Mitte August hat eine kleine Delegation der Plattform das Sommercamp unserer französischen Schwesterorganisation Union communiste libertaire (Libertär-kommunistische Union, UCL) in Südfrankreich besucht. Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Genosse unserer Organisation daran teilgenommen. Einen Bericht der Delegation von diesem Jahr findet ihr auf unserer Website.
Wir haben die Gelegenheit auch genutzt, um zwei spannende Interviews mit französischen Genoss:innen zu führen. Sie behandeln die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der plattformistischen Strömung in unserem Nachbarland - erlauben aber auch einen wertvollen persönlichen Einblick in das Leben zweier Genoss:innen, die sich der sozialen Revolution und dem Anarchismus verschrieben haben. Mit diesem ersten Interview wollen wir vor allem einen Blick zurück wagen. Diesen ermöglicht uns der Genosse Jean-Marc Izrine aus Toulouse.
Wir treffen ihn im Schatten eines kleinen Steinhäuschens auf dem Camp-Gelände...
Die Plattform (DP): Hallo Jean-Marc, kannst du dich erst einmal vorstellen?
Jean-Marc (JM): Meinen richtigen Namen wisst ihr ja bereits (lacht laut). Aber alle hier kennen mich unter dem Namen Biquet, das ist mein Kampfname. Wie der entstanden ist, weiß ich gar nicht mehr, das ist wirklich zu lang her. Aber schon Guérin (Anmerkung der Übersetzung: Daniel Guérin, 1904-1988, war über Jahrzehnte einer der bekanntesten Köpfe und Autor:innen der anarchistischen Bewegung in Frankreich) hat mich so genannt (lacht laut). Ich wohne seit einigen Jahrzehnten in der Stadt Toulouse in der Region Okzitanien im Süden Frankreichs. Mittlerweile bin ich 69 Jahre alt und bereits in Rente. Davor hab ich erst zwanzig Jahre lang als Klempner gearbeitet und dann nochmal 20 Jahre in der industriellen Reinigung. Naja und außerdem bin ich halt als Anarchist politisch aktiv. In der Union communist libertaire seit ihrer Gründung 2019, aber schon lange davor in ihren verschiedenen Vorgängerorganisationen.
DP: Wann und warum bist du politisch aktiv geworden?
JM: Ich bin 1954 in einem Vorort namens Colombes nordwestlich von Paris geboren, in eine kleinbürgerliche Familie hinein. Im Mai 1968 war ich also gerade 14 Jahre alt. Während der Ereignisse, die sich damals in den Straßen von Paris und im ganzen Land abgespielt haben, ist mir bewusst geworden, dass es Klassen gibt, dass diese miteinander im Klassenkampf ringen und dass der Staat nicht gut ist (lacht laut). Ich war ja damals noch in der Schule und konnte daher nicht einfach an den Kämpfen teilnehmen. Aber danach ging ich zu einem großen Treffen der Bewegung. Dort wurden viele verschiedene Themen diskutiert. Verschiedene Organisationen der unterschiedlichsten Strömungen waren präsent - Trotzkisten, Maoisten, Situationisten, Anarchisten (Anmerkung: Wir geben die Aussagen des Genossen so wieder, wie er sie getätigt hat. Weil er keine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt hat, steht daher hier nur die männliche Form. Beteiligt waren aber natürlich auch viele nicht-männliche Genoss:innen). Sie alle wollten die Welt verändern, diskutierten die Revolution. Ich war noch zu jung um vieles so richtig zu verstehen. Aber dieser Mai hat für mich alles verändert. Im September des selben Jahres bin ich selbst aktiv geworden in meiner Schule. Ich habe nach einer Organisation gesucht und bin dann zuerst einmal bei den Trotzkisten gelandet. Es hat noch ein paar Jahre gedauert, dann kam ich mit der Organisation révolutionnaire anarchiste (Anmerkung: Die Revolutionäre Anarchistische Organisation, ORA, bestand von 1969 bis 1976 und ging aus einer Abspaltung von der strömungsübergreifenden Fédération anarchiste hervor) in Kontakt. 1972 war das. Ich bin zu ihrem Lokal gegangen, das lag in einem Vorort von Paris und wurde dann Teil der Gruppe in Nanterre.
DP: Warum hast du dich der anarchistischen Bewegung zugewandt?
