Interview zum Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich: „Es ist uns nicht gelungen, den Streik zu generalisieren"


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Vorwort

Seit Anfang diesen Jahres hat sich in unserem Nachbarland Frankreich eine starke soziale Massenbewegung gegen die Rentenreform-Pläne des neoliberalen Präsidenten Macron entwickelt. Millionen Menschen beteiligten sich an den Straßenmobilisierungen, Streiks legten verschiedene Branchen teils über Wochen lahm und es kam zu militanten Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Viele Linke in Deutschland und darüber hinaus schauten begeistert bis neidisch nach Frankreich. Doch seit einigen Wochen hört man kaum noch etwas vom Kampf gegen die Rentenreform, die Mitte April vom Parlament beschlossen wurde. Ist die Bewegung tot? Und wenn nicht, wo steht sie heute? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir Mitte Mai ein längeres Interview mit dem Genossen Guillaume aus Frankreich geführt. Er ist Mitglied unserer französischen Schwesterorganisation Union Communiste Libertaire ( UCL ) und aktiv in der Gewerkschaft CGT. Wir glauben, dass sein Bericht eine spannende Perspektive aus dem Inneren der Bewegung bietet, ihre Stärken und Schwächen aufzeigt und so auch wertvolle Erkenntnisse für den Klassenkampf in Deutschland liefert. Wir freuen uns, wenn ihr das Interview lest, verbreitet und diskutiert. Auf unserem Youtube-Kanal findet ihr das Interview als Podcast in Englisch.

Interview

Die Plattform (DP): Wer bist Du und wo bist Du politisch aktiv?

Guillaume (G): Ich bin Guillaume und ich bin Mitglied der Union Communiste Libertaire ( UCL ) seit ihrer Gründung im Jahr 2019. Davor war ich Mitglied in einer der beiden Organisationen, die sich zu UCL zusammengeschlossen haben. Wir sind eine libertär- kommunistische Organisation und kommen aus der Strömung des sozialen Anarchismus. Dennoch wollen wir auch andereTraditionen der sozialen Bewegungen und der Arbeiter:innenbewegung integrieren. Aber unser ideologisches Kernsystem ist der soziale Anarchismus.

Als revolutionärer Aktivist bin ich wie die meisten Genoss:innen in UCL auch aktiver Gewerkschafter, weil wir glauben, dass die erste Aufgabe revolutionärer Aktivist:innen darin besteht, die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Klassen im Allgemeinen zu organisieren. Und ich denke auch, dass es ehrlicher ist, wenn ich präzisiere, dass ich seit eineinhalb Jahren in der Sportindustrie als Gewerkschaftsorganizer arbeite.

Ich bin also Mitglied und Organizer der CGT, der wichtigsten Klassenkampfgewerkschaft in Frankreich. Für diejenigen, die nicht wissen, was die CGT ist: Sie war jahrzehntelang die Gewerkschaft der Kommunistischen Partei, und seit dem Niedergang der Kommunistischen Partei und des sogenannten kommunistischen Blocks ist sie jetzt etwas offener und wir können innerhalb der CGT Aktivismus aus einer libertären Perspektive betreiben.

DP: Welche Entwicklungen der letzten Jahre sind wichtig, um die aktuelle Situation in Frankreich zu verstehen?

G: Wie ihr wisst wurde Macron im letzten Jahr wiedergewählt. Er hatte die rechtsextreme Partei Rassemblement National gegen sich. Er wurde also mit relativ komfortabler Mehrheit gewählt, aber nicht sehr komfortabel. Normalerweise ist es viel einfacher, wenn ein:e klassische:r Politiker:in gegen die extreme Rechte antritt. Sie gewinnen in der Regel mit hohen Ergebnissen, was bei ihm nicht der Fall war. Danach hatten wir die Parlamentswahlen und Macron konnte keine richtige Mehrheit im Parlament gewinnen. Er befindet sich also in einer ziemlich schwierigen Situation, weil er nicht wirklich die Mehrheit hat, um das Land zu regieren und das ist in Frankreich sehr wichtig. Wir sind es nicht gewohnt, Koalitionen zu bilden, wie es in parlamentarischen Demokratien wie Deutschland möglich ist.

