Als Anarchist:innen kämpfen wir an vielen Fronten - Fronten, die oft so groß und überwältigend erscheinen, dass man kaum weiß, wo man anfangen soll. In einer Welt der sich multiplizierenden und bedingenden Krisen und der Sorge um unsere Lohn- und Wohnverhältnisse lassen sich jedoch auch kleine aber wirkungsstarke anarchistische Projekte finden, die einen Beitrag zu effektiver, solidarischer und prä-figurativer Politik leisten.
Eines dieser Projekte ist die anarchistische Obdachlosenzeitung DOPE, welche anarchistische Solidarität statt simpler Wohltätigkeit in den Mittelpunkt ihres Wirkens stellt.
DOPE ist ein vierteljährlich in Großbritannien erscheinendes Magazin, das von dem als Arbeitergenossenschaft organisierten Verlag Dog Section Press herausgegeben wird. Alle die etwas Solidarität brauchen, können sich kostenlos ein Bündel DOPE abholen und die Magazine dann auf der Straße verkaufen. Ein einfaches Modell, das besonders in London, aber auch in anderen Städten, vor allem in England und Schottland, viele Menschen anspricht.
In Zusammenarbeit mit einem Netzwerk von radikalen Buchhandlungen, Sozialzentren, Obdachlosenorganisationen und unabhängigen Freiwilligen werden 35.000 Exemplare pro Ausgabe (Stand Herbst 2023) an Verkäufer:innen verteilt. Der Verkauf von DOPE generiert Straßenverkäufer:innen so über 300.000 Pfund jährlich.
Druck und weitere Kosten des Magazins werden von Unterstützer:innen und Dog Section Press übernommen.
Ich habe mit Craig von Dog Section Press über die Anfänge, Erfolge, Schwierigkeiten und anarchistischen Fundamente von DOPE gesprochen.
Wie habt Ihr DOPE ins Leben gerufen? Was waren die notwendigen "Zutaten", um ein solches Projekt auf die Beine zu stellen?
Als wir anfingen, haben wir bereits als Dog Section Press- eine Genossenschaft, die sich in Arbeiter:innenhand befindet - Bücher verlegt. Einer unserer Genossen stellte uns dann seine Frau vor, eine unglaublich talentierte Designerin, die in ihrer Heimatstadt Cali, in Kolumbien, an einem Magazin gearbeitet hatte. Die beiden schlugen vor, ein regelmäßiges Magazin unter dem Banner von Dog Section Press herauszubringen.
Ich selbst hatte zuvor an einem anderen anarchistischen Zeitungsprojekt mitgewirkt (STRIKE! Magazine - wir haben David Graebers ersten Artikel zu Bullshit Jobs veröffentlicht) und dabei stieß ich auf Nervemeter, eine weitere politische Publikation. Nervemeter wurde kostenlos an Obdachlose in London verteilt, nach dem Vorbild einer Straßenzeitung. Im Hinblick auf Straßenzeitungen gibt es im Vereinigten Königreich eigentlich nur Big Issue, ein eher kommerzielles Magazin. Aber mit der Zeit fand ich heraus, dass Straßenzeitungen in anderen Ländern - auch in Deutschland - eine durchaus größere Rolle spielen.
Wir wussten also, dass so ein Projekt im Bereich des Möglichen liegt. Zudem wollten wir nicht einfach nur anarchistische Inhalte produzieren, ohne dass diese eine Grundlage in gelebter Solidarität haben - wir sehen unsere Inhalte als eine wortwörtliche Form der Propaganda der Tat (wie auch als tatsächliche Propaganda!).
Wir haben mit nur 1000 Exemplaren begonnen, die wir an Obdachlose rund um den Londoner Stadtteil Whitechapel, wo sich unser Büro im Haus von Freedom Books befindet, verteilt haben. Das war 2018. Von unserer neusten Ausgabe im Herbst 2023 haben wir nun 35.000 Exemplare gedruckt und verteilt.
Was waren eure Ziele und Erwartungen als Ihr angefangen habt?
Wir hatten natürlich große Ideen und unser Ziel ist im Grunde immer die weltweite anarchistische Revolution. Allerdings hatten wir nicht wirklich einen Plan, der über ‘so viel anarchistische Propaganda wie möglich in die Hände der Menschen zu bringen’ hinausging.
Im Vereinigten Königreich sind Zeitungen so ziemlich das Einzige, wofür man keine Lizenz braucht, um es auf der Straße zu verkaufen, aber das hatten wir selbst nicht wirklich getestet. Wir haben deshalb damit gerechnet, dass man unser Projekt behindern würde - und es gab tatsächlich viele Fälle, in denen die Polizei oder die Stadtverwaltungen Zeitungen von Verkäufer:innen beschlagnahmt haben. Aber wenn wir uns dann beschwert und auf das Gesetz hingewiesen haben, wurde unseren Beschwerden tatsächlich immer stattgegeben.