JM: Ich war immer stärker an libertären Ideen interessiert. In den marxistischen Organisationen gab es nicht genug Freiheit. Und ich habe damals viel Zeit mit den Autonomen verbracht.
DP: Anscheinend warst du ja aber kein Autonomer. Warum hast du dich ORA angeschlossen?
JM: Wir waren keine marxistisch-leninistische Organisation. Aber ORA war ernsthafter als die anderen libertären Organisationen, die es damals gab. Ein Schlüsselmoment für mich war als ein Student bei einem Protest vor einer Fabrik durch einen privaten Sicherheitsmann getötet wurde. Als wir mit ORA geschlossen zur Demonstration kamen fühlte ich mich geschützt. Wir hatten eine gewisse Disziplin, es war nicht mehr alles Bum-Bum-Trallala (lacht laut auf). Ich habe erst später verstanden, dass hinter all dem plattformistische Gedanken standen. Ich war da noch ein Teenager. Bakunin, Malatesta, Machno und Goldman kamen erst später.
Viele Genossen in ORA waren innerhalb der Arbeiterbewegung aktiv. Einige von ihnen waren Söhne von aus Spanien geflohenen CNT-Kämpfern. Wir hatten auch unser Zentrum dort, wo ebenfalls die CNT saß, in der Rue de Vignoles.
DP: Aber irgendwann war es dann vorbei mit ORA, oder?
JM: Ja, so war es. 1976 habe ich schon als Klempner gearbeitet, hab aber parallel an der Universität von Nanterre studiert. In der Zeit, die mir noch blieb, habe ich mit den anderen Propaganda gemacht vor den Fabriken in den Pariser Vororten. Wir haben Flyer verteilt an die Arbeiter von Thompson und EDF.
In der Zeit haben sich innerhalb von ORA zwei Strömungen entwickelt. Die Mehrheit wollte stärker mit den Autonomen zusammenarbeiten. Aber eine Minderheit, zu der auch ich gehörte, wollte vor allem Syndikalismus machen, sich gewerkschaftlich unter den Arbeitern organisieren. 1976 fand ein ORA-Kongress in Orléans statt. Wir schlugen eine Strategie in Richtung mehr Syndikalismus vor, die anderen wollten lieber am Rand der Gesellschaft bleiben. Als klar war, dass es gemeinsam nicht mehr vorangehen würde, entschlossen wir uns, ORA zu verlassen. Aber bevor wir das tun konnten, haben sie uns ausgeschlossen. Einfach unglaublich. Wir waren so etwa 300 bis 400 Leute in ORA. 17 syndikalistisch orientierte Genossen haben sie ausgeschlossen. Statt den Namen ORA für sich zu behalten, haben sie den Laden danach aber ganz dicht gemacht und die Organisation communiste libertaire (Anmerkung: Libertär-kommunistische Organisation, OCL) geschaffen. Und wir haben wiederum die Union des travailleurs communistes libertaires (Anmerkung: Union libertär-kommunistischer Arbeiter, UTCL) aufgebaut. OCL gibt es immer noch. UTCL gibt es auch, aber heute als UCL. Nur während OCL heute 40 Mitglieder hat, hat UCL 700. Wie sich das Blatt gewendet hat (lacht laut auf)!
Es gibt heute immer noch junge Genossen, die zur UCL kommen und sagen: "Lasst uns doch mehr mit den Autonomen arbeiten!". Ich zeige ihnen dann das Beispiel von 1976. Du kannst Autonomie nicht organisieren, sie sind immerhin autonom. In der Gewerkschaftsbewegung gab und gibt es mehr Struktur und dort kannst du Leute gewinnen für die Organisation.
DP: Wie hat sich UTCL dann entwickelt?
JM: Es gibt ein sehr lesenswertes Buch von Théo Rival darüber, der wie ich selbst dabei war. Es heißt "Syndicalistes et libertaires". Die Arbeit am Arbeitsplatz und in der Gewerkschaft war unsere Priorität. Dabei haben wir uns am Anfang auf die Sektoren Post, Telekommunikation und Eisenbahn fokussiert. Dort haben wir die Abspaltung der jeweiligen Branchengewerkschaften von dem reformistischen Gewerkschaftsbund Confédération française démocratique du travail (Anmerkung: Französischer Demokratischer Gewerkschaftsbund, CFDT) vorangetrieben. Und wir haben die Schaffung der SUD-Gewerkschaften (Anmerkung: SUD steht für "Solidaires Unitaires Démocratiques". Unter diesem Label sammelten sich die radikaleren Branchengewerkschaften, die CFDT verließen.) vorbereitet. Die anderen Anarchisten haben uns vorgeworfen, wir seien Trotzkisten.