Macron wurde also mit der Unterstützung der Linken gegen die extreme Rechte gewählt. Aber er war schon unpopulär als er jetzt zum zweiten Mal an die Macht kam. Denn davor war er bereits fünf Jahre lang im Amt und hat eine sehrwirtschaftsfreundliche Politik betrieben. Er zerstörte das Arbeitsgericht komplett, er erließ Gesetze gegen Arbeitslose, gegen Migrant:innen, arbeitete gegen den Sozialstaat und er vertrat im Grunde eine sehr liberalistische Politik, die besagt, dass, wenn man den Reichen und der Kapitalist:innenklasse Vorteile gewährt, am Ende alle davon profitieren werden. Natürlich hat das nicht funktioniert. Also hat er hart gegen die sozialen Bewegungen wie die Gelbwesten und auch gegen die Umweltbewegung gekämpft.

Das hat zu einer Art neuer Polarisierung der politischen Landschaft geführt. Früher kannten wir nur zwei Blöcke, den linken und den rechten. Ich bin in einer Welt oder zumindest in einem Land aufgewachsen, in dem wir uns nicht vorstellen konnten, dass es andere politische Optionen als rechts und links geben würde. Die Kommunistische Partei war bereits im Niedergang und wir waren daran gewöhnt, dass entweder die Linke oder die Rechte das Land regiert. Nach der Wahl, als Macron an die Macht kam, hat sich die Situation völlig verändert. Wir haben jetzt drei Blöcke: den nationalistischen Block ganz rechts, die liberalistische Mitte, die aber hauptsächlich rechts ist, und eine Linke, die sich unseren Ideen annähert. Ich meine nicht wirklich unsere Ideen, es ist natürlich eine reformistische Linke, aber sie wird ein bisschen linker als früher. Wir haben also jetzt diese neue Situation.

Im Jahr 2019 versuchte der frühere Premierminister Eduard Philippe eine neue Reform des Rentensystems durchzusetzen und sah sich damals mit einem massiven Streik konfrontiert, vor allem im öffentlichen Nahverkehr bei der nationalen Eisenbahngesellschaft und im Pariser Verkehrsnetz. Als der Corona-Lockdown erfolgte, zog er die Reformpläne zurück. Er tat natürlich so, als sei das kein Rückzug. Aber er zog sich zurück, weil es in dieser Phase nicht mehr um die Rentenreform ging, sondern um die weltweite Pandemie. Als Macron wiedergewählt wurde, musste er also beweisen, dass er in der Lage ist, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Der erneute Angriff auf das Rentensystem war ein starkes Symbol und es ist wirklich etwas, das allen in Frankreich am Herzen liegt. Mit dem Renteneintrittsalter von 60 Jahren haben wir einen großen sozialen Sieg errungen, der als der zentrale Gewinn der klassenkämpferischen Gewerkschaften gilt. Das Rentensystemist Teil dessen, was wir Sécurité Social (soziale Sicherheit) nennen. Dieses System wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Kontext mit sehr starkem kommunistischem Einfluss durch den französischen Widerstand gegen die Nazis eingeführt.

Für viele von uns in der französischen Region der Welt hat dies also auch einen emotionalen und politischen Hintergrund. Das erklärt auch, warum Macron nicht klar sagen kann, dass er dieses System zerstört, dass er darauf abzielt, es zu demontieren, sondern er rechtfertigt sich vielmehr, indem er vorgibt, das Umverteilungssystem zu retten. Macron tun also so, als würde er es retten, und zerstört es gleichzeitig.

DP: Wie war die Situation unmittelbar vor dem Beginn des Kampfs gegen die Rentenreform?

G: Generell ist die allgemeine gesellschaftliche Lage ziemlich angespannt. Wir haben eine starke Inflation erlebt und von der Politik keine allgemeine Lohnerhöhung erhalten. Daher gab es in den Betrieben eine Menge lokaler Kämpfe um die Lohnfrage. Im letzten Herbst gab es beispielsweise in den Raffinerien Kämpfe um Lohnerhöhungen und diese Konflikte waren teilweise erfolgreich. Sie hatten eine allgemeine Unterstützung der Bevölkerung, aber sie wurden nicht verallgemeinert – also auf andere Betriebe oder Branchen ausgeweitet. Es waren meist lokale Kämpfe mit Unterstützung der Gewerkschaft und der sozialen Organisationen, aber nicht allgemein in der Gesellschaft.

