Mitte August hat eine kleine Delegation der Plattform das Sommercamp unserer französischen Schwesterorganisation Union communiste libertaire (Libertär-kommunistische Union, UCL) in Südfrankreich besucht. Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Genosse unserer Organisation daran teilgenommen. Einen Bericht der Delegation von diesem Jahr findet ihr auf unserer Website.
Wir haben die Gelegenheit auch genutzt, um zwei spannende Interviews mit französischen Genoss:innen zu führen. Sie behandeln die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der plattformistischen Strömung in unserem Nachbarland - erlauben aber auch einen wertvollen persönlichen Einblick in das Leben zweier Genoss:innen, die sich der sozialen Revolution und dem Anarchismus verschrieben haben. Im ersten Interview haben wir einen Blick zurück gewagt. In diesem zweiten Interview wollen wir nun auf die Gegenwart und die Zukunft der Bewegung schauen. Das ermöglicht uns die Genossin Lou Hevoud aus Grenoble.
Wir treffen Lou nach Anbruch der Dunkelheit unter einem Baum zwischen einigen Steinhäusern, im Hintergrund sind aus einem Zelt singende Menschen zu hören...
Die Plattform (DP): Hallo Genossin, kannst du dich erst einmal vorstellen?
Lou (L): Na klar. Mein Name ist Lou. Ich bin 20 Jahre alt und lebe in einem Vorort von Grenoble im Südosten Frankreichs. Ich bin Gärtnerin in Ausbildung bei der Stadtverwaltung von Grenoble. Und natürlich bin ich Mitglied der lokalen Gruppe der UCL.
DP: Wann und warum bist du politisch aktiv geworden?
L: Ich komme aus einem Arbeiter:innenviertel. Als ich noch dort zur Schule gegangen bin, gab es eine landesweite soziale Bewegung gegen eine Bildungsreform. Diese Bewegung war auch bei uns sehr aktiv. Die Schule war ständig blockiert. Die Politik ist also quasi zu mir gekommen, nicht andersherum.
Ich war aber erstmal einfach nur irgendwie links. Das hat sich geändert, als ich immer mehr Hass und Gewalt wegen meiner Identität als trans Frau erlebt habe. Die Lage meiner Eltern, die Klassenunterdrückung, die wir erlebt haben, war immer da. Aber die Transphobie war auf einmal sehr präsent. Ich habe andere trans Personen kennengelernt. Manche haben mir politische Artikel und Youtube-Videos empfohlen, zuerst nur zu trans Themen, dann auch zu anderen Fragen.
Schließlich habe ich online geschaut, wo ich eine Ausgabe von Alternative Libertaire (Anmerkung der Übersetzung: Libertäre Alternative, AL, ist die Monatszeitschrift der UCL, die auch an vielen Kiosken erworben werden kann) finden kann. Ich bin dann hingegangen und habe sie gekauft. Das war mein erster richtiger Berührungspunkt mit der libertär-kommunistischen Bewegung. Nach einem kurzen Stopp bei den Anarchosyndikalist:innen bin ich dann bald darauf der UCL beigetreten.
DP: Was hat dich dazu motiviert, Teil von UCL zu werden?
L: Was mich antreibt ist die Liebe zu meiner Klasse und der ernsthafte Wunsch, ihr ökonomische und politische Macht zu geben. Die UCL hat eine starke politische und organisatorische Vision, wie das gelingen kann. Aber gleichzeitig existiert in unserer Organisation auch eine Offenheit dafür, sich mit anderen politischen Strömungen auseinanderzusetzen und aus ihren Stärken zu lernen. Sich ohne Sektierertum mit dem Marxismus, dem Rätekommunismus oder auch dem Leninismus zu beschäftigen und sich Elemente aus diesen Strömungen zu nehmen, die für unsere Bewegung nützlich sein können. Unsere Strömung, der Plattformismus, ist ja überhaupt erst aus einer eingehenden Selbstkritik hervorgegangen, in der sich offen und ernsthaft mit den Gründen der Schwäche der Anarchist:innen befasst wurde. Diese Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik ist mir sehr wichtig.