Als UTCL haben wir sowohl an der Basis, also im Betrieb politische Arbeit gemacht, als auch in der Struktur der Gewerkschaft. Wir hatten einen Genossen, der an der Spitze von SUD Rail, der Eisenbahn-Gewerkschaft, stand. In diese Zeit fiel der große Eisenbahn-Streik von 1986. Drei Monate lang haben die Arbeiter den Schienenverkehr lahmgelegt. Sie haben den Staat wirklich traumatisiert.
Neben SUD haben wir auch in der CGT (Anmerkung: Die Confédération Générale du Travail ist ein größerer, ebenfalls tendenziell klassenkämpferischer französischer Gewerkschaftsbund.) gearbeitet. Aber da musste man andere Herangehensweisen wählen, weil die PCF (Anmerkung: Kommunistische Partei Frankreichs) damals noch die ganze Struktur dominiert hat. Gegen solche Tendenzen mussten wir damals ankämpfen und tun es in veränderter Weise heute immer noch.
DP: Habt ihr euch auch an Kämpfen abseits des Syndikalismus beteiligt?
JM: Wir haben zum Beispiel auch antimilitaristische Arbeit geleistet. Dafür haben wir mit Daniel Guérin zusammengearbeitet.
Und ich selbst habe mich vor allem an Nachbarschaftsorganisierung beteiligt. Ich war zwar Mitglied in CFDT und dann in SUD, aber Syndikalismus war nie so mein Ding. In unserem Viertel in Toulouse haben wir dann vor allem gegen den Bürgermeister gearbeitet. Wir haben Sachen auf die Beine gestellt, die man davor noch nicht gesehen hatte. Nach dem Polizeimord an dem Jugendlichen Nahel in Nanterre Ende Juni diesen Jahres, gab es einen Marche Blanche (Anmerkung: "Weißer Marsch". Eine in Frankreich verbreitete Form der Gedenkdemonstration, zu der alle in weißer Kleidung erscheinen). Das war eine Protestform, die wir damals schon in Toulouse entwickelt haben nach Polizeimorden. Die wir aber auch gegen den Irakkrieg 2003 eingesetzt haben.
DP: Aber auch UTCL war dann irgendwann Geschichte...
JM: Wir waren bis zum Beginn der 1990er Jahre immer weniger als 100 Genossen in UTCL. Wir hatten zwar durch unsere Arbeit in SUD einen großen Einfluss und sind auch gewachsen mit Gruppen in Lille, Nancy oder Toulouse. Aber es war einfach nicht genug. Als ob wir ein Limit erreicht hatten.
Währenddessen tat sich aber was in der Jugend. Im Laufe einer sozialen Bewegung in den Schulen wurden die Jeunesses communiste libertaires (Anmerkung: Libertär-kommunistische Jugendliche, JCL) gegründet. Wir haben Kontakt zu ihnen aufgebaut und uns entschlossen gemeinsam Alternative Libertaire (Anmerkung: Libertäre Alternative, AL) zu gründen. Das war 1991 in Toulouse.
DP: Was hat sich mit der Gründung von AL verändert?
JM: Wir haben festgestellt, dass die Kämpfe, die für uns bis dahin eher sekundäre Fronten waren, eben doch wichtig sind. Das waren vor allem Ökologie und Feminismus. Wir lernten damals quasi Intersektionalität ohne den Begriff zu kennen. Wir haben uns also modernisiert.
Die Gründung von AL gab uns auch zahlenmäßig einen ordentlichen Schub. Anfang der 1990er waren wir etwa 130 bis 150 Leute. Wir wuchsen auf fast 400 Leute heran.
Trotz unserer Erneuerung blieb die syndikalistische Arbeit unser zentrales Feld. Aber wir haben uns eben auch an den Mobilisierungen der Schüler und Studenten beteiligt. Auch in die Anti-Globalisierungsbewegung haben wir uns eingebracht. So ging das dann bis 2018.
DP: Was passierte dann?