Zu diesem Zeitpunkt, wie auch im letzten Herbst, warteten also alle auf eine allgemeine soziale Bewegung zur Frage der Reform des Rentensystems. Tatsächlich hat die Regierung die offizielle Ankündigung der Reform verschoben. Sie sollte eigentlich Mitte Dezember angekündigt werden, aber man wollte vermeiden, dass sie zu einem der Themen der Familientreffen an den Winterfeiertagen wie Weihnachten, Chanukka, Silvester und so weiter wird. Also haben sie die offizielle Ankündigung erst im Januar gemacht, damit wir nicht gemeinsam darüber sprechen können.

DP: Wie groß war das Ausmaß der Bewegung in den ersten paar Monaten?

G: Wir hatten etwa vier Monate lang eine sehr intensive soziale Bewegung. Sie wurde hauptsächlich von den Gewerkschaften angeführt. Vom ersten Tag der Demonstrationen, Mitte Januar, bis zum 1. Mai waren eins bis drei Millionen Menschen etwa einmal pro Woche auf der Straße. Es war also die längste soziale Bewegung, die wir in dieser Intensität seit langem hatten. Ich denke, es ist auch interessant für Euch zu wissen, dass wir Demonstrationen und Aktionen in kleinen und mittleren Städten hatten, was nicht so üblich ist. Wie zum Beispiel in meiner Region, die eine recht kleine, ländliche Region in Frankreich ist. Normalerweise machen sich die Leute in den Großstädten über uns lustig, weil wir vom Land kommen und so weiter. In meinem Departement hatten wir bis zu sechs Demonstrationen am selben Tag, in verschiedenen Städten. Und die kleinste Stadt, in der demonstriert wurde, hat nicht einmal 10.000 Einwohner:innen. Für die Größe der Stadt waren es ziemlich große Demos. Dies war also einer der wichtigsten Punkte der Bewegung, denke ich.

Abgesehen von diesen Demonstrationen begannen am 7. März einige Industriezweige mit massiven unbefristeten Streiks. Wir hatten diese Art von Streiks im Eisenbahnsektor, in den Energieunternehmen, in den Ölraffinerien und auch in den Unternehmen, die den Müll abholen. Ein Teil davon ist also staatlich, ein anderer privat und wir hatten sehr interessante Kämpfe in diesem Sektor.

Aber es hat Mobilisierungen, Streiks und Aktionen gegen diese Reform in allen Teilen der Arbeiter:innenklasse gegeben. Das müssen wir auch hervorheben. In vielen privaten Unternehmen, in vielen Sektoren, die normalerweise keine Anzeichen einer Mobilisierung zeigen, wenn solche sozialen Bewegungen stattfinden, hat es Streiks und Aktionen gegeben. In vielen Sektoren geschah dies nur an den größten Tagen bei den größten Demos. In diesem Fall haben viele Leute nicht wirklich gestreikt, aber sie haben ihren freien Tag genutzt, um zu den Demos zu kommen oder sie haben ihre Zeit im Homeoffice genutzt, um zur Demo zu kommen. Einige Gewerkschaftsmitglieder nutzten ihre “Gewerkschaftszeit”. Die würden wir als Gewerkschaftsorganizer:innen normalerweise einsetzen, um den Genoss:innen, den Arbeiter:innen, den Kolleg:innen zu helfen, nicht um auf Demos zu gehen. Wennwir auf Demos gehen, sind wir im Streik. Aber einige Gewerkschaftsorganizer:innen, einige Gewerkschaftsmitglieder nutzten diese Zeit, um zu den Demos zu gehen.

Aber ja, es gab zumindest einige Arbeiter:innen in jedem Unternehmen, an jedem Arbeitsplatz, die gestreikt haben, um zu den Demos zu gehen. Sogar an Orten, an denen wir keine Gewerkschaftspräsenz haben und an manchen Orten wissen sie wirklich nicht, was eine Gewerkschaft ist und trotzdem gab es Leute, die gestreikt haben. Es ist also wirklich sehr lange her, dass wir eine so massive Bewegung erlebt haben. Viele alte Genoss:innen haben sie mit den Streiks von 1995 verglichen und sogar einige noch ältere Genoss:innen mit dem Mai 1968.

Es war also eindeutig eine sehr wichtige Bewegung und sie ist immer noch eindeutig eine sehr wichtige Bewegung.

DP: Welche Position haben die Gewerkschaften eingenommen?

