Anarchy 2023 in Saint-Imier - Rückblick und Diskussionsvorschlag


Ralf Dreis
Bericht Kongress

Mehr als 5.000 Anarchistinnen und Anarchisten trafen sich vom 19. bis 23. Juli 2023 in Saint-Imier im Schweizer Jura um gemeinsam den 150. Jahrestag des Kongresses von Saint-Imier zu begehen. Es war das seit Jahrzehnten wahrscheinlich größte Treffen von Anarchist:innen weltweit. 1872 wurde in dem Uhrmacherstädtchen die Antiautoritäre Internationale gegründet, ein Ereignis, das als Geburtsstunde des organisierten Anarchismus gilt.

Aus diesem Anlass fanden während des fünftägigen Treffens Infoveranstaltungen, Konzerte, Seminare, Diskussionen, Workshops und viele weitere Aktivitäten statt. Wie schon 2012 beim letzten großen anarchistischen Treffen in St.-Imier wurden die Teilnehmenden gastfreundlich von der ansässigen Bevölkerung empfangen. Unterstützt wurde das Treffen auch von der Gemeinde St.-Imier. Sie hatte den Veranstalter:innen städtische Gebäude wie die Eissporthalle, den Grande salle de Spectacle, eine Turnhalle und weitere Veranstaltungsräume zur Verfügung gestellt. Immerhin profitiere ja auch die Wirtschaft vom Jubiläum der Anarchist:innen.

Mit rund 5000 Einwohner:innen ist St.-Imier ein beschauliches Städtchen im Berner Jura. Vom 19. - 23. Juli hatte sich seine Bevölkerung allerdings vorübergehend mehr als verdoppelt. Plätze und Straßen voller gut gelaunter, überwiegend schwarz gekleideter Menschen, Unterhaltungen und Musik in allen möglichen Sprachen, eine riesiger Zeltplatz direkt am Ortsrand. Der Kontrast zur sonstigen Ruhe konnte kaum größer sein. Das Treffen hätte bereits im vergangenen Jahr stattfinden sollen, wurde aber aufgrund der Corona-Pandemie verschoben und ging nun ohne größere Probleme über die Bühne. Schon vor Beginn hatten die Organisator:innen klargestellt: „Anarchist:innen lehnen staatliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Autorität ab, doch Anarchie bedeutet nicht Chaos. Das Treffen wird ein Ort des Austauschs über politische und gesellschaftliche Entwicklungen sein.“

Auch das gute Wetter trug zur Happening-Atmosphäre bei. Überall diskutierende Gruppen, Musik, Straßentheater oder Leute, die in der Sonne saßen. Dazu mehr als dreihundert Workshops und Vorträge. So ging es unter anderem um staatliche Überwachung, Abtreibung, Antimilitarismus, Klimaschutz, die Revolution in Rojava, Frauenkämpfe im Iran oder Faschismus. Darüber hinaus gab es praxisnahes Aktionsklettern oder das eigene körperliche Wohlbefinden fördernde Kurse. Auch lustiges wie den Workshop zum anarchistischen Jodeln gab’s. Dies sei extrem nützlich, „um bei rechtsextremen Demos Faschist:innen aus dem Takt zu bringen“, wie das Berliner Duo „Esels Alptraum“ erklärte. An der Eissporthalle, in der die anarchistische Buchmesse stattfand, standen mittags oft 3000 Leute geduldig für das hervorragende Essen der mit Freiwilligen arbeitenden Küchencrew an.

