insbesondere organisiert von The Radical Bloc) und folgt unserem Account, liked unsere Beiträge und teilt sie. Die Antikriegsproteste in Israel sind international kaum bekannt, während buchstäblich niemand etwas über die Existenz von Anarchist:innen hier weiß.
Es ist uns wirklich wichtig, dass die Menschen im Ausland unseren Kampf gegen den Kolonialismus sehen, so wie es auch weiße Südafrikaner:innen gab, die sich der Apartheid widersetzten, obwohl sie ja selbst Siedler:innen waren. Es gibt z.B. auch viele weiße amerikanische Linke, die sich dem Kolonialismus widersetzen, während sie natürlich Siedler:innen sind, genau wie wir. Aber viele von ihnen hassen uns (weil einige von uns Israelis sind) das verstehen wir nicht, weil es keinen Unterschied zwischen uns gibt (den Siedler:innen hier und in den USA).
Originaltext hier