G: Es war recht interessant, denn alle Gewerkschaften Frankreichs waren und sind gegen diese Reform vereint und es ist tatsächlich eine Weile her, dass wir eine solche Einigkeit in unserem Lager hatten. Selbst die reformorientierteste Gewerkschaft, die CFDT , war gegen diese Reform. Diese Oppositionsfront war also sehr wichtig und sie ist immer noch geeint. Es ist also das erste Mal seit langem, dass sich alle Gewerkschaften gegen diese Reform ausgesprochen haben. Das war ein ganz wichtiger Punkt, denn sie sind sich bis heute einig, und diese Einigkeit beruhte nicht nur auf der kleinsten Übereinkunft zwischen ihnen allen, sondern es gelang ihnen auch, ihre Unterstützung für radikalere Strategien zum Ausdruck zu bringen, zum Beispiel für die unbegrenzten Streiks, obwohl einige Gewerkschaften, die Teil dieser Einheit sind, diese Strategie eindeutig ablehnen. Es war also ein ziemlicher politischer Sieg für unser Lager.

DP: Aber warum ist es dieser Bewegung nicht gelungen, diese Rentenreform zu verhindern?

G: Es ist uns nicht gelungen, den Streik wirklich zu generalisieren. Es blieb dabei, dass er von den fortgeschrittensten Sektoren unserer Klasse angeführt wurde. Also wie ich schon sagte, die Eisenbahn, die Abfallwirtschaft,der Energiesektor, die Ölindustrie. Sogar einige Sektoren, die eine starke gewerkschaftliche Tradition haben, wie zum Beispiel der Bildungssektor, haben es nicht geschafft, einen massiven unbegrenzten Streik in ihrem Sektor zu starten. Ich denke der Bildungssektor ist recht interessant, weil er einer der am stärksten politisierten Sektoren in Frankreich ist. Aber obwohl viele linke politische Aktivist:innen auf eine Verallgemeinerung des Streiks drängten und den Rhythmus von einer Demo pro Woche überwinden wollten, ist es ihnen nicht gelungen, dies wirklich zu tun.

Ich würde sagen, dass das sehr stark mit meinem nächsten Punkt zusammenhängt, nämlich dass wir tatsächlich einen sehr beunruhigenden Mangel an Beteiligung an den Streikversammlungen (Anmerkung der Übersetzung: auf französisch “assemblée générale”) festgestellt haben. Wir haben mehrere Erklärungen im Kopf, auch wenn wir uns nicht ganz sicher sein können. Aber es ist uns nicht gelungen, unsere Kolleg:innen zu den Versammlungen zu bringen. Ich glaube, ich habe noch nie eine so starke Bewegung gesehen, was die Anzahl der Demonstrant:innen und die Unterstützung durch die Bevölkerung auf der ganzen Welt angeht, aber die Tatsache, dass es uns nicht gelungen ist, unsere Kolleg:innen zu den Versammlungen zu bringen, hatte zur Folge, dass wir den Rhythmus der Mobilisierungen nicht bestimmen konnten, wir konnten den Rhythmus und die Intensität unserer Bewegung nicht bestimmen, wir konnten die Bewegung nicht richtig selbst organisieren. Diese Situation gab also der Versammlung der Gewerkschaftsspitzen, die wir Intersyndicale nennen, die Macht, ihrerseits den Rhythmus der Bewegung zu bestimmen.

DP: Welche Rolle haben die Streikversammlungen in früheren Kämpfen gespielt?

G: Als Streikversammlung bezeichnen wir die Versammlung der Kolleg:innen in einem Betrieb, auf der wir beschließen, ob wir streiken und wann wir streiken. Normalerweise organisieren wir Streiks auf diese Weise. Die Gewerkschaften rufen zum Streik auf. Und wenn es uns gelingt, eine erfolgreiche Streikbewegung zu schaffen, haben wir in jedem Betrieb, in dem wirklich gestreikt wird, eine Streikversammlung, die entscheidet, wann gestreikt wird, welche Aktionen in den nächsten Tagen durchgeführt werden, ob eine Rotation im Streik eingeleitetwird und ähnliches. Bei diesen Strukturen handelt es sich also nicht um formale Strukturen, sondern um spontane Versammlungen der Kolleg:innen.

Aber sie sind wirklich wichtig, auch weil wir eine sehr zersplitterte Gewerkschaftslandschaft haben. Wir haben etwa acht Gewerkschaften. In der Streikversammlung versammeln wir also alle Gewerkschaften, damit alle gemeinsam diskutieren können. Wenn wir diese Art von Versammlungen nicht haben, können die Arbeiter:innen nicht wirklich selbst entscheiden, wie sie die Bewegung aufbauen.