Es gibt eine kleine Stadt im Vereinigten Königreich namens Shrewsbury, die dank eines sehr enthusiastischen Verkäufers vor Ort zu unserem drittgrößten Verteilungszentrum wurde: denn der Verkäufer organisierte auch die Verteilung in der Stadt. Er organisierte für andere Obdachlose Probeverkäufe und ließ diese dann später regulär mit dem Verkauf beginnen - in einer Kleinstadt wirkt sich so etwas natürlich vor allem auch auf seine eigenen Verkäufe aus und es war schön, dort diese Art von Solidarität zu sehen.
Irgendwann wurde dieser Verkäufer aber von der örtlichen Polizei so stark belästigt, dass er sich vor ihr verstecken musste. Als wir davon erfuhren, reichten wir eine offizielle Beschwerde ein - Polizisten entschuldigten sich schließlich bei ihm, begannen auf ihn zu achten und meinten, er könne problemlos auf der Hauptstraße verkaufen. Schließlich trat diese örtliche Polizei auch an uns heran und bat darum, eine Partnerschaft zu formen, weil DOPE offenbar einen positiven Effekt auf die Stadt hatte, was Diebstähle und sogenanntes asoziales Verhalten betraf.
Selbstverständlich sind wir keine Partnerschaft mit der Polizei eingegangen (und ich bin mir ziemlich sicher, dass diese DOPE nicht gelesen haben, bevor sie an uns herangetreten sind, da wir ziemlich deutlich sagen: ACAB), aber diese Verringerung von Kriminalität war definitiv kein Ergebnis, das wir erwartet hatten.
Wie würdet Ihr die anarchistische Grundlage Eures Projekts definieren, d.h. was ist die spezifische politische Basis Eurer Arbeit?
Mir gefällt David Graebers Formulierung, dass Anarchismus etwas ist, das man tut, nicht etwas, das man ist. Wir arbeiten nach anarchistischen Prinzipien und wollen das Bewusstsein für und die Beteiligung an anarchistischen Organisationsformen fördern. Mit anarchistischen Prinzipien meinen wir, dass unser Projekt demokratisch von unseren Mitgliedern kontrolliert wird und nach horizontalen Prinzipien funktioniert. Wir bekennen uns nicht notwendigerweise zu einem bestimmten Zweig des Anarchismus und sind nicht übermäßig in große Auseinandersetzungen (wie z.B. zwischen Insurrektionalist:innen und Syndikalist:innen) involviert, aber wir versuchen, auf eine Art und Weise zu handeln, die frei von Herrschaft und Ausbeutung ist, und Macht wo immer möglich aufzuteilen und zu zerstreuen.
Natürlich sind wir alle in den Kapitalismus verstrickt, aber wir versuchen, DOPE so prä-figurativ wie möglich zu betreiben. Wir sagen meist, dass es ein "Anti-Profit"-Projekt ist, quasi ein Gegenpol zu gemeinnützigen non-profit Projekten, von denen viele einfach furchtbar sind - und es ist uns wichtig, Wertesysteme zu hinterfragen. Jemand hat vor einiger Zeit einen Artikel über DOPE geschrieben, in dem es hieß, dass wir Geld von denjenigen nehmen, die es sich leisten können, dann einen Mehrwert schaffen und Geld für diejenigen generieren, die es brauchen, indem wir unsere Gewinne sozialisieren. Das trifft es ziemlich genau - ich denke, man könnte sagen, das Projekt DOPE ist eine Form der Umverteilung, ein umgedrehtes Schneeballsystem.
Wie erstellt Ihr Inhalte für DOPE? Sprecht Ihr Menschen an, die dann Artikel für Euch schreiben oder werden Euch Artikel angeboten?
Wir haben eigentlich nicht viel Platz in DOPE: Es sind lediglich 7 Artikel pro Ausgabe und DOPE erscheint nur 4 Mal im Jahr. Deshalb wird alles sorgfältig kuratiert und es gibt nicht wirklich offene Ausschreibungen, alles wird in Auftrag gegeben (und wir bezahlen jeden, der einen Beitrag leistet).
Wir versuchen, eine Reihe von Perspektiven vorzustellen, auch wenn sich diese natürlich auf linke oder anarchistische Kreise beschränken. Im Allgemeinen bringen wir keine Artikel mit Nachrichtencharakter, sondern veröffentlichen breiter gefächerte Artikel, so dass jede Ausgabe über die Zeit ihres Erscheinens hinaus relevant bleibt (bis zum breiten gesellschaftlichen Bruch, dann können wir alle nach Hause gehen und unser Leben in Frieden leben!).