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Der Anarchismus ist tief im Berner Jura verwurzelt

Dass die Anarchist:innen das 150-jährige Jubiläum in Saint-Imier feierten, ist kein Zufall. Das Städtchen gilt seit der Gründung der Antiautoritären Internationale 1872 als der Geburtsort des organisierten Anarchismus. Damals sei man wohl nirgendwo auf der Welt so empfänglich für die Idee gewesen, den Staat abzuschaffen, wie im Berner Jura, so der Schweizer Historiker Florian Eitel in seiner Studie „Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz“.
Als Grund nennt er, dass die einst wohlhabende Uhrenindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Proletarisierung der Arbeiterschaft erlebte. Eine Weltwirtschaftskrise und die stärker werdende globale Konkurrenz führten zu sinkenden Löhnen. In anderen Branchen stiegen die Löhne und den Mitarbeiter:innen boten sich Aufstiegsmöglichkeiten, die die Uhrenindustrie nicht bieten konnte. Der Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin hat der Epoche den kürzlich angelaufenen Historienfilm „Unrueh“ gewidmet.
Die Menschen in St.-Imier sehnten sich nach einer neuen, herrschaftsfreien Ordnung. Sie waren offen für die Ideen des russischen Anarchisten und Revolutionärs Michail Bakunin. Der Widersacher von Karl Marx traf sich 1872 mit Errico Malatesta und dem Schweizer Uhrmacher Adhémar Schwitzguébel in St.-Imier. Das Treffen war eine Folge des Richtungsstreits in der Arbeiterbewegung. Marx und seine Anhänger strebten eine zentrale Führung an, im Gegensatz zu den Antiautoritären um Bakunin. Mit 14 Gleichgesinnten aus Europa und den USA gründete Bakunin in St.-Imier die Antiautoritäre Internationale. Sie warfen Marx autoritäres Gehabe und diktatorischen Zentralismus vor. Tagungsort war ein Hotel, das später in Hotel Central umbenannt wurde. Der Antiautoritären Internationale schlossen sich die Landesföderationen von Belgien, England, Holland, Italien, Spanien und den USA an. Sie sollte alle Sektionen und Mitglieder vereinen, die sich für eine föderale Organisation der Internationale einsetzten, sowie die Zerstörung aller Herrschaftsstrukturen und die Errichtung der anarchistischen Gesellschaft zum Ziel hatten.
Vor einigen Jahren wurde das zuvor arg ramponierte Hotel Central saniert und eine Gedenktafel angebracht die auf die Gründung der Antiautoritären Internationale hinweist. Ebenfalls an der Hauptstraße steht das große Gebäude des 1984 als Kooperative gegründeten anarchistischen Kulturzentrums Espace Noir. Dort versammelte sich 1988 eine weitere Generation der von Arbeitslosigkeit betroffenen rebellischen Uhrenarbeiter:innen um über direkte Aktionen gegen die Firmenbosse zu beratschlagen. Das Espace Noir ist eine auf anarchistischen Ideen basierende selbstverwaltete Kooperative, die versucht, der wirtschaftlich bedingten Abwanderung, eine Bewegung für das soziale und kulturelle Überleben der Region entgegenzustellen. Das Espace Noir beherbergt einen Buchladen, eine Kneipe, einen Versammlungsraum, eine Galerie, ein Theater, einen Konzertsaal, Wohnräume und ein Kino und war 2012 und 2023 maßgeblich an der Organisierung der Anarchie-Tage beteiligt. Seit 2017 gibt es auch eine Rue Bakounine in St.-Imier.