In Frankreich gibt es derzeit eine linke Tendenz, den Gewerkschaftsführer:innen vorzuwerfen, dass die Bewegung nicht stark genug ist, dass sie ihr keine Beschleunigung geben. Wir von UCL glauben, dass ein solcher Diskurs nicht fair ist. Wir glauben, dass es eine kollektive Verantwortung als Klasse ist, die Bewegung stärker zu machen und dass zumindest für diese Bewegung das Problem nicht die Radikalität der Gewerkschaftsführer:innen war, sondern eher die Unfähigkeit, unsere Kolleg:innen zu radikaleren Kampfmethoden zu bewegen. So hatte zum Beispiel die Intersyndicale dazu aufgerufen, Frankreich am 7. März zum Stillstand zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt glaubten wir, dass es ein guter Zeitpunkt war, um eine stärkere, radikalere Bewegung zu starten. Und es ist uns nicht gelungen, die Wirtschaft wirklich zum Stillstand zu bringen. Wir haben es eindeutig geschafft, der Wirtschaft einen massiven Schaden zuzufügen, aber nicht genug, um sie wirklich zum Stillstand zu bringen.

DP: Warum war es Euch nicht möglich, die Bewegung auf breitere Teile der Klasse auszuweiten?

G: Ich würde sagen, der Hauptgrund ist die Schwäche der Gewerkschaften, denn wir sind alle mit den gleichen harten wirtschaftlichen Bedingungen konfrontiert und trotzdem gibt es Teile der Klasse, die kämpfen, zum Beispiel die Arbeiter:innen bei der Müllabfuhr. Sie kriegen nur Mindestlohn und schaffen es trotzdem, langfristige Streiks zu organisieren. Das Hauptproblem ist für mich deshalb die Schwäche der gewerkschaftlichen Organisation, der gewerkschaftlichen Strukturen und natürlich, neben diesem ersten Problem, der Kontext der Inflation und der immer teurer werdendenLebenshaltungskosten. Das hat es für uns eindeutig schwieriger gemacht, die Leute dazu zu bringen, in den Streik zu treten, zu kämpfen und dadurch lange Zeit keinen Lohn zu kriegen.

Aber in meiner Branche wissen die Leute oft nicht einmal, dass sie streiken können. Sie glauben, dass es im Unternehmen eine Gewerkschaft geben muss und dass sie ihrem Chef eine Woche vorher Bescheid geben müssen oder so etwas in der Art. Aber in Frankreich, in der privaten Wirtschaft, ist es eigentlich ziemlich einfach, zu streiken. Wenn man zum Beispiel zu zweit ist und eine gemeinsame Forderung hat, beispielsweise eine Lohnerhöhung, dann kann man streiken, indem man den Chef benachrichtigt, wenn man aufhört zu arbeiten, und das war’s. Es wäre also ganz einfach. Aber die Leute kennen die Gesetzgebung zum Streik nicht.

DP: Warum ist es in früheren Kämpfen gelungen, die Bewegung zu verbreitern?

G: Ich würde sagen, dass viele Leute jetzt Angst vor der Repression haben, die nach einem Streik kommen könnte.

Es war ein ganz anderer kultureller Kontext damals, glaube ich. Es war für die Linke einfacher, Ideen zu verbreiten, sogar im intellektuellen und kulturellen Bereich war es viel einfacher, glaube ich, obwohl ich natürlich nicht dabei war. Und zu dieser Zeit gab es eine sehr starke Kommunistische Partei und es gab linksradikale Tendenzen, die sich in Opposition zu ihr aufgebaut haben. Um es etwas schematisch auszudrücken: Die Kommunistische Partei war in den industriellen Sektoren ziemlich stark, und die linksradikalen Tendenzen waren in der Jugend und in der Studierendenbewegung stark. Es gab also diese beiden Standbeine der sozialen Bewegung, die sie ziemlich stark machten.

Und damals, 1995, war die Arbeiter:innenbewegung schon ziemlich schwach, schwächer als sie es vorher war. Aber sie hatte immer noch einige gute Stellen, wo sie stark war. Und die Studierendenbewegung war wirklich viel stärker als sie es jetzt in Frankreich ist. Ich denke, dass die Situation der Studierendenbewegung jetzt wirklich katastrophal ist. Und ja, es gab diese Tradition. Ich glaube, 1995 wussten viele Leute, wie es ist, zu streiken. Sie hatten keine Angst davor, zumindest dort, wo die Gewerkschaft stark war. Sie wussten, dass sie, wenn sie diesen Kampf gewinnen wollten, mindestens eine Woche lang streiken müssen, wahrscheinlich zwei oder drei Wochen. Und das war kein so großes Hindernis wie heute.