DP: Wie sieht deine alltägliche politische Arbeit aus?
L: Ich bin nicht nur Mitglied der UCL, sondern auch aktive Gewerkschafterin der CGT (Anmerkung: Die Confédération Générale du Travail ist der größte explizit klassenkämpferische Gewerkschaftsbund Frankreichs mit etwa 700.000 Mitgliedern.)
In meiner lokalen CGT-Sektion mache ich vor allem interne Arbeit, organisiere Bildungsangebote und Diskussionen. Zum Beispiel bringe ich die Gewerkschaftszeitung zu den Kolleg:innen und informiere sie über ihre Möglichkeiten, an den Aktivitäten teilzunehmen und unseren Kurs mitzubestimmen. Das demokratische Leben der Gewerkschaft zu organisieren ist nicht leicht, weil viele Mitglieder eher passiv sind. In dieser Situation sehe ich meine Aufgabe als Revolutionärin darin, unsere demokratischen Ideen an sie heranzutragen und sie da mitzunehmen, wo sie jetzt stehen, hin zu einem besseren Ort. Dafür ist es erforderlich eine gute Beziehung zu ihnen aufzubauen.
DP: In Deutschland sind nur wenige revolutionär gesinnte Menschen, und noch viel weniger junge Menschen, in Gewerkschaften aktiv. Warum bist du Syndikalistin?
Weil ich Arbeiterin bin und weil wir alle Arbeiter:innen sind. Als Anarchist:innen wollen wir diese Gesellschaft von Grund auf verändern. Die Gewerkschaft ist das Werkzeug, das für die Kolleg:innen am greifbarsten ist. Politische Gruppen sind viel weiter weg. Also musst du in der Gewerkschaft aktiv sein, um voranzukommen. Du kannst nicht in irgendeiner Organisation bleiben und nur Bücher lesen. Wir müssen starke, kämpferische Gewerkschaften schaffen und bürokratischen Entwicklungen entgegenwirken. Wir müssen den Kolleg:innen zeigen, dass sie gemeinsam siegen können und diese Erfahrungen auch in der ganzen Klasse verbreiten.
Mir ist klar, dass das so leicht daher gesagt klingt. Weil die Lage hier in Frankreich natürlich auch weniger beschissen ist als zum Beispiel in Deutschland. Ich bin aber dennoch absolut davon überzeugt, dass eine syndikalistische Praxis zu entwickeln anderswo genauso wichtig ist.
DP: Welche Rolle spielt die UCL als revolutionäre politische Organisation für deine gewerkschaftliche Arbeit?
Für mich gibt es keine klare Trennung zwischen beiden Organisationen und die sollte es auch nicht geben. Denn ich als Einzelperson habe nicht auf alle Fragen, die sich in der Gewerkschaftsarbeit auftun, die richtigen Antworten. Daher ist es gut, dass ich Genoss:innen in der UCL habe, mit denen ich mich gemeinsam über diese Fragen austauschen kann. Bei denen ich weiß, dass sie mit der richtigen Ernsthaftigkeit an die politische Arbeit herangehen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir als UCL - obwohl bei uns natürlich lange nicht alles perfekt ist - in strategischer wie ethischer Hinsicht den besten Weg in der Gewerkschaftsarbeit gehen. Dass wir eben wirklich versuchen, Macht unserer Klasse aufzubauen statt nur ihre angebliche Vorhut zu bilden.
Das revolutionäre Kollektiv ist für die alltägliche Arbeit also von großem Wert. Nicht nur, weil ich von den Erfahrungen älterer Genoss:innen lernen kann. Für jemanden wie mich, eine Auszubildende ohne viele intellektuelle Möglichkeiten, ist die politische Ausbildung, die UCL ihren Mitgliedern gibt, sehr hilfreich, um meine eigenen Fähigkeiten und Wissen zu entwickeln. Die Lohnarbeit macht uns dumm, das politische Kollektiv macht uns schlau. Wir befähigen uns also gemeinsam dazu, bessere politische Arbeit zu leisten. Für mich ist das ein Schritt in Richtung Entwicklung einer revolutionären Persönlichkeit.