Wir berichten regelmäßig über Themen wie Gefängnis, Arbeit und Befreiung und haben vor kurzem auch mit einer Reihe von Verkäufer:innen-interviews begonnen. Darüber hinaus sind wir ziemlich aufgeschlossen, wenn es um unsere Veröffentlichungen geht - wir versuchen, pro Ausgabe mindestens einen Artikel zu haben, der definitiv aus einer anarchistischen Perspektive geschrieben wurde oder der eine Darstellung anarchistischer Theorie beinhaltet, aber nicht alles wird von Anarchist:innen geschrieben. Unser Ansatzpunkt wird vielleicht am besten dadurch verdeutlicht, dass wir eine Kritik des Corbynismus von der anarchistischen Historikerin Ruth Kinna, aber später auch einen Artikel von Jeremy Corbyn (in unserer regulären Rubrik zum Thema Arbeit) veröffentlicht haben.
Wir versuchen aber auch, viel über Kultur und Musik zu berichten - und das ist der Bereich, für den es am schwierigsten ist, Inhalte zu finden, aber wir hatten auch schon Artikel von Sleaford Mods, Algiers, Grove, Benjamin Zephaniah usw.
Welche Art von Rückmeldungen erhaltet Ihr von DOPE-Verkäufer:innen?
Als wir anfingen, haben wir den Verkäufer:innen selten ausdrücklich gesagt, dass es sich um eine anarchistische Publikation handelt, und schon gar nicht haben wir ihnen gesagt, dass sie diese so verkaufen müssen. Aber eines der schönsten Dinge ist, dass die Verkäufer:innen DOPE lesen und viele von ihnen stolz darauf sind, dass das Magazin einen aussagekräftigen Inhalt hat und nun mit anderen Menschen darüber sprechen - das alles ist komplett organisch passiert.
Jeder, der bei DOPE mitarbeitet, ist auch an der Verteilung an die Verkäufer:innen beteiligt, so dass wir ständig im Gespräch sind und viele Dinge, die wir tun, entstammen den Ideen der Verkäufer:innen. Am Anfang wollten wir zum Beispiel nicht, dass die Verkäufer:innen ein Branding oder eine Uniform tragen, aber sie meinten, dass dies ihnen helfen würde, legitimer auszusehen - sowohl im Hinblick auf den Verkauf als auch um Ärger mit der Polizei zu vermeiden. Also haben wir eine gebrandete DOPE-Weste und ein laminiertes Abzeichen entworfen. Rechtlich gesehen ist das bedeutungslos: die Verkäufer:innen haben das Recht, eine Zeitung an einem öffentlichen Ort zu verkaufen, egal ob sie diese Gegenstände haben oder nicht und es steht ihnen komplett frei diese zu tragen oder auch nicht - aber es scheint ihnen zu helfen.
Wir hören auch immer wieder, dass DOPE "mein Leben gerettet hat" oder dass es dazu geführt hat, dass Menschen sich nicht mehr an riskantem, kriminalisiertem Verhalten beteiligen müssen, um zu überleben. Das ist natürlich ein ganz konkretes Beispiel dafür, dass unser Projekt funktioniert, und zwar wahrscheinlich auf eine Weise, die wir nicht wirklich erwartet oder erhofft haben.
Wie seid Ihr mit Covid, den Lockdowns usw. umgegangen? Haben sich diese Situationen auf den Vertrieb und Verkauf von DOPE ausgewirkt?
Zur Zeit des ersten Lockdowns im Vereinigten Königreich haben wir den Vertrieb eingestellt - was wirklich schlimm war, weil wir gerade beschlossen hatten, unsere Auflage von 10.000 auf 15.000 Stück zu erhöhen, so dass wir lange jede Menge Ausgaben unseren Nummer 9 hatten. Aber während dieser Zeit hörten wir von einem der Leute, die DOPE an Verkäufer:innen in Schottland verteilen, dass es zumindest für einen Verkäufer das Einzige war, was ihm half, den Lockdown zu überleben. Deshalb haben wir beim zweiten Lockdown die Verteilung fortgesetzt, aber die Verkäufer:innen mit Masken ausgestattet.
Ein Silberstreif am Horizont war, dass die Lockdowns wirklich gut für unsere Online-Buchverkäufe waren - das war insgesamt gesehen vielleicht unsere beste Zeit hinsichtlich unserer Verkaufszahlen - also half das allem anderen, zumindest in finanzieller Hinsicht.
Wie kommt Ihr mit der Finanzierung von DOPE über Patreon zurecht? Hat die “cost of living crisis”, die Krise der Lebenshaltungskosten, Auswirkungen darauf, wie viele Leute Unterstützer:innen bleiben und werden?