JM: Neben uns gab es natürlich andere libertäre Organisationen. Eine davon war die Coordination des groupes anarchistes (Anmerkung: Koordination anarchistischer Gruppen, CGA). Sie kam eher aus dem klassischen anarchistischen Milieu. AL war breiter aufgestellt. Die Genossen von CGA haben die Grenzen ihres Ansatzes erkannt, uns kontaktiert und nach einer Fusion unserer Organisationen gefragt. Es gab eine Reihe an vorbereitenden Gesprächen, etwa ein Jahr lief das Ganze. Zwei doch sehr unterschiedliche Ansätze mussten zusammengebracht werden. Am Ende hat es aber geklappt, UCL wurde 2019 gegründet. Und wieder gab es einen Schub wie damals bei der Gründung von AL. Deshalb sind wir jetzt 700 Genossen, so viele wie nie zuvor. Fast 50 Jahre nach dem Ende von ORA.
DP: Was ist dein Verhältnis zu jüngeren Genoss:innen in UCL?
JM: Das müsst ihr sie selbst fragen (lacht laut). Heute und hier auf dem Camp fühle ich mich einsam, weil ich der einzige Rentner bin. Viele andere alte Genossen waren nicht so begeistert von den Veränderungen, die mit der Zeit kamen. Sie waren nicht geduldig genug und haben das intersektionale Verständnis der Jugend nicht nachvollziehen können. Für uns gab es nur den Klassenkampf und wir waren zumeist ausschließlich Männer. Selbst für mich ist es manchmal schwer mitzukommen. Ein Beispiel: Letztes Jahr gab es einen Vortrag hier über Verschwörungsideologien. Ich habe nichts verstanden. Als ob sie Hebräisch sprechen. Erst danach habe ich verstanden, was die extreme Rechte im Internet macht. Aber ich vertraue den jungen Genossen, das sie das richtige tun!
DP: Du hast selbst ein Buch geschrieben. Kannst du uns ein bisschen davon erzählen?
JM: Ich habe sogar zwei Bücher geschrieben! Aber ich erzähle mal vom ersten. Es trägt den Titel "Les libertaires du Yiddishland" (Anmerkung: Die Libertären aus Yiddishland) und erzählt die Geschichte der jüdischen anarchistischen Bewegung.
Dass ich angefangen habe, mich mit diesem Thema zu befassen, mit meiner eigenen jüdischen Identität und meinem Bewusstsein diesbezüglich, kam erst spät. In ORA und UTCL ging es zwar immer viel um die eigene Familiengeschichte. Aber es war stets die Familiengeschichte der CNT-Exilanten. Ich habe mir selbst die Geschichte der spanischen Revolution angeeignet und habe dann auch eine spanische Anarchistin geheiratet (lacht laut auf). Ihre Eltern waren Anarchisten.
Meine Eltern aber waren Juden aus Zentraleuropa. Das hat nur in unserer Familie kaum eine Rolle gespielt. Denn nach dem 2. Weltkrieg haben viele französische Juden versucht sich zu assimilieren. Meine Eltern haben mir deshalb einen christlichen Namen gegeben und nur einen jüdischen Zweitnamen. Jüdische Kultur spielte kaum eine Rolle.
Es hat erst meine goyim Genossen in AL gebraucht, um mich dazuzubringen, mich doch mit all dem auseinanderzusetzen. In den 1990er Jahren wuchs der Antisemitismus in Frankreich wieder. Die antifaschistische Kommission der Organisation kam auf mich zu und fragte mich, ob ich dabei helfen kann, das ganze zu verstehen. Ich habe dann auch begonnen mich mit Anarchismus, Judentum, jüdischem Anarchismus und meiner eigenen Familiengeschichte zu befassen. Davor hatte ich mich immer mehr für Durruti als für Goldman interessiert.
Weil es meine nicht-jüdischen Genossen waren, die mich zu all dem ermutigt haben, sage ich, dass es nicht stimmt, dass die anarchistische Bewegung antisemitisch ist. Wenn man sich die Geschichte anschaut, kann man sehen, dass Anarchisten oft in der ersten Reihe im Kampf gegen Antisemitismus standen, zum Beispiel bei der Dreyfus-Affäre.
DP: Ist das der Grund, warum du dich entschlossen hast, das Buch zu schreiben?
JM: Auch. Ich wollte einfach die Geschichte der jüdischen Anarchisten bekannt machen. Sonst schreibt ja niemand darüber. Mein Buch bringt sie jetzt zusammen - Genossen aus verschiedenen Zeiten und Regionen.