DP: Was verstehst du unter einer revolutionären Persönlichkeit?
L: Das ist etwas, zu dem wir in UCL noch keinen gemeinsamen Beschluss gefasst haben. Ich hoffe aber, dass sich das in Zukunft ändern wird. Denn ich denke, dass jede:r Revolutionär:in eine revolutionäre Persönlichkeit entwickeln sollte. Diese besteht für mich aus verschiedenen Elementen.
Erstens müssen wir als Revolutionär:innen stets in Kontakt mit unserer Klasse sein und dennoch stets voranschreiten. Wir dürfen nie unsere eigene Ethik vernachlässigen. Konkret bedeutet das, dass wir nicht zu allem Ja und Amen sagen, nur weil das zum Beispiel unsere Kolleg:innen sagen. Reaktionären Tendenzen müssen wir stets entgegentreten. Eine Balance zu finden, zwischen einer verständnisvollen Nähe zu unseren Klassengeschwistern bei einem gleichzeitigen Festhalten an unseren Werten, ist nicht einfach. Aber dieser Aufgabe müssen wir uns stellen.
Disziplin ist der zweite Punkt. Nur, wenn wir die Aufgaben, die wir übernehmen, zuverlässig erfüllen, sind wir in der Lage gemeinsam voranzuschreiten. Meine Genoss:innen müssen sich immer auf mich verlassen können und ich muss sie in meinem Rücken wissen können. Disziplin ist auch etwas, das man mit der Zeit lernen muss.
Der dritte Punkt ist für mich Bescheidenheit. Das ist das wichtigste. Wir können so viel von Genoss:innen und Kolleg:innen lernen. Es ist immer notwendig, dass wir weiter an uns arbeiten und zu besseren Revolutionär:innen werden.
Die Basis ist am Ende aber, ein guter, rücksichtsvoller Mensch zu sein. Eine gute Genossin, eine gute Freundin, eine gute Schwester, eine gute Loverin, eine gute Partnerin. Ohne das geht gar nichts.
DP: Kannst du uns etwas mehr über die UCL-Gruppe in Grenoble erzählen? Wie sieht eure politische Arbeit aus?
L: Unsere Gruppe gibt es jetzt seit drei Jahren, wir sind also immer noch sehr neu. Dennoch sind wir mit 60 Mitgliedern die größte Lokalgruppe unserer Organisation. Grenoble ist ein guter Ort für den organisierten Anarchismus. Viele Mitglieder sind wie ich aber eben noch sehr jung und haben deshalb nur wenig Erfahrung.
Am Anfang haben wir oft auf der Straße Essen und Gesundheitsartikel verteilt, in den Arbeiter:innenvierteln. Das hat wieder etwas nachgelassen. Aktuell verteilen wir regelmäßig Flyer auf öffentlichen Märkten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Außerdem sind wir vor den Werkstoren der Betriebe mit unseren Flyern. Das ist etwas, das viele Linke nicht machen.
Als Gruppe nehmen wir gemeinsam an Demos teil, gehen plakatieren und machen Bildungsangebote. Wir koordinieren die Genoss:innen, die gewerkschaftlich aktiv sind. Und wir arbeiten auch mit Leuten zusammen, die keine Mitglieder sind, aber uns nahe stehen. Genauso auch mit anderen Organisationen. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass wir das immer noch sehr verbreitete Sektierertum zurückdrängen.
Alles in allem glaube ich aber, dass wir eine gute Linie fahren. Wir haben viele Aufgaben zu erledigen, aber wir nehmen sie mit einem Lächeln an.
DP: Klassenpolitik und sogenannte Identitätspolitik werden oft gegeneinander abgewogen. Was denkst du darüber?
L: Wir wollen jede Form der Unterdrückung bekämpfen. Das ist nicht nur moralisch notwendig, sondern auch materiell. Denn wir müssen die Einheit unserer Klasse schaffen - der ganzen Klasse. Ich spreche dabei nicht über irgendwelche Leute weit weg. Wir haben diejenigen, die von Sexismus, LGBTI-Phobie oder Rassismus betroffen sind, ja selbst in unseren Reihen. Wir müssen unsere Organisation als ein Werkzeug nutzen, die Formen der Unterdrückung zu bekämpfen.