Weniger ist oft mehr - eine vergebene Chance

„Eine gute Gelegenheit für libertäre Sympathisant:innen, Menschen aus der Region und anderer Weltgegenden, sich zu treffen und zu diskutieren, sowie libertäre Ideen und Praktiken zusammen zu erleben. Es wird auch eine Gelegenheit sein, für diejenigen, welche die ereignisreiche Geschichte dieser Bewegung noch nicht kennen.“ Dieser Ankündigung wurde die Anarchy 2023 ohne Abstriche gerecht. Ich denke viele, vor allem junge Menschen, die sich politisch orientieren wollten, haben einen hervorragenden Einblick in anarchistische Ideen, das Funktionieren selbstverwalteter Strukturen und ein Mut machendes, solidarisches Miteinander erlebt. Und meines Erachtens nach ist „die Anarchie“ inzwischen weiblicher geworden, waren doch eindeutig mehr Frauen - oder weiblich gelesene Personen - als Männer am Start.
Weiter geht es im Aufruf: „Was machen Anarchist:innen heute? Was sind ihre Ideen, ihre Werke, ihr Handeln? Was haben sie seit mehr als 150 Jahren zur Weltgeschichte beigetragen? Was können wir aus diesem Konzept lernen und warum ist Anarchie erstrebenswerter denn je?“
Und da wird es schwieriger. Ohne Frage konnte mensch eine Vielfalt heutiger anarchistischer Praxis und Ideen kennen lernen. In Zeiten der Klimakatastrophe und des überall in Europa erstarkenden Rechtsextremismus, der Ausbreitung autoritären Gedankenguts, des Antifeminismus und der Remilitarisierung der Politik, wurde jedoch meines Erachtens die Chance vertan, gemeinsam handlungsfähig zu werden. Dafür hätte es nicht 300 Workshops bedurft sondern zwei gut vorbereitete zentrale Großveranstaltungen, um sich gemeinsam darüber auseinanderzusetzen was wir als Anarchistinnen und Anarchisten länderübergreifend zu tun gedenken. Zwei Einführungsreferate zu diesen zentralen Themen hätten dazu führen können sich mit Genossinnen und Genossen - zumindest aus Europa und einigen wenigen aus Südamerika - in den folgenden Tagen auf grundlegende Eckpunkte unseres zukünftigen Handelns zu verständigen. Stattdessen Festivalstimmung, Happening und selbstbestimmte Verdrängung. Ich hatte den Eindruck, dass durch die Flut an Angeboten die Kleingruppen eher unter sich blieben und nicht das Gefühl bekamen ein großes Ganzes zu sein und eine gemeinsame Verantwortung auch für das Gelingen des Treffens zu haben. Im Jahrmarkt der Möglichkeiten und der Beliebigkeit schienen die meisten froh für eine Woche ihrem grauen, schweren Alltag zu entfliehen. Auch das ist manchmal wichtig, politisch relevanter werden wir als Anarchist:innen so jedoch nicht.

Aufruf für einen anarchistischen Kongress 2025

„Warum ist Anarchie erstrebenswerter denn je?“
Wir wissen dass der Kapitalismus uns alle und alles zerstört. Der Planet brennt, Kapital und Politik machen weiter wie bisher, Nazis und Rassist:innen, Jihadisten und Frauenfeinde marschieren erneut und ein großer Krieg droht (neben all den anderen Kriegen). Wenn wir uns selbst ernst nehmen, sollten wir uns ein Beispiel an Bakunin und seinen Genoss:innen vor 150 Jahren nehmen und uns verbindlich international absprechen und organisieren. Da wir diese Chance 2023 in Saint-Imier für ein wirklich nettes Festival vertan haben, drängt die Zeit nun umso mehr. Deshalb: Wir brauchen einen anarchistischen Kongress auf dem wir international miteinander diskutieren und uns auf Eckpunkte unseres Handelns verständigen. Gerne in zwei Jahren, gerne erneut in St.-Imier, auf jeden Fall zentral, in der Mitte Europas, und international und von organisierten Gruppen vorbereitet. In Deutschland denke ich dabei an die FAU (Anarchosyndikalist:innen), noch Aktive der aufgelösten FÖGA (Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen), die Zeitschrift Graswurzelrevolution, Aktivist:innen der IFA-IAF (Internationale der Anarchistischen Föderation), an interessierte feministische Gruppen und Antifas. Packen wir´s an!

Fotos von Übertage

Ralf Dreis

Ralf Dreis, Gärtner, Neugriechisch-Übersetzer, freier Journalist und Anarchist, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland und Griechenland, ist Mitglied der FAU und in der anarchistischen Bewegung beider Länder aktiv.

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