Jetzt ist es wirklich schwierig, die Menschen auf diese Stufe des Bewusstseins zu bringen – oder vielleicht wissen die Leute sogar davon. Aber ich würde sagen, es gibt zu viel Resignation, zu viel Fatalismus, und die Leute glauben nicht, dass sie wirklich gewinnen können.

DP: Der 8. März fiel genau in die Mitte der Mobilisierungen. Konntet Ihr die Streiks gegen die Rentenreform mit dem feministischen Streik verbinden?

G: Wir hatten am 7. März einen Generalstreik und als klassenkämpferische Gewerkschaften haben wir versucht, eine Verbindung zum Tag danach herzustellen, also zum 8. März, indem wir sagten: Generalstreik am 7. März, feministischer Streik am 8. März. Das hat funktioniert, aber nicht so sehr, wie wir gehofft hatten. Und das ist leider die Folge eines sehr männlichen Bildes der Arbeiter:innenklasse, das jahrzehntelang vor allem von der Kommunistischen Partei, vom Stalinismus, geprägt wurde.

So sind die Sektoren, in denen die Gewerkschaften stark sind, meist männlich dominierte Sektoren. Und das sind die Sektoren, die den unbegrenzten Streik begonnen haben. Wir haben es nicht wirklich geschafft, einen massiven Streik in den weiblich dominierten Sektoren zu starten. Aber der 8. März war trotzdem kein Misserfolg, denn er war größer als sonst. Es war das erste Mal, dass die Gewerkschaften – zumindest die klassenkämpferischen Gewerkschaften – eindeutig zu einem feministischen Streik aufriefen. Und das geschah in einigen Regionen und in einigen Sektoren, in denen wir Einfluss haben und in denen die Gewerkschaften recht weit fortgeschritten sind.

Bei diesen Themen hatten wir einige lokale Erfolge, aber es war, um ehrlich zu sein, kein vollständiger Erfolg.

DP: Welche Rolle hat UCL als politische Organisation in dieser Bewegung gespielt?

G: Als UCL haben wir vor allem versucht, die Informationen zu koordinieren, die wir hatten. Wir haben unsere Erfahrungenausgetauscht und versucht, die Bewegung so gut wie möglich zu „spüren“. Wir haben Leute in jeder großen Stadt und auch in sehr kleinen ländlichen Gebieten, sodass wir die Unterschiede spüren konnten und so weiter. Wie ich schon sagte, halte ich das für ein sehr wichtiges Thema der Bewegung. So konnten wir unsere Erfahrungen austauschen, wir haben kollektive Analysen erstellt und versucht, sie so weit wie möglich zu verbreiten mit unseren Flugblättern, mit unseren Zeitungen und sozialen Netzwerken und so weiter. Aber der wichtigste Punkt, die wichtigste Aufgabe, die wir als revolutionäre Aktivist:innen haben, ist die Unterstützung der Basisbewegung. Also sich in den Gewerkschaften zu beteiligen und „Selbstorganizer:innen“ der Gewerkschaften zu sein, sagen wir mal, und zu versuchen, mehr Kreativität hineinzubringen.

Ich denke, eine unserer Aufgaben, speziell als UCL , ist, dass wir verschiedene Kreise zusammenbringen können und dafür sorgen, dass sie kommunizieren. Wir haben zum Beispiel Verbindungen in die autonome Szene, und es gab starke Konflikte zwischen der autonomen Szene und den Gewerkschaften in den letzten Jahren. Wir hatten also diese Zwischenposition, um sie miteinander ins Gespräch zu bringen. Außerdem haben wir versucht, ganzheitlichere Sichtweisen auf die Reform einzubringen, wie zum Beispiel feministische, ökologische, dekoloniale und LGBTI -inklusive Perspektiven, was in den Gewerkschaften leider nicht sehr üblich ist.

DP: Wie hat sich die Bewegung nach den ersten Monaten der Mobilisierung entwickelt?

G: Als wir feststellten, dass wir nicht in der Lage sein würden, mehr Sektoren in den kontinuierlichen Kampf einzubeziehen, entschieden sich viele von uns für eine Neuausrichtung unserer Bemühungen auf direkte Aktionen wie das Blockieren von Straßen oder Industriegebieten, die Besetzung von offiziellen Gebäuden oder Hauptsitzen von Finanzunternehmen.