Denn das Thema ist doch immer noch aktuell. Schaut euch nur die Debatte um Intersektionalität an. Da stehe ich oft zwischen den Stühlen. Wenn es zum Beispiel um Treffen für Menschen geht, die besondere Unterdrückung erfahren. Mein Erleben ist schließlich ein anderes als zum Beispiel das eines Schwarzen Genossen. Soll ich dann trotzdem teilnehmen? Es ist nicht einfach.
DP: Wie blickst du auf die Zukunft der libertären Bewegung?
JM: Viele politische Bewegungen sind in letzter Zeit in eine tiefe Krise geraten. Ich bin davon überzeugt, dass uns unsere antiparlamentarische Vision angesichts all dessen voran bringen wird. Wir sind die einzige wirkliche revolutionäre Organisation in Frankreich aktuell. Wir schlagen ein Gesellschaftsprojekt vor und mehr und mehr Menschen kommen hinzu, um dafür zu kämpfen. Es ist unsere Aufgabe, Theorie und Praxis zu organisieren und zu verbinden.
Noch sind wir aber zu wenige. Und uns fehlen die großen Theoretiker. Ein Guérin, ein Kroptokin. Leute, die Synthesen aus vorhandenen Gedanken herstellen können.
Aber wir haben keine Wahl. Entweder wir organisieren den antifaschistischen Widerstand oder in ein paar Jahren folgt auf Macron die Faschistin Le Pen. Wir brauchen eine kämpfende Bewegung.
Auf lange Sicht wird das kapitalistische System zerbrechen. Die Krisen werden es in die Knie zwingen. Wir müssen dann eine echte Macht sein, um durch diese schreckliche Zeit zu steuern. Ich glaube, dass es einen neuen großen Krieg geben wird. Aber wenn wieder Frieden ist, dann müssen wir die Welt wieder aufbauen. Dafür brauchen wir Organisierung. Ich denke Rojava zeigt, wie es geht. Die PKK macht es möglich, ist eine strukturierte Organisation. Auch wenn sie aus dem Marxismus-Leninismus kommt, zeigt sie in ihrer Praxis anarchistische Tendenzen. Aber auch Argentinien zur Jahrtausendwende kann eine Inspiration sein (Anmerkung: Damals kam es inmitten einer Wirtschaftskrise zu vielen Besetzungen und Selbstverwaltung von Betrieben). Aber dieses Beispiel zeigt auch, dass es ohne Organisation und ein Gesellschaftsprojekt nicht geht, dann kommt der Staat einfach zurück irgendwann. Ich glaube nicht an die reine Spontanität und deshalb auch nicht an die Autonomen. Wir brauchen horizontale Organisierung, aber Struktur muss sein!
Ich bin ehrlich. Ich habe bei all dem gemischte Gefühle. Ich bin Rentner, könnte mir eigentlich ein bequemes Leben in der Mittelschicht machen. Und ich weiß auch nicht was wird, wenn das alles weg ist. Aber als Militanter wünsche ich mir nichts mehr, als das morgen alles endlich anders ist.
DP: Warum bist du nach all dieser Zeit noch immer Anarchist?
JM: Weil ich an eine freiheitliche, solidarische und gleiche Gesellschaft glaube. Das ist eine sehr starke Ideologie. Die andere Wege sind alle diskreditiert. Wir haben keine Wahl, wir müssen vorwärts. Viele andere alte Genossen haben sich zurückgezogen, viele kämpfen mit Depressionen. Ich nicht. Ich habe Guérin und Fontenis (Anmerkung: George Fontenis, 1920-2010, war über Jahrzehnte einer der bekanntesten Köpfe der klassenkämpferischen libertären Bewegung in Frankreich) noch selbst kennengelernt. Ich hatte nie ihre intellektuellen Fähigkeiten, ich war ja immer nur Klempner. Aber jetzt bin ich der einzige Alte zwischen all den jungen Genossen. Aber ich glaube nicht, dass ich so Ehrfurcht erweckend bin, eher ein Maskottchen. Ich nehme mich selbst nicht so ernst. Aber ich bin glücklich hier zu sein, trotz allen Unterschieden, die vielleicht zwischen uns liegen.
DP: Genosse, wir möchten dir danken, dass du dir die Zeit genommen hast und wünschen dir alles Gute.