Es ist meine Überzeugung, dass beispielsweise Arbeiterinnen ihre Klasse anführen können. Denn Frauen machen wesentlich bessere politische Arbeit als die Männer - sorry Boys (lacht laut auf)!
Als trans Person habe ich die Pflicht, meine Genoss:innen und Kolleg:innen zu bilden. Ich bin nicht einfach nur unterdrückt. Nein, ich kämpfe. Mit meinen trans und cis Genoss:innen, Seite an Seite. Die Einheit unserer Organisation stärkt mich dabei sehr. Aber auch die Gewerkschaft ist ein Werkzeug gegen meine Unterdrückung und die anderer trans Personen.
DP: Wie blickst du auf den momentanen Zustand der libertären Bewegung in Frankreich?
L: Ich denke, es gibt viele gute Genoss:innen in der Bewegung. Aber wir müssen auch klar sagen, dass es große Probleme mit individualistischen Tendenzen gibt. Besonders in der ökologischen und feministischen Bewegung. Das liegt auch daran, dass das Felder sind, die die Gewerkschaften traditionell vernachlässigt haben.
Wir müssen uns also an diesen Kämpfen beteiligen und gleichzeitig in den Gewerkschaften einen Kurs voranbringen, der diese Fragen miteinschließt. Wenn wie jetzt die feministische Bewegung von kleinen autonomen Frauengruppen dominiert wird, dann müssen wir klar sagen, dass es stattdessen größere, übergreifende Organisationen braucht.
Ich denke aber insgesamt, dass wir nicht so stark auf die libertäre Bewegung schauen sollten - ohne dabei jedoch in Sektierertum zu verfallen. Dort wo es Sinn ergibt, arbeiten wir mit einzelnen anderen libertären Gruppen zusammen. Wir sollten uns dabei aber nicht im Kleinklein dieser Szene verlieren. Der Klassenkampf steht im Zentrum, und der wartet nicht auf die anderen Anarchist:innen.
DP: Du bist noch sehr jung. Woran willst du als Revolutionärin individuell und kollektiv in Zukunft arbeiten?
L: Ich möchte die Organisation aufbauen, starke Beziehungen aufbauen zu meinen Genoss:innen - auch zu denen, mit denen mich keine direkte Freundschaft verbindet. Ich möchte unsere Strömung aufbauen. Unsere und meine Fähigkeit zur Selbstkritik entwickeln. Von der Klasse und anderen politischen Strömungen lernen.
Denn der Kapitalismus überwindet sich nicht von selbst. Uns stehen große Herausforderungen bevor. Zum Beispiel die Gefahr eines imperialistischen Kriegs in Westeuropa. Dazu kommt in Frankreich die Bedrohung durch eine mögliche extrem rechte Regierung Le Pen.
Angesichts all dessen brauchen wir Organisierung und die Entwicklung revolutionärer Persönlichkeiten. Wir brauchen aber auch den Aufbau internationaler Verbindungen. Mit Schwesterorganisationen wie mit euch von der Plattform aber auch mit anderen Bewegungen wie in Kurdistan, Chiapas oder den maoistischen Guerillas in Indien und auf den Philippinen. Das heißt nicht, dass wir alles von diesen Kräften übernehmen, aber dass wir von ihnen lernen.
Mir ist es wichtig, dass wir es zukünftig nicht mehr dabei belassen, ein paar Artikel zu schreiben, wenn sich anderswo Kämpfe entwickeln, sondern Genoss:innen wirklich unterstützen und ihre Informationen hier verbreiten können. So wie ihr in diesem Jahr ein Banner getragen habt auf dem stand "Streiken wie in Frankreich!" wollen wir irgendwann hier Banner tragen auf denen steht "Kämpfen wie in Deutschland!".
DP: Genossin, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Wir wünschen alles Gute für eure und deine weitere Arbeit!