Der Energiesektor initiierte Stromausfälle an einigen strategischen Orten, und nach dem 23. März, als Macron den Verfassungstrick 49.3 anwandte, um die Abstimmung im Parlament zu umgehen, trat die Jugend wirklich in die Bewegung ein. Viele wilde Demos fanden tagsüber und nachts statt, vor allem in Paris und in den Großstädten, aber auch dieRepression wurde immer stärker. Wir haben das schon in den vergangenen Jahren gesehen, aber nicht so sehr in der ersten und zweiten Phase dieser Bewegung. Trotzdem hat diese Bewegung immer noch sehr gute Seiten. Wir haben eine starke Repolitisierung rund um die Frage der Arbeit und der Verteilung des Reichtums.

Wir haben viel mehr ländliche Gegenden, die mobilisiert wurden und die es vorher nicht waren. Aber auf der anderen Seite der Bewegung war das Niveau der Selbstorganisation der Bewegung eher schlecht und das war aus unserer Sicht ziemlich beunruhigend. In Anbetracht dieser Schwäche versuchte ein Teil der Bewegung, Druck auf die Abgeordneten und das Parlament auszuüben, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern. Es war also in gewisser Weise eine Art Stellvertreterkampf, bei dem wir versuchten, die Politiker:innen zu beeinflussen, damit sie in unserem Sinne abstimmen.

DP: Wo befindet sich die Bewegung im Moment?

G: Jetzt ist die Reform verabschiedet worden. Sie hat ihren institutionellen Weg abgeschlossen, so dass sie im September in Kraft treten sollte. Nun hatten wir aber einen sehr massiven 1.Mai, was unserer Meinung nach sehr gut ist. Aber ich denke, dass die Intersyndicale die Bewegung gerade begräbt, indem sie für einen weiteren Mobilisierungstag im Juni plädiert. Dennoch ist die Wut der Menschen immer noch sehr groß und die Regierung ist völlig diskreditiert. Auch wenn es uns nicht gelungen ist, die Bewegung stark genug zu machen, um zu gewinnen, so haben wir doch einige Schritte nach vorne gemacht, was das Niveau des Konflikts und der Organisation unserer Klasse angeht.

Während dieser Bewegung traten viele, viele Menschen den Gewerkschaften bei. Jetzt ist es auch eine der Aufgaben, sie in den Gewerkschaften zu halten und ihnen mehr Werkzeuge und mehr Energie zu geben, um mehr Macht gegen ihre Chef:innen und gegen den Staat zu bekommen. Wir befinden uns jetzt also in der vierten Phase der Bewegung, würde ich sagen. Die Regierung kann nicht richtig regieren. Jedes Mal, wenn ein:e Minister:in oder der Präsident irgendwohin geht, gibt es Versammlungen, die auf sie warten, die viel Lärm machen undSlogans schreien und so weiter. Überall gibt es viele kleine Aktionen, jeden Tag. Es ist eine Art Belästigungsstrategie.

Macron sprach sich für 100 Tage aus, um voranzukommen, um in eine andere politische Phase, einzutreten und die Bewegung antwortete mit 100 Tagen der Unruhe. Wir werden also nicht zulassen, dass diese Phase friedlich abläuft. Wir werden sehen, was passiert. Ich kann nicht so tun, als wüsste ich was die Zukunft bringt, aber die Wut ist mit Sicherheit immer noch sehr groß, also wird vielleicht in den nächsten Monaten etwas passieren.

In der linken Szene haben zum Beispiel viele die Olympischen Spiele als Ziel ins Auge gefasst. Die Olympischen Spiele finden nächstes Jahr in Paris statt, und dafür mussten viele Teile der armen Viertel in Paris gentrifiziert werden. Außerdem wurde die Gesichtserkennung mit Kameras eingeführt. Es gibt also viele Themen rund um die Olympischen Spiele, die die Grundlage für Unruhen sein könnten, wie es sie zum Beispiel in Brasilien bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 gab. Ja, wir werden sehen, aber das könnte eine der Optionen sein, die wir haben.

DP: Welche Lehren können aus dieser Bewegung gezogen werden?