Es ist wirklich verdammt schwer. Patreon hat anfangs nicht einmal annähernd die Druckkosten gedeckt und wir mussten DOPE durch Buchverkäufe finanzieren - und ziemlich viel ‘betteln, leihen und stehlen’. Inzwischen ist Patreon aber auf ein Niveau angestiegen, das es uns ermöglicht, einen beträchtlichen Teil der Druckkosten so zu decken. Dieses Jahr haben wir auch eine neue Website gebaut, die die Finanzierung durch unser solidarisches Unterstützer:innen-modell erhöht hat, aber wir müssen immer noch gelegentlich einen Verkauf von Kunstprints o.ä. machen, um Geld aufzutreiben. Insgesamt haben wir etwa 600 Unterstützer:innen, was ziemlich ernüchternd ist - das ist nicht grade ein großes Bataillon.
Ich mag den Begriff “cost of living crisis" nicht wirklich, aber die Tatsache, dass alle mehr als sonst vom Kapitalismus und Kapitalisten kaputt gemacht werden, hat sich mit Sicherheit ausgewirkt, wir haben einen Rückgang von Unterstützung zu verzeichnen - obwohl die Zahl der Unterstützer:innen gestiegen ist, sind diese anscheinend nur in der Lage, jeweils weniger zu geben. Auch ist die Nachfrage die Zeitung zu verkaufen höher als je zuvor, was natürlich ein unglückliches Zusammenkommen ist.
Aber hey, wenn es einfach wäre, würde man es nicht Kampf nennen. Wenn Du eine Herausforderung suchst, gibt es Schlimmeres, als eine anarchistische Zeitung zu gründen, die weder finanzielle Mittel hat, noch Werbung nutzt und die Du einfach umsonst verteilst. Es ist möglich: Wir haben buchstäblich aus dem Nichts angefangen, keiner von uns hat reiche Eltern oder ähnliches - wir machen all das in unserer Freizeit, neben unseren normalen Jobs.
Bekommt ihr Feedback von (eher zufälligen) Lesern?
Eines der besten Dinge an DOPE ist, dass vielleicht 5% der Leserschaft Unterstützer:innen sind, wahrscheinlich ‘hardcore Anarchos’ und verschiedene alternative Typen, und die anderen 95% sind einfach diejenigen, die zufällig ein Exemplar von einer/m Verkäufer:in auf der Straße mitnehmen. Dies ist aber dann natürlich eine Öffentlichkeit, die bereit ist, Obdachlose durch den Kauf einer Straßenzeitung zu unterstützen, d.h. die etwas einfühlsam und offen für Solidarität ist.
Aber wir wissen, dass einige Verkäufer in die City (Londons Finanzviertel) gehen, weil es dort viele wohlhabende Banker gibt. Mindestens einer von diesen (ein Banker, ich habe ihn nachgeschlagen) hat sich gemeldet und 500 Pfund gespendet und gesagt, dass einige der Inhalte ein bisschen "out there”, ein bisschen ungewöhnlich, seien, aber er froh sei, dass es so eine Alternative gäbe.
Um ehrlich zu sein, selbst wenn die Leute DOPE kaufen und den Inhalt hassen, bin ich froh, dass sie wenigstens wissen, dass es diesen gibt. Auch ich bin nicht aus dem Nichts Anarchist geworden und die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens wusste ich nicht einmal, dass es Anarchismus gibt.
Was kann ein Projekt wie DOPE am besten? Verändert es z. B. das Leben von Einzelnen, die Perspektive von Leser:innen, Modelle der Solidarität?
Ich denke, es sind alle drei Dinge, und sie sind untrennbar miteinander verbunden. Wir betonen, dass es sich bei DOPE um Solidarität und nicht um Wohltätigkeit handelt, und sehen es als eine Form der gegenseitigen Hilfe an. Natürlich ist es schwer zu quantifizieren, wie sehr die Zeitung die Sichtweise der Menschen verändert, aber sie hat definitiv einen positiven Einfluss auf die Menschen, die sie verkaufen.
Im Gegensatz zu den anderen großen Straßenzeitungen im Vereinigten Königreich verlangen wir kein Geld für die Exemplare, die Verkäufer:innen zum Verkauf mitnehmen, und neue Verkäufer:innen sind oft verwundert, dass es keinen Haken gibt und wir keine Gegenleistung erwarten. Etablierte Verkäufer versuchen manchmal, uns eine Spende für die laufenden Kosten zukommen zu lassen, aber wir sagen den Leuten immer, dass wir das zwar zu schätzen wissen, es aber nicht nötig ist - und dass sie schon genug tun, indem sie anarchistische Propaganda an die Massen verteilen.
DOPE kann direkt hier oder via Patreon unterstützt werden.