G: Ich würde sagen, einer der interessanten Punkte ist, dass es uns, wie gesagt, gelungen ist, mehr Aktivität zu erzeugen, zumindest in den kleinen Städten, den sehr kleinen Städten. Und das ist ein sehr guter Punkt. Ich hoffe, dass das die soziale Bewegung in diesen Städten erneuern wird, denn ich denke, dass dies einer der Schlüssel für die Linke im Allgemeinen und die soziale Bewegung im Besonderen ist, um wieder stärker zu werden.

Wir haben uns zu lange vor allem auf die großen Städte und auf die hohen kulturellen Klassen und so weiter konzentriert und das kann jetzt eine der strategischen Wendungen sein, die wir brauchen, um auf dem Land wieder Einfluss zu gewinnen. Ich glaube, das ist nicht nur eine Lehre aus dieser Bewegung, sondern auch aus dem, was wir zum Beispiel in den Vereinigten Staaten mit der Wahl von Trump sehen konnten. Der hat meiner Meinung nach dank der weißen Arbeiter:innenklasse auf dem Land die Wahl gewonnen. Das ist also ein Punkt, würde ich sagen. Der andere Punkt wäre, dass wir versuchen sollten, dieGründe besser zu verstehen, warum wir die Menschen nicht in Strukturen der Selbstorganisation wie die Streikversammlungen der Arbeiter:innen bringen konnten. Ich glaube, das ist wirklich ein besorgniserregender Trend für uns. Wir brauchen solche Strukturen, und zumindest jetzt können wir uns siegreiche Kämpfe ohne solche Strukturen nicht vorstellen und deshalb müssen wir besser verstehen, was passiert ist und warum wir in diesem Punkt versagt haben. Wir glauben, dass einige Dinge während der Pandemie zerbrochen sind, wie zum Beispiel soziale Beziehungen. Das ist einer der Gründe, die herangezogen wurden, um die Situation zu erklären.

Und ich glaube, dass das andere Hauptproblem dieser Bewegung die Schwäche der Gewerkschaften in vielen Sektoren war. Wir haben also eine lange und harte Arbeit vor uns, um den Einfluss der Gewerkschaften in allen Sektoren wieder aufzubauen und uns nicht nur auf die historisch von Männern dominierten Sektoren der Arbeiter:innenklasse zu konzentrieren.

DP: Was sind Deine Aussichten für die kommenden Jahre?

G: Ich würde sagen, dass dies eine der größten Bewegungen ist, die wir je erlebt haben. Sie war in vielerlei Hinsicht sehr interessant.

Wir glauben, dass diese Bewegung die soziale Frage in den Vordergrund rückt und das ist in Frankreich sehr wichtig, da die öffentliche Debatte seit Jahren von rassistischer Polemik und ähnlicher Scheiße beherrscht wird. Das ist also wirklich gut für uns. Aber wir glauben auch, dass diese Bewegung die Schwächen unserer Gewerkschaften ans Tageslicht bringt. Wir haben es mit einer radikalisierten Bourgeoisie zu tun und wir können nicht davon ausgehen, dass unser derzeitiges Niveau der Organisierung und Strukturierung der Klasse für die kommenden Aufgaben ausreicht. Wenn ich von den kommenden Aufgaben spreche, meine ich, dass sich der Klassenkampf natürlich fortsetzt wie er in den letzten zwei Jahrhunderten gegen die Bosse und gegen den Staat stattgefunden hat, aber auch das Klimaproblem, wenn der Kapitalismus jetzt gerade die Bedingungen für unser Aussterben aufbaut.

Ich glaube also, dass jetzt, wo die Bewegung zurückgeht, die wirklich harte Arbeit für die Revolutionär:innen erst beginnt. Wir wissen, was wir brauchen. Wir brauchen stärkere Massenbewegungen, stärkere Gewerkschaften und dafür dürfen wir nicht in Resignation und Fatalismus verfallen. Ich glaube also, dass wir politische Organisationen brauchen, um der Bewegung ein Gleichgewicht zu geben und zu versuchen, vorwärts zu kommen und die sozialen Organisationen, die wir brauchen, weiter zu stärken und aufzubauen.

DP: Vielen Dank, dass Du dir die Zeit genommen hast, Genosse.

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“die plattform”, ist eine anarchakommunistische Föderation für den deutschsprachigen Raum. Unser Ziel ist die Überwindung aller Formen der Unterdrückung und Herrschaft und der Aufbau einer herrschafts-, klassen- und staatenlosen Gesellschaft auf Grundlage des anarchistischen Kommunismus.

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